Dushan-Wegner

24.04.2018

Die schwindende Unbeschwertheit der Städte

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten,
Die Zahl der Städte, in denen sich noch unbeschwert und sorgenfrei flanieren lässt, wird kleiner. Kann es uns gelingen, diese Entwicklung aufzuhalten?
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Gesundheit ist wie die Liebe, wie der Sinn, wie die Gerechtigkeit und die Moral. Wir können nicht genau sagen, was es ist, doch wir wissen sehr genau, wenn es fehlt. Ja, wir haben uns auf die Abwesenheit von Krankheit als Definition der Gesundheit geeinigt. Wir sind uns ebenfalls einig, dass die Gesundheit zu den höchsten Gütern zählt. »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts«, sagt eine Redensart – und mit den anderen Gütern ist es ja ähnlich! Ohne Liebe ist ein Leben traurig, ohne Sinn ist es leer und ohne Gesundheit ist jeder Tag eine Qual. Eine Gesellschaft ohne Gerechtigkeit und Moral aber ist Diktatur oder Barbarei.

Stadt, Land, Park

Der Mensch, der auf dem Land lebt, wird dann doch regelmäßig in die Stadt fahren, um dieses oder jenes zu erledigen. Wenn er einen Arzt braucht oder eine Angelegenheit bei Gericht erledigen muss, kommt er nicht umhin, zur Reise in die Stadt aufzubrechen. Der Stadtbewohner sieht sich allerdings im Gegenzug nur selten, eigentlich nie, gezwungen, seine Stadt zu verlassen und das Land aufzusuchen. Was der Stadtbewohner vom Land braucht, sei es Gemüse, Fleisch oder die diversen Rohstoffe für die Fabriken, das wird dem Stadtbewohner treu und täglich von den ländlichen Herstellern in die städtischen Läden und Lagerhäuser gebracht. Ja, der Stadtbewohner muss nicht einmal aufs Land fahren, um dort Natur und Erholung einzukaufen – kluge Stadtplaner legen eigens zu diesem Zwecke die stets beliebten Parks an, mit ihren künstlichen Hügeln und Hainen, in klug ausgedachten Städten auch mit Parkseen und Ruderbooten zum Ausleihen an sonnigen Tagen.

Elefanten und Papayas

Es ist eine charmante – oder wollen wir »niedliche« sagen? – Eigenschaft selbst des modernen Menschen, zwischen Natürlichem und Menschengeschaffenem zu unterscheiden. Wenn ein Elefant zu viel von den verdorbenen Papayas genascht hat und in Folge betrunken einen Baum umrennt, dann gilt das als ein »natürliches« Ereignis. Wenn aber ein Mensch den Nachbarbaum mit der Kettensäge zu Boden bringt, dann gilt das als unnatürlicher Eingriff in die Natur. Nur: Der Mensch ist genauso ein Teil der Evolution (oder von mir aus: Schöpfung) wie der Elefant, und sein Handeln ist in diesem Sinne durchaus natürlich.

Städte sind ein natürliches Ergebnis menschlicher Evolution. Der Mensch entwickelte ein größeres Gehirn, das es ihm möglich machte, Vorgänge wie Saat und Ernte erst zu verstehen und dann zu optimieren. Er entwickelte komplexe Kommunikationsformen. Er entwickelte gefährliche Waffen, vor denen er wieder extra starken Schutz brauchte. Diese Möglichkeiten und Bedürfnisse führten zusammen zum Bau von Städten. Externe Bauern konnten die Städter buchstäblich durchfüttern, man konnte Handel auch mit fernen Orten treiben, an Universitäten ließ sich über die Welt nachdenken, in der anregenden Umgebung der städtischen Cafés und Gaststätten konnte (und kann) man sich mit immer neuen Menschen treffen.

Peace!

Die Weltgesundheitsorganisation (»WHO«) und Städteplaner rund um die Welt denken darüber nach, was eine Stadt »gesund« macht. Die WHO fasst es in einer Liste von Begriffen zusammen, die im Englischen allesamt mit P beginnen: People, Participation, Prosperity, Planet, Place und Peace.

Die Inhalte sind die, die man erwarten würde: Die Stadtplanung soll die Menschen in den Mittelpunkt stellen und via Inklusion und Teilhabe sollen sich alle lieb haben, außerdem soll es genug Geld geben und die Umwelt soll geschützt werden. Man hat das Gefühl, dass es nicht darum geht, was sich in der Geschichte tatsächlich bewährt hat, sondern um die wohlklingenden Schreibtischutopien von Beamten in klimatisierten Büros.

Und doch ist die Idee von »gesunden« Städten nicht ganz falsch – wir spüren ja, dass etwas dran ist.

Wenn wir in eine Stadt fahren und in vielen Fenstern diese Schilder sehen , auf denen »zu verkaufen« steht, dann stimmt etwas nicht – und wenn wir viele zerbrochene Fenster sehen, dann erst recht nicht. Wenn wir finster dreinblickende junge Männer an der Straßenecke stehen sehen, dann stimmt etwas nicht. Wenn keine Cafés uns einladen, eine Pause zu machen, oder wenn keine Parks uns zu einem entspannten Spaziergang einladen, dann ist die Stadt nicht »gesund«.

Gesunde Städte brauchen Orte der Begegnung. Gesunde Städte dürfen uns nicht vergiften. Gesunde Städte haben viele schöne Orte, und mit »schön« meinen wir ganz klassische Schönheit: Schöne Architektur, schöne Kunst, schöne städtische Natur, schöne und liebevolle Betriebe, Plätze und Läden. Gesunde Städte vereinen Wohnen, Arbeiten und Freizeit zu einem Gesamtkonzept für Leben seiner Bewohner. Kurz: Gesunde Städte sind Orte, die wir gern zu unserem Zuhause machen.

Der letzte Punkt der WHO-Liste, »Peace« (Frieden), liegt nicht ganz falsch.

In den letzten Jahren ist etwas Neues dazugekommen, das unsere Städte und zugleich uns krank macht: die Angst, überall.

Nie vollständig unbeschwert

Dank der israelischen Sperranlagen zur Westbank hin (die »Mauer«) ist die Zahl der Terror-Anschläge in Israel deutlich kleiner geworden, und doch gibt es sie noch. Wenn sie in deutschen Qualitätsmedien wieder mal so etwas lesen wie »Israel tötet Palästinenser«, dann ist dem wahrscheinlich ein versuchter Anschlag mit Messer, Auto oder anderen Utensilien vorausgegangen.

Auch im Angesicht dieser dauernden Gefahr feiern die Menschen in Tel Aviv und anderen israelischen Städten noch immer das Leben. Sie besuchen Cafés, sie tanzen und sie schaffen Kunst. Und wenn so ein Anschlag etwa auf ein Café dann doch passiert, dann können Sie sich darauf verlassen, dass dieses Café erstens in den kommenden Tagen und Wochen ein sehr sicherer Ort ist, und dass zweitens die Stadtbewohner aus Solidarität und Trotz genau dieses Café aufsuchen werden.

Das öffentliche Leben in Israel kann lebensfroh und magisch sein, fröhlich und voller positiver Energie, aber eins ist es nie: unbeschwert. Wenn deine Nachbarn von der Windel auf gelehrt werden, dass sie dich hassen sollen, wenn diese Kinder gelehrt werden, ein sogenannter Märtyrer zu sein sei das Höchste (neuerdings auch in Deutschland modern), dann wird dein Leben auf der Straße und am Abend im Park nie vollständig unbeschwert sein.

Davor und danach

Bis vor kurzem galt in vielen Städten des Westens, dass wer sich aus den bekannten Problemvierteln heraushielt, weitgehend sicher lebte. Dann kamen Gewalt und Terror – und neuerdings auch wohl westliche Nachahmer, welche die typischen Methoden des »Islamischen Staates« kopieren, und ihnen gelang genau das, was das Wort »Terror« wörtlich bedeutet. Die Zahl der Städte, in denen sich noch unbeschwert ohne Gefahr im Hinterkopf flanieren lässt, wird kleiner, zumindest im westlichen, »toleranten« Europa.

Es wird schon seit jeher versucht, Angst als »Phobie« zu diskreditieren, also zur Krankheit zu erklären, doch wenn die Angst begründet ist, kann man die Stadt dann gesund nennen?

Man könnte eine Weltkarte auf die Wand spannen und alle Städte, in denen sich noch unbeschwert ohne Angst vor wildgewordenen LKWs, Messern und Bomben leben lässt, mit einer Stecknadel markieren. Und dann müsste man wöchentlich die Stecknadeln jener Städte herausziehen, in denen die Unbeschwertheit verschwand.

Man kann nichts für einen Anschlag, und doch fühlt man sich als Stadt schmutzig, und doch wird es nie mehr werden wie früher. Man verliert seine gefühlte Unschuld, auch wenn man unschuldig war. – In Hamburg hat ein Flüchtling seine deutsche Ex-Frau und das gemeinsame Kind ermordet, und, so lese ich heute, die Einjährige dabei wohl enthauptet. Polizei und Staatsanwaltschaft greifen zu demokratisch fragwürdigen Mitteln, um die Tat zu verheimlichen, etwa einer Hausdurchsuchung, die keinem offensichtlichen Zweck zu dienen scheint, außer jene, die davon berichten, einzuschüchtern. Der betreffende Staatsanwalt war einer der ganz wenigen Juristen, die das Zensurgesetz NetzDG begrüßten – ein für manchen Demokraten gruseliges Gesamtbild. Was aber könnte man mit solchen Hausdurchsuchungen und Zensurgesetzen erreichen wollen? Will man verhindern, dass sich herumspricht, wie die Städte des Westens ihre Unschuld verlieren?

Früher hätte man Druckmaschinen zerstört und Zeitungshäuser geschlossen, heute hat man seine Leute in genügend Redaktionen, heute ist die Wahrheit im Internet der Feind. Doch, wenn sie das letzte Internet-Forum kontrollieren und den letzten Blog verbieten, wird sich eben im Buschfunk herumsprechen, dass Stadt für Stadt ihre Unschuld und Unbeschwertheit verlieren.

Die Zukunft

Nein, Angst ist keine Krankheit und kein moralisches Vergehen, auch wenn Faschisten und Ideologen aller Zeiten den Bürger, der sich vorm Sterben für die große Sache fürchtet, auf diese und ähnliche Weisen diffamierten – während sie zeitgleich ihre eigenen, politisch nützlichen Ängste verbreiteten.

Eine Stadt aber, in der sich nach und nach wohlbegründete Angst ausbreitet, die kann man nicht guten Gewissens »gesund« nennen. Da wäre ich sogar mit der Definition der Weltgesundheitsorganisation im Einklang, die ja »Peace« als Faktor von Stadtgesundheit nennt.

Ich saß letztens in einer europäischen Stadt in einem Café und fühlte mich versucht, in den sozialen Medien zu posten, wie leicht, unbeschwert und angstfrei das Leben dort ist. Ich habe es sein lassen, mit dem spontanen Gedanken, kein Unglück heraufzubeschwören oder gar jemanden auf Ideen zu bringen. Ich bin nicht sicher, wie sinnvoll diese Bedenken waren, aber dass sie mir kamen, das erschreckte mich.

Die Stadt ist eine der spannendsten, verrücktesten, schönsten und manchmal auch schrecklichsten Ideen, die Menschen und Evolution hervorbrachten.

Ich habe in diesem Text ganz bewusst keine Stadt konkret genannt. Wir kennen alle die Namen, und viel spannender sind ja die Namen, die wir nicht alle kennen, sondern immer nur einige von uns.

Lassen Sie uns unsere Städte und Orte feiern, an denen sich noch echte Unbeschwertheit leben lässt. Lassen Sie uns Politikern den Rücken stärken, die ihre Städte unbeschwert halten. Lassen Sie uns die Momente nicht vergessen, die wir in unseren Städten verbrachten; es werden ja möglicherweise noch einige kommen. Vielleicht kann es uns gelingen, hier und da etwas Unbeschwertheit zurückzugewinnen – die Geschichte hat schon größere Volten vollzogen!

Weiterschreiben, Wegner!

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