18.12.2024

Die Kunst des Ab- und Aufstiegs als Essay

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten
Nachzudenken bedeutet heute, täglich in einen Abgrund zu steigen – und zuletzt (hoffentlich) wieder aufzusteigen. Wenn der Wiederaufstieg gelingt, tut das emotional gut. Doch wir »graben« ja auch nach Wahrheit. Warum muss das nur so anstrengend sein?
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Vor Jahren erdachte ich einen Vortrag mit dem Titel »Ethik für Roboter«, und ich sandte es als Vorschlag ans Team von re:publica (damals hatten sie in meinem Kopf noch nicht das Image »Staats-Propaganda«).

Warum wurde ich schnöde abgelehnt? Wurde meine Idee einfach nicht als bahnbrechend erkannt? War die Idee gar zu gruselig – oder war sie irrelevant mangels meiner Verbindung in relevante linke Kreise?

Vielleicht waren die Zuhörer einfach noch nicht bereit für meine Totale Ethik-Theorie. – Nun, aus dieser kleinen Ego-Delle entwickelte sich ein Masterplan: ein Buch namens »Relevante Strukturen«. Und zu den Relevanten Strukturen eben diese Essays, immerhin 2.240 (mit diesem).

RS, die Fortsetzung

Natürlich ging es bei der Idee einer »Ethik für Roboter« nicht nur/primär um die moralischen Tugenden der Datenkraken und (aus damaliger Sicht) Zukunftsmaschinen. Ich grabe nach Regeln, die in jeder denkbaren Realität prüfbaren Bestand haben, ob das Denken und Gewissenprüfen auf Silizium oder auf traditioneller organischer Graumasse läuft.

Intern (sprich: im Selbstgespräch) pflege ich die Relevanten Strukturen als »RS« abzukürzen. Und die RS beschreiben, wie ich vorhersage, was sich am Ende einer Debatte zuverlässig als gut und was als böse erweisen wird.

Ich nutze die RS-Theorie zur zuverlässigen Vorhersage. (Ich wusste, dass die zuverlässige Vorhersage ein Erkennungszeichen richtiger(er) Theorien ist. Später sollte ich aus spätjugendlicher Naivität erwachen und begreifen, dass es einer Mehrheit meiner lieben Mitbürger gründlich egal ist, ob sich Vorhersagen erfüllen – die glauben, womit sie sich als brave Rädchen ins soziale Gefüge einsortieren können, auch wenn es sich dreimal täglich als falsch und böse erweist.)

Die RS-Theorie ist ein »reverse engineering« unserer moralischen Empfindsamkeiten. Heute aber will ich euch eine erste Skizze darüber vorlegen, wie und was ich denke, wenn ich mich an einen Essay setze – in ähnlichem Geiste und auf gewisse Weise als Fortsetzung der RS.

Die Metapher

Der Beginn eines Essays soll Sie, den geschätzten Leser, erst dazu bewegen, überhaupt den vorliegenden Text zu lesen – und dann sogleich, über den ersten Satz und Absatz hinaus weiterzulesen. Der Anfang dass Sie also weder langweilen noch ganz zufriedenstellen! So weit, so offensichtlich.

Der Anfang muss – so sage ich zumindest – auch eine gewisse Stimmung setzen, welche das Gemüt erst in den rechten produktiven Status versetzt. Die ersten Passagen sind das Tor zum begleiteten und zeitlich begrenzten Abstieg des Lesers in einen Abgrund. In jedem Essay steigen wir gemeinsam hinab, wie Orpheus in die Unterwelt. Und doch, wenn mir ein würdiges Ende einfiel, so wollen wir doch wieder hinaufgestiegen sein, und zwar mit Eurydike.

Wenn eine aktuelle Nachricht besprochen wird, kann der Essay-Anfang in ebendieser bestehen. Der Essay-Anfang kann, wie in diesem Text, ein Rückgriff auf eine relevante Erinnerung sein, eine Metapher oder eine kulturelle Referenz. Eine Zeit lang eröffnete ich mit asiatisch inspirierten, aber eigenen »Meister-Geschichten«. (Etwa »Regeln und Zweck« und »Grenzen? Pfft… Drehtüren!«; ich erlaubte mir diesen Spaß auch für Tichys Einblick.)

Die Nachricht

Spätestens nach der Metapher sollte die »erwartete Nutzlast« des Essays geliefert werden. Da viele Leser mich für einen politischen Essayisten halten, sollte ich spätestens nach der Einleitung »liefern«, was besprochen werden soll. Die Nachricht gab natürlich regelmäßig den Anstoß für den Text, inspirierte die improvisierte Spontanphilosophie. Doch ich muss mich oft genug selbst bremsen, beim Editieren des Essays nicht die Nachricht wieder zu löschen. (Und manchmal tue ich es doch – aus »strategischen« Gründen.)

Die Nachricht ist der Knochen, aus dessen Mark man eine Suppe kocht, den man aber doch herausnimmt, bevor man die Suppe serviert. Nun, ich lasse den Knochen drin, den metaphorischen Hühnerkopf und -fuß ebenso, schlicht damit der Leser weiß, wovon zum Kuckuck ich rede.

Die Erklärung

Nach Einstieg (Metapher) und Abstieg (Nachricht) verdient der Leser, so meine ich, einen Grund vor sich selbst, warum er sich diese Mühe antut. Ich sollte eine Erklärung liefern. Eine Erklärung, von der ich in der für mich typischen Bescheidenheit meine, dass nur ich sie liefern kann. Die philosophische, moralische und so weiter Bedeutung dieses konkreten Abstiegs.

Ich zeige die relevanten Strukturen und Konflikte auf. Einmal die Konflikte der beschriebenen Akteure. Ich beschreibe die Widersprüche zwischen den im jeweiligen Essay behandelten Entwicklungen und grundsätzlichen Werten wie dem Überleben.

Wir – sprich: der Leser und ich – sollen eine berechtigte Befriedigung verspüren, dass wenn wir schon wenig ändern können an diesen oder jenen Missständen, wir sie doch zumindest verstanden haben.

Jeden Tag zumindest etwas weniger dumm schlafen gehen, als man am Morgen aufwachte, ist doch ein würdiges Lebensprinzip – und der Abschnitt Erklärung nach Einsteig und Nachricht soll bei der Erfüllung genau dieses Prinzips helfen.

Die Reprise

Wenn ich etwa unsere Gefühle ob eines Missstandes in Worte fasse, und wenn ich dies als Teil der Erklärung leiste, dann ist eine solche Erklärung der Boden und tiefste Punkt unserer essayistischen Abstiegs.

Nach der Erklärung sollte der Aufstieg beginnen. Um sicher aufzusteigen, gerade wenn man bereits etwas erschöpft ist, ist es gut, etwas zu haben, woran man sich festhalten kann.

An dieser Stelle also empfiehlt es sich, die Metapher vom Essay-Anfang neu aufzugreifen. Der Essay kann beleuchten, wie und warum die Metapher die in der Nachricht und ihrer Erklärung deutlich gewordenen Konflikte beschreibt. Die Verfremdung als Metapher macht es aber auch leichter, die Konflikte emotional als solche zu akzeptieren.

Ja, vielleicht hilft die Metapher an dieser Stelle nun, Lösungsansätze zu finden – zumindest zur Frage, wie man selbst mit dem Konflikt »klarkommt«.

Dem wohlmeinenden Leser mag es bisweilen »brillant« vorkommen, wie dem Autor schon zu Beginn eine Metapher einfiel, die nun plötzlich so viel Sinn ergibt. Tatsächlich ist es aber so, dass an dieser Stelle des Schreibprozesses oft genug gewisse Korrekturen der Metapher notwendig werden – und bisweilen formt sich an dieser Stellen eine neue Metapher, welche dann nachträglich als Anfang eingefügt wird. (Man möchte hier schwärmerisch sagen: Sind nicht aller Text und alle Erkenntnis immer der Platzhalter für jeweils bessere Erkenntnis? (Außer natürlich »die Wissenschaft« im TV, die ist immer endgültig und absolut, auch und gerade dann, wenn sie der »Wissenschaft« vom Vortag diametral widerspricht.))

Bisweilen wird dem Essayisten an dieser Stelle des Schreibens auch klar, dass die Nachricht eigentlich ihre eigene Metapher ist, dass sie gar keine erklärende Verstärkung braucht – und dann heißt es: großzügig markieren und löschen! Das Ziel dieses Abstiegs ist der Aufstieg, und dafür hilft es nicht, zweimal den Abstieg zu unternehmen.

Der Aufruf

Nach Wittgenstein ist es die Aufgabe der Philosophie, »der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas« zu weisen. Wenn die »Fliege« also nach draußen geführt wurde, wäre es hilfreich – auch damit sie nicht gleich wieder in die Falle fliegt –, dem Tierlein eine Richtung zu zeigen, in welcher sie fliegen könnte, um sich zumindest eine Zeit lang die neu gewonnene Freiheit zu bewahren.

(Ich habe übrigens keine Schwierigkeiten damit, hier den Leser metaphorisch als »Fliege« zu beschreiben. Es ist ja zuerst mein Auf- und Abstieg, den ich im Essay protokolliere. Diese Fliege sucht den Ausweg aus der Falle – und ist sehr froh darum, bei dieser Suche nicht die einzige Fliege zu sein.)

Bei einer Meditation, so sagen buddhistische Praktiker, soll der Mensch, der aus der Meditation aufsteht, ein anderer sein, als der, der die Meditation begann. So ähnlich geht es mir mit den Essays, diesen täglichen Ab- und Aufstiegen: Ich will nach jeder geleisteten Denkarbeit etwas an mir besser verstanden haben, will ein anderer Mensch sein. Etwa so: ein Mensch, der die Welt sieht, wie sie ist, und doch die Hoffnung behält.

Dann weiß ich

»Wofür das alles?«, so fragt sich Sisyphos, und so könnte ich mich fragen, wenn ich ein vernünftiger Mensch wäre.

»Ach, das ist doch bloß wortreiche Nabelschau«, so versicherten mir ehemalige Weggefährten, »pathetisch, larmoyant, wenig profitabel und damit weitgehend nutzlos.«

Leser wiederum sagen mir, dass ein Nutzen dieser Essays, dieser täglichen Auf- und Abstiege, darin liege, einander zu versichern, dass man in diesen grübelnden Gedanken nicht allein ist. Der Schmerz der Einsamkeit kann auch den denkenden Menschen treffen! Indem ich vorlege, wie ich versuche, am Wahnsinn der Zeit nicht selbst wahnsinnig zu werden, können andere für sich eigene, wirksame Methoden entwickeln.

Und doch, diese Begründungen sind ein Stück weit egoistisch, das sei zugegeben; oder zumindest »ich-perspektivisch«. (Als ob es eine andere Perspektive gäbe …)

Ich denke aber, dass da noch mehr ist. Dein und mein Gefühl sind relevante Strukturen, doch wenn es die einzige RS wäre, dann wäre der Vorwurf der Nabelschau tatsächlich treffend.

Nicht vergraben

Indem wir versuchen, die ehrlichmöglichste Sprache für die »Situation des Tages« zu finden, selbst und gerade wenn diese einen »Abstieg« in einen »Abgrund« bedeutet, dann stehen die Chancen gut, darin eine Wahrheit zu finden.

Wir könnten ja an dieser Stelle eine andere Metapher einführen – die ich zwar zum Essay-Song mache, aber nicht »nachträglich zu Beginn« einführe.

Wir könnten poetisch formulieren: Wir graben nach der Wahrheit. (Das wird uns bei Propaganda, Journalisten und re:publica wahrlich nicht beliebter machen, haha. Die graben nach etwas anderem.)

Jeden Tag, zu jedem neuen Thema beschreiben wir ehrlichstmöglich, was wir sehen und fühlen – und auf gewisse Weise ist diese Tätigkeit der Versuch, im Bergwerk des täglich Gesagten die Wahrheit zu finden.

Ich grabe nach der Wahrheit – doch wenn ich eine endgültige Wahrheit »finde«, dann weiß ich, dass ich mich »ver-graben« habe.

Weiterschreiben, Wegner!

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