28.09.2024

Auch du wirst Verantwortung abgeben (müssen)

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten
Wir wünschen uns so sehr, dass die aktuellen Politiker endlich ihre Ämter abgeben (hoffend, dass die Nächsten es zumindest nicht schlechter machen KÖNNEN). Doch bedenken wir, wie SCHMERZHAFT es sein kann, Macht abzugeben?

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Es gibt eine Formulierung, an die ich zuletzt immer wieder denken muss, und diese Formulierung lautet: »The King Retired«. Das bedeutet wörtlich etwa: »Der König ging in Ruhestand«, oder auch »Der König zog sich zurück«.

Doch ich hatte das falsch gehört! Die Formulierung stammt aus einem Song von Killer Priest, der eigentlich vom »King of Tyre« spricht.

Mein Missverständnis – »King of Tyre« / »The King Retired« – hat aber etwas in mir ausgelöst. Es ist, als hätte diese Fehlinterpretation in meinem Kopf ein Bild gemalt, etwas geöffnet, was über diesen Song hinausgeht.

»The King Retired« erinnert mich natürlich an Viva La Vida von Coldplay. (Hinweis: Die Version vom singenden Clown »Puddles Pity Party« ist tatsächlich einfühlsamer und fühlt sich richtiger an als das Original.)

An diesen Song vom gestürzten König, der auf seine vergangene Macht zurückblickt und sich mit seiner neuen Bedeutungslosigkeit auseinandersetzt.

Er spricht davon, wie er die Straßen nun fegt, die er zu beherrschen pflegte.

Doch »The King Retired« spricht in sachlicher Schlichtheit von etwas vielleicht noch Tieferem, als nur dass »nur« ein König seine Macht verloren hat.

Der Rückzug des Königs ist nicht nur ein Akt des Verzichts, ob dieser Verzicht nun freiwillig oder unfreiwillig ist – es ist auch immer das Ende einer Ära.

Es ist nicht nur der Sturz durch äußere Gewalt als Königsrücktritt denkbar, sondern es kann auch ein freiwilliger Schritt zurück sein. Vielleicht durch Krankheit. Vielleicht durch inneres Loslassen, dem dann das äußere Loslassen folgen muss.

Der König, der sich zur Ruhe setzt, steht in Viva la Vida nicht nur für Macht, er steht für die gesamte Struktur, die um ihn herum aufgebaut war und die nun plötzlich verschwindet, ins Nichts sich auflöst.

Und der Rückzug des Königs bedeutet eine Veränderung im Fundament aller Menschen um ihn herum. Die Struktur, die ihn umgab, verliert ihren Mittelpunkt, was einst von ihm getragen wurde und sei es allein durch seine Präsenz, wenn nicht durch seinen weisen Ratschlag und Entschluss, all das muss nun ohne ihn bestehen.

Hier, wenn wir Kafka gelesen haben, denken wir vielleicht an das Ende der Verwandlung, der Tod des einstigen Verantwortungsträgers (aber nicht Königs, ich weiß) Gregor Samsa befreit die Familie von ihrer Last.

Diese Abwesenheit erzwingt in der Familie eine Neuordnung – und man atmet auf, übernimmt selbst Verantwortung. Es ist traurig und doch befreiend: Man ist nicht mehr verantwortlich für den, der bis eben noch Verantwortung trug.

Wenn der König sich zurückzieht, steht oft der nächste bereit. Und nicht immer weiß derjenige, der danach Verantwortung übernimmt, dass er es bald tun wird (und manchmal weiß er es, denn er hat den Vorgang angestoßen).

Es ist ein leises Ende, in meinem Missverständnis zumindest, und dieses Leise ist Teil der Kraft dieses Bildes.

Ich denke hier aber auch an Shakespeare’s King Lear, der seine Krone aufgibt für seine drei Töchter, nicht alle charakterlich gleich gut geraten.

Seine Regan sagte zuvor zu ihm:

O, sir, you are old;
Nature in you stands on the very verge
Of her confine: you should be ruled and led
By some discretion that discerns your state
Better than you yourself.

Auf Deutsch bedeutet das etwa:

Oh, Herr, du bist alt;
Deine Natur steht am äußersten Rand
ihrer Grenzen: Du solltest gelenkt und geführt werden
von einem, der deinen Zustand
besser erkennt als du selbst.

In meinem Missverständnis steht »König« wohl nicht nur für Herrschaft, nicht nur für Verantwortung, sondern auch dafür, wie diese Rolle einem Menschen über die Jahre zur zweiten Haut wird – nein, zur ersten Haut der Seele. Doch dann wird die Haut namens Verantwortung jäh abgerissen, oder man reißt sie sich gar selbst ab.

Noch während man sich im entsprechenden Schmerz windet, erschrickt man selbst beim Anblick des rohen Fleisches unter der abgerissenen Haut und ach, das rohe Fleisch sieht man doch nur selbst. Einige von euch wissen exakt, was ich hier beschreibe. Einige von euch winden sich jetzt, wo ich es beschrieben habe, im Schmerz, weil sie es kennen – und einige sind ratlos, da bin ich realistisch.

Ich weiß nicht, ob ich den Ratlosen wünschen soll, dass sie es dereinst spüren; es gibt Gründe dafür und andere Gründe dagegen.

Der Rückzug aus Verantwortung ist nicht nur ein politischer Akt (auch Firmen und Familien betreiben ihre eigen Innen- wie auch Außenpolitik), sondern auch ein persönlicher Akt: Der Abschied von einem Selbstbild, das über lange Zeit aufgebaut wurde von anderen und von einem selbst und die Frage ist, was zuerst kam.

»The King Retired« wirkte auf mich deshalb wie eine universelle Metapher für das Ende eines Lebensabschnitts, besonders jener Abschnitte, die durch eine bestimmte Verantwortung geprägt sind.

Der Rückzug von etwas, das lange Zeit für einen prägend war, die Verantwortung, die einen nicht loslässt, obwohl du sie losgelassen hast und sie dich. Deshalb spricht dieser Song von Coldplay so viele Menschen an.

Wann warst du zuletzt der König, der sich zurückzog? Bist du es womöglich heute? Befindest du dich womöglich jetzt, genau im Zustand dieser Enthäutung?

Mein Missverständnis, es heißt ja »King of Tyre« statt »The King Retired«, es fügt eine historische Dimension zu dieser ganzen Angelegenheit: Tyros, die antike Stadt, einst ein Zentrum des Handels und der Kultur ist heute eine Ansammlung von Ruinen. Der König von Tyros steht für eine vergangene Größe, die nun in der Geschichte verblasst.

Der Gedanke, dass »The King Retired«, lässt mich an die Vergänglichkeit von reichen Städten und ja und letztlich auch an unsere eigene, ganz private Vergänglichkeit denken. Wo und wie der König von Tyros ist, das und dort wirst auch du sein.

Es gibt Momente, in denen das Verstreichen der Zeit nicht mehr zu übersehen ist, in denen wir uns mit dem Ende auseinandersetzen müssen und sei es nur das Ende von Verantwortung, das Ende eines Lebensabschnitts, einer Epoche oder einer Idee. Vielleicht berührt mich diese Zeile, weil sie auch eine Form des inneren Rückzugs beschreibt.

Nicht nur des Äußeren der Verantwortung, sondern eine Form des inneren Loslassens. (Übrigens: Ich darf an dieser Stelle mein Buch übers Loslassen empfehlen.)

Diese Zeile spricht von einem Moment, in dem man sich entscheidet, die aktive Rolle aufzugeben, nicht durch äußere Notwendigkeit, sondern durch eine innere Erkenntnis.

Und manchmal folgt die innere Erkenntnis der Notwendigkeit, der äußeren Notwendigkeit.

Der König, in meinem Missverständnis, er verlässt die Bühne nicht dramatisch, sondern still, und das ist in der Realität natürlich nicht immer so. Hier ist kein Akt der Flucht, sondern eine Entscheidung – vielleicht auch die Entscheidung, sich einer Realität zu stellen.

Es hat ja seinen Grund, warum man Königen und Verantwortungsträgern, die man loswerden will, zumindest die Möglichkeit anbietet, ein Minimum an Würde zu bewahren und selbst den Rücktritt zu erklären, auch wenn alle wissen, was gemeint ist, was wirklich als tiefere Strömung dieser Machtspiele stattfand.

Der Abstieg von einem Thron, den man lange verteidigt hat – ist es möglich ohne das Gefühl des Verlustes, ohne zerstörenden Schmerz? Wenn schon mit Schmerz, bekämst du es hin? Bekäme ich das hin?

Manchmal im Leben ist deine einzige Wahl nur noch, ob und mit wie viel Würde du dem Unabwendbaren begegnest. Vielleicht ist es ein Moment des Friedens, eine Art innere Einkehr, die nur durch den bewussten Rückzug erreicht wird.

»The King Retired« spricht auch von einem Übergang; nicht nur von einem Untergang der Macht, sondern auch von einem Übergang.

Der König tritt zurück und was danach kommt, bleibt zumindest in dieser Formulierung, in dieser kurzen Metapher offen. Diese Offenheit ist weder tragisch noch triumphal, sondern sie ist einfach – und sie ist einfach.

Der König zieht sich zurück.

Damit ist er nicht mehr König.

Was ist er aber dann?

Wer bist du, wenn alle äußeren Rollen und Verantwortungen verschwinden?

Weiterschreiben, Wegner!

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