05.05.2025

Pferdewechsel sind unbeliebt (und meide den Esel)

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild: »Hat man dich gewechselt, Springer?«
Es liegt nicht (nur) an dir, ob dein Leben dramatische »Pferdewechsel« enthalten wird. Es wird. Die Frage ist, ob du das als (nur) schrecklich bewertest – oder (auch) als aufregend. (Eines aber ist klar: Wenn irgend möglich, meide den Esel!)
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Gestern sah ich den Film The Heartbreak Kid aus dem Jahr 2007 (zum Beispiel auf Netflix, oder bei Prime Video), mit den Farelly-Brüdern als Regisseuren und Ben Stiller als Protagonist (Trailer bei YouTube). Ich versprach mir eine RomCom, eine romantische Komödie. Es war … etwas anderes.

The Heartbreak Kid von 2007 ist das Remake eines Films gleichen Titels aus dem Jahr 1972 (Trailer bei YouTube). Im Deutschen hieß jener Film »Pferdewechsel in der Hochzeitsnacht«. Und die Version von 2007 heißt im Deutschen tatsächlich »Nach 7 Tagen – Ausgeflittert«. Ja, wirklich.

Die Handlung beider Filme: Ein Paar heiratet überstürzt. Schon bei der Fahrt in die Flitterwochen stellt der Frischgebackene fest, dass eine Reihe von Eigenschaften seiner Eben-noch-Angebeteten ihn stören. Ihn sehr stören.

Gleich am ersten Tag der Flitterwochen trifft der Protagonist eine weitere Dame, und mit dieser stimmt die Chemie.

Der RomCom-Kenner bemerkt natürlich zuerst ein bekanntes Muster: den MeetCute – und auch einen schweren Konflikt.

Klassiker nicht nur ihres Genres

MeetCute bedeutet in Hollywood-Lingo, und zwar schon seit den 1930ern, dass Männlein und Weiblein einander auf eine »niedliche« Weise treffen. MeetCutes finden sich, unter anderem in Actionfilmen (Top Gun) wie auch in großen Dramen (Romeo and Juliet). In Midnight in Paris passiert ein MeetCute gegen Anfang des Films, und die »eigentliche« RomCom passiert im Kopf des Zuschauers nach dem Ende des Films.

Das eine Genre aber, das paradigmatisch fürs MeetCute steht, dessen gesamte Werke jeweils eine Ausarbeitung des initiierenden MeetCutes sind, ist die RomCom – die romantische Komödie.

Einige RomComs haben sich als Klassiker nicht nur ihres Genres, sondern der ganzen Filmgeschichte erwiesen, etwa When Harry Met Sally, Notting Hill oder Amélie.

Einige Filme residieren so weit oben auf dem Olymp der Filmgeschichte, dass wir erst darauf hingewiesen werden müssen, dass sie doch eigentlich RomComs darstellen. Ich denke hier etwa an Annie Hall (von Woody Allen und mit dem sehr deutschen deutschen Titel »Der Stadtneurotiker«).

Im erwähnten Film The Heartbreak Kid aber geschieht zu Beginn etwas, das zunächst wie eine spannende Variante der RomCom wirkt, doch der Geschichte dann eine unerwartete, oder präziser: verstörende Entwicklung aufzwingt.

Zwei beide starke Schenkel

Der Zuschauer erlebt zwei MeetCutes eines Mannes: erst die überstürzte Eheschließung, dann die Begegnung mit der schönen Fremden am Strand.

Wenn die RomCom ein Film ist, der das anfängliche MeetCute durchdekliniert, was ist dann ein Film, der mit zwei MeetCutes beginnt?

Ein Beziehungsdreieck in einer RomCom ist keine ungewöhnliche Sache. Doch es sollte eigentlich immer klar sein, welcher »Schenkel« dieses Dreiecks der schwächere und damit (in der RomCom-Logik) der zu Kappende ist.

Die beiden MeetCutes in The Heartbreak Kid sind allerdings beide »starke Schenkel«!

Wir spüren als Zuschauer von The Heartbreak Kid, dass da »etwas nicht stimmt«.

Eine Zeit lang wollen wir uns einreden, dass die beiden starken Schenkel dieses Beziehungsdreiecks bloß »der Konflikt« sind, wie er in Filmen eben notwendig ist. Und dass es sich schon noch herauskristallisieren wird, welcher Schenkel schwächer ist.

Mit jeder weiteren Szene wird uns deutlicher (und damit: quälender) bewusst, dass das keine übliche RomCom ist.

Romantic Dark Comedy

Der Protagonist verstrickt sich in immer mehr Lügen und Täuschungen. (Schon früh erleben wir, wie bemerkenswert leicht ihm das Lügen fällt.)

Der Protagonist, der sich nach und nach für uns als »der eigentliche Böse« anfühlt, was auch in uns eine Zerrissenheit auslöst, belügt und manipuliert die Menschen seiner Umgebung.

Er ist intelligent, doch triebgesteuert.

Wir wollen ihm Erfolg wünschen, da er doch die Hauptfigur ist, doch immer mehr wünschen wir, dass er entweder zur Besinnung findet – oder die Charaktere in seiner Umgebung sich nachhaltig von ihm losschneiden.

Ich sagte also etwa in der Hälfte des Films zu meinen Mitschauenden: »Dies ist keine romantische Komödie! Dies ist eher ›romantischer Psycho-Horror!‹«

Später las ich, dass der Fachbegriff für die Kategorie des Originalfilms »romantic dark comedy« lautete.

Nach dem finalen Twist in der letzten Szene lachte ich laut. »Was für eine wilde Reise!«, dachte ich.

»Disgusting«, »Awful«, »Don’t Watch This«

Heute Morgen dann war ich neugierig, was andere Zuschauer über den Film gesagt hatten. Ich schaute bei IMDB nach und las dort die Zuschauer-Reviews.

Und ich stellte fest: Die Gesamtbewertung des Films liegt bei 5,9 von 10 Punkten. Für eine RomCom ist das spektakulär schlecht.

Die miese Gesamtnote rührt allerdings wohl von den 44 maximal negativen Bewertungen mit nur 1 Stern her (link). Diese Bewertungen tragen Titel wie »Absolutely Horrible« (link). »Flush it Down the Toilet« (link). »Disgusting« (link), »Awful« (link), »Don’t Watch This« (link).

»Stay away from this crass and classless movie«, empfiehlt einer, und erklärt: »The worst movie I have seen« (link). Und so weiter ad buchstäblich nauseam.

Ja, einige der Szenen im Film sind verstörend. Dazu nur so viel: Im Deutschen ist die Altersfreigabe ab 12, und ich würde verstehen, wenn jemand dies als zu niedrig kritisieren würde. Und es wird – für wenige, aber dennoch verstörende Sekunden – eine sehr ironisch betitelte mexikanische Theatervorstellung gezeigt. Diese enthält ebenfalls eine Braut. Und einen Esel. (Mein erster Gedanke war: »Ha! Die zeigen, wovon andere Komödien nur sprechen, etwa Two and a Half Men, in der Episode Always a Bridesmaid, Never a Burro; siehe IMDB. Zugleich spiegeln sie darin die moralische Verfasstheit des Protagonisten. Wenn das mal kein Meta-Humor ist!«)

»Und dann nochmal?«

Ja, einige Zuschauer missverstehen die Handlungen des Protagonisten sogar als moralische Lehre und sind entsprechend empört:

Nach Lektüre zu vieler der Zivilisten-Kritiken auf IMDB scheint mir aber nicht die Qualität des Film selbst die primäre Ursache für die offen wütenden Verrisse zu sein: »What a crap!! What is it even trying to say? Dump marriage on your honeymoon?? Then do it again?« – auf Deutsch: »So ein Mist!! Was soll das denn überhaupt sagen? Die Ehe in den Flitterwochen drangeben? Und dann nochmal?«

Dieses Missverständnis ist eher amüsant. Es liegt wohl an der kulturellen Sozialisiation der Zuschauer, die sie erwarten lässt, dass alle Kunstwerke die Moral des Tages bekräftigen (müssen) und keinesfalls alternative Moralkonzepte (oder gar vollständige Unmoral) durchprobieren dürfen.

Der zentrale Grund für die Wut auf diesen Film ist aber, so mein Eindruck, die mangelnde Erfüllung von Erwartungen, präziser: der Erwartung in einem sehr konkreten Szenario.

Popcorn zu Schmetterlingen

Man stelle es sich vor: Zwei junge Menschen verabreden sich zu einem Date im Kino. Man knabbert das teure Popcorn und hält Händchen. Man erwartet eine romantische Komödie, in der am Ende die Liebe gewinnt. Man hofft, die Liebe und die sonstigen warmen Gefühle der Leinwand im eigenen Leben zu spiegeln.

Man plant (oder hofft zumindest), den Film knutschend zu beenden, das Popcorn im Bauch soll zu Schmetterlingen geworden sein. (Notiz: Womit das Popcorn eigentlich Raupen wären? Diese Metapher ist auch etwas »Horror«.)

Das erste Problem des Films, so meine These, ist nicht der Film. Das Problem sind die Erwartungen an den Film. Das Problem an diesen Erwartungen aber ist, dass zu viele Menschen heute keine Freude daran empfinden, vom Künstler an die Hand genommen und zu völlig anderen Erlebnissen geführt zu werden, als sie erwartet hatten.

Makellos und zwei Zugaben

Zuvor, letzten Freitag, hatte ich ein Konzert besucht. Ich erwartete einen virtuosen Violinsolisten plus Orchester, denn so war es angekündigt. Und ich »erhielt« auch genau das. Unter anderem: Sibelius, Violin-Konzert in d-Moll, Opus 47. Eines der anspruchsvollsten Violinstücke überhaupt, so informierte ich mich vorab. Der Vortrag war makellos. Wir gaben brav stehenden Applaus und erhielten dafür zwei brave Zugaben.

Es war virtuos und brillant. Das Konzert erfüllte alle Erwartungen präzise, und ich hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Und während ich dies schrieb, musste ich unterbrechen und online nachschlagen, was ich da überhaupt gehört hatte.

Den Film aber, von dem ich euch berichtete, kann ich euch nacherzählen, denn ich bin noch immer … verändert. Es war, als ob mich die Filmemacher an die Hand genommen hätten, um mir 90 Minuten lang regelmäßig in den Bauch zu schlagen – aber auf eine sehr ästhetische Weise.

Ich war dankbar für dieses unerwartete Erlebnis, so verstörend es war. Ich genieße es, im Rückblick nach dem Moment zu suchen, in welchem meine als Zuschauer natürliche Identifizierung mit dem Protagonisten in moralische Abscheu umschlug. War es graduell oder plötzlich? Wie lange »nahm ich hin«, weil es doch der Protagonist war, den wir sympathisch zu finden haben? Wie ist meine Hoffnung zu bewerten, dass diesem Schuft doch noch ein Happy End gelingen würde? Und so weiter.

Definitiv ein Pferdewechsel

»Pferdewechsel in der Hochzeitsnacht« – der deutsche Titel des Originals von 1972 ist, wie bei deutschen Titeln oft der Fall, etwas holprig und auch nicht präzise. Doch das Sprachbild Pferdewechsel beschreibt durchaus das Erlebnis beim Genuss der Version von 2007.

Wir beginnen den Film mit der Erwartung einer RomCom. Wir erwarten MeetCute mit Happy End zu sehen. Wir erhalten romantischen Psycho-Horror. Es ist definitiv ein »Pferdewechsel«, ein Wechsel der »Pferde«, die den Film »nach vorn ziehen«.

Ich lese die wütenden Reaktionen der Zuschauer, die in ihrer Erwartung enttäuscht wurden. Und ich kann nicht anders, als den gedanklichen Blick zu heben und das größere Bild zu betrachten: So mancher Mensch wäre viel glücklicher, wenn er nicht in Wut und Panik geriete, wenn seine Erwartungen nicht erfüllt werden.

Dein Leben wird »Pferdewechsel« enthalten, und du solltest erwarten, dass sie bisweilen unerwartet einsetzen.

Wenn die Kutsche schwankt

»This was possibly the most uncomfortable movie I have ever seen«, schreibt ein wütender Zuschauer (link). Auf Deutsch: »Das war wahrscheinlich der unangenehmste Film, den ich je gesehen habe.«

Ich möchte diesem Unzufriedenen antworten: Dies ist das unkomfortabelste Leben, das du je leben wirst.

Welches MeetCute auch immer zwischen dir und den Komponenten deines Lebens einst passierte, es wird nicht ewig anhalten, nicht (nur) aus eigener Kraft. Es wird unkomfortabel werden.

Die Kunst des Lebens besteht nicht darin, sich allzeit komfortabel einzurichten, sonst enthielten gepolsterte Gummizellen die glücklichsten aller Menschen. (Und wenn die Menschen in jenen Zellen sich selbst eben doch als glücklich wahrnehmen, dann wissen wir ja, woran das liegt: Psychopharmaka und/oder Wahnsinn.)

Die Kunst des Lebens besteht auch darin, den Reiz unerwarteter Pferdewechsel zu spüren, auch und gerade wenn die Kutsche schwankt und die neue Richtung erst noch gefunden werden muss.

Unerwartete Pferdewechsel machen uns Angst, und die Fahrt kann vorzeitig im Abgrund enden, kein Zweifel. Doch ob der Pferdewechsel aufregend ist oder einfach nur »horrible« (link), ist jedes Menschen persönliche und aktive Entscheidung.

(Jedoch, und das ist wichtig, da sind wir uns alle einig: Wenn irgend möglich, meide den Esel.)

Weiterschreiben, Wegner!

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