Letztens, und das ist in Teilen tatsächlich wahr, war ich unterwegs zum Büro, um für euch zu schreiben. Doch es war einer jener Tage, an denen zog und zerrte es an mir, erst einmal durch die Straßen zu schlurfen, auf Parkbänken zu lesen, zu grübeln und Gedanken nachzuhängen – und vor allem zu frühstücken.
Ich wählte für diese erste Mahlzeit des Tages ein anderes Etablissement als an normalen Tagen. An normalen Tagen ist mein Geist ordentlicher. Die Kellner und die übrigen Männer in meinem Stammlokal sollen nicht sehen, dass ich heute unordentlich war.
Ich fand eine Gaststätte, derer mein unordentlicher Geist würdig war. Ich bestellte das, was ich sonst auch bestelle. Eine Portion Tortilla, dazu einen schwarzen Kaffee.
Ich wählte eine stille Ecke hinten im Raum. Auf dem Tisch waren noch Krümel und Pfützen vom vorigen Gast. Der Kellner kam mit einem feuchten Tuch vorbei, wischte das Holz ausreichend sauber. Dann servierte man mir mein Essen.
Ich bereitete mich vor, meine Tortilla zu essen, meinen Kaffee zu trinken und mit meinem Musil meine innere Ordnung wieder herzustellen.
Zu diesem Zweck tat ich mein Bestes, das TV-Gerät zu ignorieren, das an der Decke hing und ungefragt die Nachrichten des Tages in den Raum plärrte. Es plärrte vom Krieg.
Die Hälfte meines Frühstücks war gegessen, da setzte sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, ein Bärtiger mir gegenüber an meinen Tisch.
»Bonjour«, sagte der Bärtige, »guten Tag, hello and buenos dias.«
Nachdem er festgestellt hatte, welche Sprache bei mir greift, forderte er mich auf, ihn auf ein FrĂĽhstĂĽck einzuladen.
Unwirsch schaue ich zum Kellner und versuchte, die Frage in meinen Blick zu legen, was für ein Betrieb das denn sei, den er hier betrieb. Was ist das für ein Laden, wo bärtige Männer einfach so an den Tisch kommen und um ein Frühstück betteln?
Der Kellner half mir nicht, im Gegenteil. Der Kellner brachte zwei Gläser mit ortüblichem Schnaps, stellt beide vor den Bärtigen und klopfte mir dann auf die Schulter. Damit sagte er mir wohl: »Die gehen beide auf dich.«
Selbst wenn ich eine Wahl gehabt hätte, wäre ich einverstanden gewesen. Warum auch nicht?
Der Bärtige trank mit drei konsequenten Schlucken das erste Glas leer. In der einen Hand das Glas, hob er mit der anderen den Zeigefinger: Ich sollte kurz warten und solange schweigen. Er hatte Wichtiges mitzuteilen, und eine Ablenkung durch mich, selbst mit einem höflichen »Zum Wohl!«, würde den Erfolg seiner Mitteilung gefährden.
»Die reden wieder vom Krieg«, sagte er und zeigte auf das TV-Gerät.
Ich nickte und trank vom Kaffee. Ich hätte mich beinahe verschluckt, als am enderen Ende des Lokals jemand einen Teller fallen ließ, der scheppernd auf dem Boden zerbrach.
»Ich kenne Krieg. Ich war jung. Ich hatte Überzeugungen – ha!«
Er nippte an seinem zweiten Schnaps, leerte ihn aber nicht. Jemand fegte die Scherben des Tellers zusammen.
»Algerien«, sagt er, »mein Krieg war Algerien. Die nannten es nicht Krieg. Die nannten es eine Befriedungsoperation, die ›OpĂ©rations de pacification‹. Oder noch schöner: die ›OpĂ©rations de maintien de l’ordre‹, die NOperationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung‹. Da war wenig mit Frieden. Und wenig mit Ordnung.«
Ein weiterer Schluck, dann: »Man gab mir eine Uniform und ein Gewehr, und ab ging es in die Hitze. Du denkst, die Amerikaner haben das erfunden, dass jeder Krieg ein Krieg gegen Terroristen ist? Nein, das war schon früher so.«
»Des einen Freiheitskämpfer …«, setzte ich an, doch er winkte ab: »Ja, ja. Wir patrouillierten durch Straßen sandiger Städtchen. Wir zogen Männer aus ihren Häusern, manchmal auch Frauen. Wir nannten es Verhör. Manchmal redeten sie. Manchmal nicht. Manchmal redeten sie nach einer Weile. Und manchmal verstand dann keiner mehr, was sie sagten. Man sagte uns, wir kämpften gegen die Barbarei, doch …«
Der Bärtige schwieg. Er hielt sein zweites Glas hoch, und die Morgensonne glitzerte im Ethanol.
Im TV redeten sie wieder und immer weiter vom Krieg, von neuen Kriegen. Kriegen irgendwo und Krieg womöglich bald ganz in der Nähe. Wir schauten beide hoch zum TV-Gerät. Die Sprecherin trug einen schwarzen Blazer, eine weiße Bluse, ein rotes Halstuch und roten Lippenstift. Ihre Worte handelten vom Krieg, doch sie bedeuteten ihr nichts.
Ich spürte das Bedürfnis, auch etwas zu sagen, also sagte ich: »Man würde doch meinen, dass die Menschheit nach so vielen Jahrtausenden die Sinnlosigkeit des Krieges eingesehen hätte.«
»Da irrst du aber womöglich«, sagte er und roch an seinem Glas, warum auch immer.
»Wo irre ich?«, hakte ich nach.
Er nickte, trank wieder und hielt wieder einen Finger hoch. Ich sollte warten.
Ich wartete.
Er fragte: »Weißt du, was schrecklicher ist als die Sinnlosigkeit des Krieges?«
Ich wusste es nicht.
Er sagte: »Schrecklicher als die Sinnlosigkeit des Krieges ist die Möglichkeit, dass Krieg eben nicht sinnlos ist. Vielleicht braucht der Mensch den Krieg. Vielleicht ist Krieg eine Reinigung, wie Naseputzen, und manchmal fließt beim Naseputzen eben Blut.«
Ich fasste zusammen: »Schlimmer als die Sinnlosigkeit des Krieges ist die Möglichkeit des Gegenteils.«
Er trank den Rest seines zweiten Schnapsglases aus, wischte sich Tropfen aus dem Bart und sagte, nun doch etwas lallend: »Ja, Krieg schrecklich, aber notwendig. Und ich ›imbecile‹ hatte Überzeugungen!«
Ich trank meinen Kaffee aus. Der Kellner sammelte die leere Tasse und die beiden leeren Gläser ein.
Die unberĂĽhrte Tortilla lieĂź der Kellner stehen, wischte aber noch mal ĂĽber den Rest des Tisches.
Ich bot sie dem Bärtigen an. Er nickte erfreut, also schob ich ihm mein Frühstück zu.
»Es ist Zeit, dass ich ins Büro gehe«, sagte ich. Im TV redeten sie von der Börse.
Ich zahlte, auch den Schnaps, und trat auf die StraĂźe, wo ein StraĂźenkehrer die ohnehin saubere StraĂźe kehrte.
Ja, es zog mich ins Büro, um dies schön ordentlich für euch aufzuschreiben.