Dushan-Wegner

23.01.2023

Herr Lauterbach und die Tausendfüßler

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild: DW via AI
Erst hieß es, Lauterbach habe vor »unheilbarer Immunschwäche« gewarnt. Es wurde kassiert. Ist der Sprecher schuld, der das hätte streichen sollen? Auch seine Leute wissen wohl nicht mehr, wann die Panikmache selbst für seine Verhältnisse zu »panisch« ist.
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Es war einmal, so hörte ich es erzählen, ein Tausendfüßler, der lief tagaus, tagein auf seinen tausend Füßen umher, und machte sich nie einen Gedanken darum, wie man es anstellt, auf tausend Füßen zu laufen, oder ob es überhaupt wirklich tausend Füße sind.

So lief das und er recht gut, bis zum verheerenden Tag, als ein frecher Bösewicht ihn bat, doch bitte ernsthaft zu erklären, wie der Tausendfüßler es anstellt, auf tausend Füßen zu laufen.

Da, von einem Moment auf den anderen, verhedderten sich dem Tausendfüßler die tausend Füße – denn es war stets seine Natur gewesen, auf tausend Füßen nach Art der Tausendfüßler zu laufen.

Jedoch, als sein Verstand erklären sollte, wie das Laufen mit so vielen Füßen funktioniert, da übernahm der Verstand so unwillkürlich wie ernsthaft einfach mal die Kontrolle über ebendiese Füße, und so kam zutage, dass der Tausendfüßler schlicht nicht wusste, wie er tat, was er tat!

Nachher wahrscheinlich sagen

Wir Menschen haben nur zwei Füße, und manche nicht mal das, und die Mechanik dieser lässt sich recht verständlich erklären – sogar Roboter beherrschen das Gehen inzwischen!

Wovon wir aber Tausende besitzen und benutzen, ja, wovon wir so viele besitzen, dass wir davon täglich ach-so-viele verschwenden, das sind die Wörter.

Wir sind »Tausendfüßer der Worte« – wir sind »Tausendwörtler«!

Denken Sie mal einen Satz, den Sie nachher wahrscheinlich sagen werden, Ihrem Kollegen, Ihrem Partner oder Ihrem Nachbarn! – Könnten Sie erklären, wie und warum die Wörter dieses Satzes »funktionieren«? Nein?! Und doch wagen Sie es, den Satz zu sagen – mutig, mutig.

Dauerhafte Umleitung

Der Bundesgesundheitsminister in Deutschland heißt auch weiterhin Herr Lauterbach. Mancher Bürger hat das Gefühl, dass Herr Lauterbachs Worte in ihrer eigenen Welt gewiss »funktionieren«, aber in dieser unserer Welt eben nicht. Wenn man versuchen würde, Politik für Deutschland zu machen, nach den Worten, die Herr Lauterbach so verkündet, das wäre wie ein Passagierflugzeug zu fliegen nach der Anleitung für einen Rasenmäher.

Und immer mehr Bürgern scheint eben dies bewusst zu werden.

Vergangenes Wochenende las man eine dramatische Schlagzeile, die aus dem darunter abgedruckten Interview-Text zu zitieren schien: »Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) – ‚Mehrere Corona-Infektionen können zu einer unheilbaren Immunschwäche führen‘«. (rp-online.de, 21.1.2023)

Unheilbare Immunschwäche?!

Geimpfte, die danach mehrfach an Covid-19 erkrankten, sie sollen auch noch mit einer »unheilbaren Immunschwäche« gestraft sein? Impfrisiko und Covid-19 und Immunschwäche! Was für ein Schicksal!

Man hörte zwei Arten von Reaktionen auf diese Panik-Meldung …

Ein paar Zyniker murmelten in sarkastischer Ironie: »Ja, klaaaar waren das die Covid-19-Infektionen, und auf keinen Fall die mehrfachen mRNA-Injektionen, die das Immunsystem buchstäblich umprogrammierten – es kann halt nicht sein, was nicht sein darf.«

Andere Reaktionen lauteten: »Haha, der Lauterbach, der macht wohl wieder Panik. Nichts Neues, alles wie immer. Ob ich heute abend einen Film streame oder doch den Controller anschalte und etwas spiele?«

Die allermeisten Bürger aber hörten und lasen nichts von der neuesten Panik-Schlagzeile, und selbst wenn sie die Worte vor Augen oder im Ohr gehabt haben sollten, so überlasen oder überhörten sie es doch, ignorierten es, wie die Wettervorhersage für einen Ort, an dem man sich weder befindet, noch ein Interesse hat, schon weil er schlicht nicht existiert.

Und dann, heute, am Montag danach, lesen wir plötzlich etwas ganz anderes: »In einem Interview hatte Karl Lauterbach behauptet, mehrere Corona-Infektionen hätten häufig eine ‚unheilbare Immunschwäche‘ zur Folge. Jetzt rudert der Gesundheitsminister zurück und spricht von einem ‚technischen‘ Fehler.« (welt.de, 23.1.2023 – URL leitet inzwischen um!)

Es gab wohl einen »technischen Übertragungsfehler im BMG« (Bundesgesundheitsministerium) bezüglich dieses Interviews, sagte Lauterbach nun, das »Zitat« lautet anders.

Es scheint von außen so, dass Lauterbach das tatsächlich so gesagt haben könnte, es später aber wieder draußen haben wollte, die Korrektur aber von seinen Leuten übersehen wurde.

Eine »Autorisierung« kann das, was der Politiker sagte, gründlich in der Aussage verändern – und wenn aus Versehen verbreitet wird, was der Politiker wirklich sagte, kann es Ärger geben.

Das bedeutet: Wenn die Entschuldigung des Herrn Lauterbach stimmen sollte, dann wissen offenbar nicht einmal seine eigenen Leute sicher, welche seiner Aussagen sie ernst nehmen sollen und welche nicht.

(Übrigens: Nicht nur Politiker-Angaben werden im Nachhinein korrigiert, ohne dass es explizit gekennzeichnet wird. Als ich heute Morgen mir den obigen Artikel notiert, und zwar unter der URL »https://www.welt.de/politik/deutschland/article243368037/Lauterbach-erklaert-falsche-Interview-Aussage-mit-technischem-Fehler.html«, da schloss er noch etwas süffisant mit einer Passage zur »Autorisierung« von Interviews, die mit dem »Recht am gesprochenen Wort« zu tun habe. Vielleicht war es zu viel der Häme ob der auch eigenen Rolle als Journalisten im deutschen Propagandastaat, vielleicht war es ein anderer Grund, doch während ich diesen Essay zu Ende schreibe, leitet die URL für die Überschrift »Lauterbach rudert nach Interview zurück – und verweist auf ‚technischen‘ Fehler« zum neuen Text »Lauterbach-Sprecher soll für Fehler in Interview verantwortlich sein« um (HTTP Status 301 laut httpstatus.io, Stand 23.1.2023, 11:17 Uhr, also eine »dauerhafte Umleitung«), und im neuen Text wird die Schuld wohl vom Minister weg und zu seinem Sprecher verschoben – und dann ohne die süffisante Schlussnotiz zur Praxis der »Autorisierung«.)

Oder nicht?

Was man für Lauterbachs neueste Panik-Meldung hätten halten können, das hat mich, ähnlich wie die übrigen Menschen dieses Planeten, wenig bewegt.

Jedoch, dass es mich nicht bewegte, diese Tatsache finde ich doch schockierend.

Für ein bis zwei Tage hätten wir doch glauben müssen, dass Tausenden, wenn nicht sogar Hunderttausenden ein sehr schlimmes Schicksal droht!

Oder nicht?

Niemand hat es wirklich geglaubt. Wahrgenommen wurde es höchstens noch von jenen, die sich darüber aufregten.

Es klang halt wie eine weitere Funkdurchsage aus dem Lauterbach-Universum namens »Bundesgesundheitsministerium«.

Ich frage Sie nun, als Teilnehmer an diesem Ereignis, das wir die »Realität« nennen – wie »funktionieren« Worte hier noch?

Wie nennt man eine Zeit – und ein politisches System – wenn ein Minister scheinbar die schlimmsten Warnungen verkünden kann, und keiner nimmt es noch ernst? Wie funktionieren diese Worte?

Wir sind Tausendwörtler, und Tausendworthörer, und ich will ja gerade unsere »tausend Füße« durch Fragen verwirren, damit wir aus der Verwirrung klüger werden.

Wie funktionieren politische Wörter, wenn selbst wirklich schlimm klingende Warnungen nicht mehr ernst genommen werden?

Welche politischen Wörter sind Geräusch, und auf welche hin muss man reagieren?

Das wirklich Erschreckende an Lauterbachs Schreckensbotschaften ist ja, dass sie selbst dann niemanden erschrecken, wenn sie sogar für Lauterbach-Verhältnisse erschreckend erschreckend sind.

Wie funktionieren diese Wörter? Ich weiß es nicht. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger weiß ich es. Ich weiß nur eins: Anders als Diktaturen oder Gewaltherrschaften sollte die Demokratie die Staatsform sein, deren Pfeiler, also etwa Recht und Werte, allesamt auf die Geltung von Worten bauen – was aber sind die Worte der deutschen Demokraten noch wert?

Zur Sicherheit

Ein weiser Mensch ist ein Tausendfüßler, der erklären kann, wie ein Tausendfüßler läuft. Er benutzt dieselben Worte wie andere Leute auch, doch er spürt das Gewicht dieser Worte – er nimmt Worte ernst – und dass das Wortgewicht auf ihm weit schwerer lastet als in den Seelen der Hörenden, das ist des Weisen Vergeblichkeit.

Ja, es kann sich heute vergeblich anfühlen, immerzu anzuprangern, dass die Worte von Politikern erschreckend wenig bedeuten. Doch ist Erkenntnis allein kein Wert? Ist hilflose Weisheit denn keine Weisheit?

Und, ja, es kann gruselig sein, darüber nachzudenken, wie Sprache überhaupt »funktioniert«, wie Bedeutung entsteht – und die Bedeutung dann, etwa auf politischer Bühne, sich in Geräuschnebel auflöst.

Jedoch, keine Angst! So wie der Tausendfüßler sein Gehen nicht erklären kann, so können wir vielleicht nicht genau erklären, wie und warum wir Wörter unterscheiden, und doch tun wir es – mit wachsender Lebenserfahrung auch recht zuverlässig.

Ich wünsche Ihnen und mir also auch weiterhin einen zuverlässigen Gradmesser, einen inneren Kompass zur Frage, was wir auf jeden Fall ernst nehmen, was wir eher nicht ernst nehmen – und was wir zur Sicherheit erstmal beobachten.

Und lasst uns dann schnell wieder über Dinge reden, die mehr Sinn ergeben als irgendwelche Minister-Interviews, ob diese autorisiert sind, nicht-autorisiert – oder nur versehentlich autorisiert.

Es gilt ja bei all dem Ernst-Nehmen und Nicht-Ernst-Nehmen und Erstmal-Beobachten, es mit dem Ernst nicht zu übertreiben. Nicht, dass wir uns noch in den eigenen Füßen verheddern!

Weiterschreiben, Wegner!

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