02.07.2025

Was für ein Trottel ich doch bin

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Dä Ahl jitt uns e paar Blömche«
Es gibt Erkenntnisse, zu denen gelangen wir viel zu spät im Leben. Zum Beispiel, dass Freundlichkeit (oder auch nur Höflichkeit) allein noch nicht bedeutet, dass die Person ein guter Mensch ist. Oder Unhöflichkeit, dass sie die Unwahrheit sagt.
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Nach Jahrzehnten begreife ich plötzlich etwas, doch ich ärgere mich und ich nenne mich einen Trottel, weil ich es nicht schon viel früher erkannt habe.

Dieses Gefühl ist eine Kombination aus jäher Einsicht, dazu Frustration und Wehmut. Ja, natürlich bin ich dankbar, dass mir jene späte Einsicht dann doch geschenkt wurde. Aber ärgerlich, dass ich mir selbst in dieser Angelegenheit zu lange im Wege stand.

Aber er ist so nett

Es sollte viele Jahrzehnte dauern, bis ich kürzlich vom angelsächsischen Begriff »argument from kindness« hörte. Man könnte es auch »fallacy of kindness« oder »appeal to niceness« nennen.

Es geht darum, dass Aussagen und Handlungen einer Person als »wahr« oder »ethisch gut« bewertet werden, wenn die Person nur freundlich und gutmütig rüberkommt.

Der in seinen Handlungen böseste und verlogenste Mensch, den ich persönlich erlebt habe, wird von nicht wenigen seiner Mitmenschen als freundlich und hilfsbereit beschrieben (außer von einigen derer, die ihn schon länger kennen).

Vom bösesten Deutschen aller Zeiten existiert eine heimlich angefertigte Tonbandaufnahme, auf der man seine »normale« Stimme hört, wenn er gerade nicht die Masse aufheizen will. Das Schockierende: Im Privaten klingt er entspannt, überraschend selbstkritisch und vor allem freundlich. Wer ihn privat kennenlernte, konnte schließen: »Der ist so freundlich und dabei auch selbstkritisch, der wird gewiss alles durchdacht haben und gute Absichten hegen. Dem kann man vertrauen.«

Luzifer ist in christlicher Überlieferung keineswegs das hässlichste, unsympathischste der Geschöpfe Gottes – sondern das schönste, attraktivste, verführerischste. Luzifer bedeutet wörtlich Lichtbringer oder Lichtträger. Nicht nur die Motten sind vom Licht angezogen. Nicht das Abstoßende wird die Menschen verführen, sondern der Glanz, die Schönheit oder eben die Schönheit des Handelns: die Freundlichkeit.

Euer Feind geworden

Es hilft, aber man muss nicht einmal Christ sein, um sich darauf zu einigen, dass Jesus wahlweise der beste oder einer der besten Menschen aller Zeiten war. Mit »der beste« meinen wir hier etwa ethisch und für die Menschheit wertvoll, als kleinsten gemeinsamen Nenner.

Jesus allerdings war alles andere als durchgehend freundlich!

Hier, bloß beispielhaft, drei der Unfreundlichkeiten Jesu:

Als Petrus sein Missfallen am drohenden Kreuzestod Jesu aussprach, blaffte Jesus ihn an: »Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir …« (Matthäus 16:23)

Als er von einer heidnischen Frau um Heilung ihrer besessenen Tochter gebeten wurde, ignorierte Jesus sie zunächst, würdigte sie nicht einmal einer Antwort. »Herr, hilf mir!«, flehte sie. Als die Jünger ihn baten, sie fortzuschicken, damit sie nicht nervt, blaffte er die Frau ziemlich beleidigend an: »Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen.« (Matthäus 15:26)

Ja, ja, ich weiß, dass die Geschichte danach eine herzerwärmende Wende nimmt. Doch mein Punkt ist nicht, zu widerlegen, dass Jesus der beste aller Menschen ist, sondern zu zeigen, dass er, auf Erden wandelnd, keineswegs in jeder Sekunde freundlich war.

Ach, ich könnte mehr Beispiele für Jesu augenscheinliche Unfreundlichkeit anführen, als manchem 2-Tage-im-Jahr-Christen lieb ist. Deshalb nur noch das vermutlich aufregendste Beispiel.

Bei einem Stichwort wie »Jesus war nicht immer freundlich« denken viele von uns sogleich an die »Tempelreinigung«. Jesus kommt zu Pessach in den Tempel, doch er findet dort »die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler«.

Und dann wird Jesus unfreundlich: »Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um, und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!« (Johannes 2:13-22)

Nein, ein »Spalter« zu sein, das allein macht einen Menschen noch nicht böse. »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert«, sagt Jesus in Matthäus 10:34.

Wovor genau warnen?

Ich hatte ja schon über solche »Unfreundlichkeiten« Jesu geschrieben, etwa 2021 im Essay »Dann kotzen Sie mal«. Doch dass sich daraus ein Fehlschluss als warnende Regel ableiten lässt, wurde mir erst in diesen Tagen bewusst – und auch das erst, als ein Text mich darauf hinwies.

Dieses Gefühl der späten Einsicht motiviert mich natürlich, die jüngere Generation davor bewahren zu wollen, selbst diesem Fehlschluss zu erliegen. Doch wovor genau soll man warnen?

Freundlichkeit ist nicht per se schlecht. Wenn ich meine Mitmenschen ehrlich respektiere und ihnen Gutes wünsche, warum sollte mein Umgang mit ihnen sie dies nicht spüren lassen?

Und im Gegenzug: Auch wenn Studien ergeben haben, dass derbes Fluchen statistisch mit Wahrhaftigkeit einhergeht (psychologytoday.com, 22.01.2018), so ist doch Unfreundlichkeit allein wahrlich kein Beleg für moralische Güte.

Eine grobe Lüge

Es gibt Menschen, deren Freundlichkeit (oder auch nur Höflichkeit) eine grobe Lüge ist, wenn man unter die Oberfläche schaut. Und es gibt Menschen, deren Derbheit unwahr ist (wenn ich sie auch nicht eine Lüge nennen will).

Nichts ist wahr oder ethisch gut, allein dadurch, dass der Sprecher mir sympathisch ist, allgemein freundlich daherkommt oder gar Geschenke verteilt. Und nichts ist unwahr bloß dadurch, dass der Sprecher mir aus diesem oder jenen Grund ein Ärgernis ist.

Wahrheit wird zur Wahrheit, indem sie mit dem beschriebenen Sachverhalt korrespondiert.

Eine Handlung wird dadurch ethisch gut, dass sie die relevanten Strukturen stärkt. Wenn du Freundlichkeit allein als ethischen Wert bewertest, unabhängig von den Folgen der »freundlichen« Handlung für größere Strukturen, folgst du narzisstischem Egoismus, der sich selbst als relevanteste der Strukturen einsetzt.

Was für Trottel

Ich wünschte, ich hätte diese und manch andere Erkenntnis früher eingesehen, hätte sie schon früher ausformuliert.

Ich weiß, ich weiß: Ich sollte nun dankbar sein, dass ich es immerhin jetzt begriffen habe. Und ich sollte den Auftrag fühlen, diese und andere späte Erkenntnisse zu teilen, um zumindest jüngeren Menschen etwas Zeit und Irrwege zu ersparen.

Doch etwas in mir möchte mich beschimpfen: »Du dummer Trottel! Wie dämlich bist du, so lange für die Erkenntnis solcher Banalität gebraucht zu haben? Bist du eigentlich komplett dämlich oder einfach nur super langsam?!«

Ja, mich auf diese Art zu beschimpfen, wäre unhöflich von mir. Unhöflich mir selbst gegenüber (und jedem, der ähnlich lange braucht), aber dadurch noch nicht unwahr. Nicht einmal böse!

In diesem Sinne also, ihr lieben Trottel alle, lasst uns lernen!

Das Einzige, für das es im Leben wirklich nie zu spät ist, ist doch die Erkenntnis.

Die Erkenntnis, was für Trottel wir in dieser oder jener Hinsicht bislang waren.

Und was für Trottel wir in manch anderer Hinsicht vermutlich immer noch sind.

Weiterschreiben, Wegner!

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