Dushan-Wegner

22.01.2023

Unbefriedigende Erklärungen zum Krieg

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten,
Sind (oder: wären) Panzerlieferungen in die Ukraine ein Kriegseintritt? Man fragt sich ja durchaus, was die wahren Motivationen der Handelnden sind. – Welche Frage müsste man eigentlich stellen, um die Handelnden wirklich zu verstehen?
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Ein Krieg sollte wahrlich nicht »befriedigend« sein, und wenn er es doch ist, stimmt etwas in der Seele heftig nicht.

Jedoch, das Niveau der Debatte über einen Krieg könnte einigermaßen zufriedenstellend sein – oder zumindest nicht krass unbefriedigend.

Ja, die Debatte zum Krieg in der Ukraine erscheint mir als denkbar unbefriedigend. Ich bin bald versucht, mich »auszuklinken« – und in zumindest der Hinsicht »klinke ich mich aus«, dass ich niemanden von meiner Meinung überzeugen will.

Bonbons fürs Volk

Ich höre immer wieder, dass es ja eine »Vorgeschichte« gäbe. Dass die NATO sich – gegen Abmachungen – bis nah an die Grenze Russlands vortastete. Dass die USA in Kiew einen Regime Change versuchten (Stichwort »Fuck the EU«, siehe bbc.com, 7.2.2014). Dass Ukraine eines der korruptesten Länder Europas sei (siehe auch Essay vom 1.3.2022). Dass Massaker an Russen in der Ukraine stattfanden, dass in der Ukraine waschechte Nazis mitmischen, und so weiter.

Mein Problem an all diesen »Argumenten« ist, dass ich erstens nicht sicher bin, wofür sie argumentieren, dass es Argumente aus der Vergangenheit sind, bestenfalls aus der bald vorübergehenden Gegenwart.

Jedoch, kein ernstzunehmender Kriegsherr zieht wirklich wegen der Vergangenheit in den Krieg – und will jemand bestreiten, dass Putin ernstzunehmen ist?

Vergangenheit, Moral und Sentimentalität sind Propagandabonbons fürs Volk. Vergangenheit, Moral und Sentimentalität werden gemacht, wie man Brot oder Handschellen macht, und auch zu ähnlichem Zweck.

Wenn man aber gefühlige Argumente und Erklärungen aus der Vergangenheit fürs Erste aus der Debatte streicht, hat man noch keine Antwort auf die Frage formuliert, was wirklich passiert – und: was passieren wird.

Zeige deine Pläne

Vor bald einem Jahr schrieb ich den Text »Brutal, nicht irrational«. Ich wagte darin versuchsweise die These, dass Putin seine »spezielle Militäroperation« in der Ukraine schlicht aus ähnlichem Grund unternimmt, warum etwa womöglich die USA sich Massenvernichtungswaffen im Irak ausdachten: Energiepolitik.

Ölfelder im Irak – Gasfelder in der Ukraine. Dabei auch Sicherung der Krim für die Sicherung des Zugangs zum Schwarzen Meer, et cetera. Also sehr rationale Ziele.

Ob Putins Plan aufgehen wird, das ist natürlich eine andere Frage. Auch für den Gott der russisch-orthodoxen Kirche wird gelten, dass wenn du ihn zum Lachen bringen willst, du ihm deine Pläne zeigen solltest.

Apropos »Frage«: Als die USA den Irak überfielen, begründet mit Propaganda-Lügen bei den UN (siehe etwa theintercept.com, 6.2.2018), hätte Deutschland damals Kampfpanzer an die Irakis liefern sollen, um sich gegen den Aggressor USA zu verteidigen?

Und noch eine Frage: Wie würde Deutschland eigentlich reagieren, wenn Bilder herauskämen, dass Russland in der Ukraine tat, was die USA in Abu Ghreib taten (siehe Wikipedia)? Man würde womöglich auch den offiziellen Kriegseintritt Deutschlands in der Ukraine fordern, den Einmarsch nach Russland mindestens bis nach Stalin-, pardon: Volgograd.

Ich sehe Gestalten in TV und Internet-Videos, die danach rufen, immer mehr und immer schwerere Waffen an die Ukraine zu liefern. Man ist bereit, den Krieg gegen Russland, wie man in den USA heute zynisch hört, »bis zum letzten Ukrainer« zu führen.

Zugleich besteht man darauf, dass man selbst mit der Lieferung schwerer Panzer noch nicht zur Kriegspartei werde. In welchem anderen alltäglichen Szenario würde man solche Argumentation gelten lassen? (»Ja, Herr Richter, ich habe ihm während der Prügelei die Waffen in die Hand gegeben, habe ihm Geld versprochen und ihn angefeuert, aber nur deshalb habe ich mich doch nicht in deren Kampf eingemischt!«)

Sun Tzu hilft

»Was sollen wir tun?«, so könnte man fragen, doch bissige Rückfragen würden zurückfragen, was »wir« (»deutsche TV-Gucker«, »Deutsche Soldaten«?) und »tun« (»liefern«, »applaudieren«?) hier bedeuten, vielleicht auch welches Gewicht das Wort »sollen« hat.

Arrangiert man sich irgendwann mit Annexion der Ukraine? Vielleicht gar mit einer Aufteilung der Ukraine, der Osten in Richtung Russland und der Westen in Richtung Polen?

Wenn man es nicht hinnimmt, wird die NATO aktiv eingreifen? Aktuell schickt man Menschen nur »indirekt«, indem man das waffengewordene Wissen schickt und ukrainische Soldaten trainiert – wird man den letzten Schritt unternehmen und dann gar strategische Ziele in Russland angreifen?

Oder hofft man, dass Putin innen so sehr geschwächt wird, dass ein neuer, »freundlicher« russischer Präsident an die Macht kommt?

Biden hatte ja indirekt den Wunsch nach Regime Change in Moskau geäußert, und es dann zurückgenommen als »moralische Empörung« (npr.org, 28.3.2022) – nur um es dann doch wieder zu bekräftigen (newsweek.com, 22.4.2022). Es hilft, Sun Tzu gelesen zu haben, doch simpler Menschenverstand genügt, um zu wissen, dass es keine gute Idee ist, einem Gegner keinen Ausweg zu lassen, als bis zu deiner oder seiner Vernichtung gegen dich zu kämpfen.

Wäre gut

Im August 2022 habe ich die »Universaltheorie der Nachrichten« aufgestellt: Was auch passiert, irgendwer wird daran Geld verdienen. Auch wenn Ereignisse nicht von den späteren Profiteuren angestoßen wurden, kann Profitstreben den weiteren Verlauf der Dinge vorantreiben. (Beispiel: Selbst wenn Pharmakonzerne oder Maskenprofiteure nicht die Corona-Panik anstießen, so könnte finanzielles Interesse denkmöglich den weiteren Verlauf bestimmt haben.)

Um Nachrichten zu verstehen, sollte man also sehen, wer daran Geld verdient – und wie er es tut. Für Politik aber könnte ein weiteres wichtiges Kriterium dazukommen!

Aktuell findet in Deutschland etwa ein öffentliches Tauziehen um Lieferung von Panzern nach Ukraine statt. Wird Deutschland liefern? Werden die Amerikaner liefern? Für das Volk wird viel von Moral gesprochen – von allen Seiten der Debatte – doch tatsächlich geht es womöglich um Geld und späteren (!) Einfluss. Bei nzz.ch, 21.1.2023 beschreibt Marco Seliger, wie der Export von Panzern nicht nur zukünftige Geldflüsse sichert (die Dinger müssen ja teuer repariert werden), sondern auch zukünftiger Einfluss gesichert wird.

Anders als etwa leichte Waffen müssen Panzer langfristig gewartet werden. Panzer in die Ukraine zu liefern könnte also als Investition verstanden werden, ähnlich wie ein Kaffeekapsel-Hersteller, der dir günstig eine Kaffeekapsel-Maschine verkauft, um dann später an den Kapseln zu verdienen.

Neben allen anderen möglichen Argumenten gegen deutsche Panzerlieferung – etwa, dass es als De-Facto-Kriegseintritt gedeutet werden könnte – erscheint mir ein tragisch-absurder Erfahrungswert dagegen zu sprechen, dass Deutschland wirklich liefern wird: Deutsche Panzer zu liefern könnte späteres Geschäft und deutschen Machteinfluss bedeuten, würde also Deutschland stärken, also wird Deutschland es nicht tun.

Im Gegenteil

Eine Stärke der Demokratie ist ja (in der Theorie), dass Politiker friedlich abgesetzt werden können, auch ganz wesentlich, weil sie sich nicht um ihre »Anschlussverwendung« sorgen müssen – im Gegenteil!

Es sollte die Demokratie stärken, dass Politiker sich nicht vorm Ende ihrer politischen Karriere fürchten müssen, weil sie dann nicht ins Bodenlose fallen. Wenn jedoch im Bürger das Gefühl wächst, dass Politiker mehr auf die profitable »Anschlussverwendung« zielen als auf das Wohl des Landes, wird die Stärke der Demokratie plötzlich zu ihrer gefährlichen Schwäche.

Doch was wäre die Alternative?

Ein Diktator muss tatsächlich bis zum letzten Atemzug um seine Macht ringen, denn bei Absetzung zu Lebzeiten drohen ihm Gerichte, Gefängnis, Verfolgung, Enteignung, Todesstrafe – oder womöglich alles zusammen.

Im Essay vom 20.1.2023 betonte ich, dass Systeme wichtiger für unmittelbare politische Entwicklungen sind als einzelne Akteure – und das ist wahrlich kein Widerspruch: Ein Diktator wird seine »Anschlussverwendung« anders planen als ein demokratischer Minister, auch der wird das im deutschen System anders tun als etwa im amerikanischen, und ein »Royal« in Großbritannien oder Saudi-Arabien wird seine Zukunft wieder anders planen.

Welche Aussichten auf eine »Anschlussverwendung« hat aber Putin? Die simple These lautet ja: Was auch immer die Antwort ist, diese Antwort wird Putins Handeln erklären.

Fragen Sie!

Wir schauen via Medien in die Ukraine, und wir sind ratlos. Lassen Sie mich einen neuen Ansatz zum Ausprobieren vorlegen: Um zu verstehen, warum und wie ein Land handeln wird, fragen Sie nicht nach Geschichte, nicht nach Schuld oder gar Moral, fragen Sie nicht einmal nach dem unmittelbaren Profit. – Fragen Sie nach der »Anschlussverwendung«, welche die handelnden Personen jeweils für sich im Blick haben!

Wird Putin sich zurückziehen? Wird er um jeden Preis dranbleiben?

Wie wird Scholz weiter handeln? Wird er Panzer liefern (lassen), und wenn ja, wie engagiert? Wird er doch »diplomatische Lösungen« suchen? – Nebenbei: Wird er den Anschlag auf Nord Stream 2 aufklären (wollen)? Das Zögern des Olaf Scholz bei Waffenlieferungen überrascht ja manchen Beobachter positiv. Wenn gewisse Politiker und Journalisten wütend auf dich sind, machst du womöglich etwas grundlegen richtig. Mal schauen, wie sich sein weiteres Handeln in seine Pläne für seine »Anschlussverwendung« einfügt.

Wenigstens bei den USA sind die Absichten und Pläne erfrischend offen: Die wollen einen USA-freundlichen Akteur in der Ukraine an der Macht sehen – wie gesagt: »fuck the EU« – und wenn es halt ein Komiker ist, der auch in den Panama Papers auftaucht. Dass ein Herr Zelensky sich um seine »Anschlussverwendung« wenige Sorgen machen muss, zumindest finanziell, wird niemand ernsthaft bezweifeln.

Der Ausbau militärischer Macht gerade in Europa und an Russlands Grenze, sowie das legale Umlenken von Steuergeld in die Kassen von US-Waffenkonzernen sichert genug Amerikanern ihre eigene »Anschlussverwendung« – in der Hinsicht scheinen kaum Fragen offen zu sein. Klar, wenn US-Soldaten sterben, wäre das schlecht fürs US-Politik-Klima, doch das droht ja in der Ukraine aktuell nicht. (Eine verwandte Frage wäre wohl, für wie viele Deutsche die Lobbyarbeit für US-Waffenkonzerne ihre »Anschlussverwendung« sichert.)

Ein kühles Lesen

Was soll also in der Ukraine passieren? Ach, ich will zuerst verstehen, warum die Leute tun, was sie tun.

Warum eine Angelegenheit beginnt, ist eine andere Frage, als jene, warum sie fortgeführt wird – und die Antwort auf die letztere Frage ist in der Regel, dass Leute daran Geld verdienen – oder eben damit ihre eigene »Anschlussverwendung« planen.

Glaubt denn irgendwer, dass irgendein Politiker eine Entscheidung treffen wird, die seinem Land nutzen, aber ihm selbst langfristig schaden wird? Ich beneide Sie ehrlich um Ihren Glauben!

»Was wird in der Ukraine weiter passieren?«, so frage ich mich, und ich antworte mir selbst mit einer Rückfrage: »Wer sind die Akteure – und welche Anschlussverwendung planen sie für sich selbst?«

Ich weiß: Das ist keine Antwort, das ist eine Frage. Doch wenn ich keine befriedigende Antwort weiß, so will ich doch eine präzisere, klärende Frage stellen.

Ein kühles Lesen der Nachrichten produziert mehr Fragen als Antworten, und es hinterlässt uns gewissermaßen hungrig. (Darf ich Hungerbrot reichen?)

Eine meiner persönlichen Denkregeln lautet: Ich wäre lieber eine Meile vom Ziel entfernt, und wüsste das, als zwei Schritte nah, doch fälschlich in der Illusion, ich sei bereits angekommen.

Ja, wir bleiben hungrig nach Information und Erklärung, doch immerhin lernen wir, unseren Hunger besser zu verstehen.

(Und eine Frage in eigener Sache kriecht manchem von uns das Rückenmark hoch: Was soll eigentlich meine »Anschlussverwendung« sein – und wie motiviert sie mein Handeln?)

Weiterschreiben, Wegner!

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