Dushan-Wegner

15.07.2018

Verantwortung – oder die Hilfe vor Ort

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild von Michael Mroczek
Wir waren Migranten. Auf gewisse Weise bin ich noch immer Migrant. Es hätte mich irritiert, von »Aktivisten« wie ein Kind behandelt zu werden. Auch der Migrant trägt zuerst selbst die Verantwortung für die Folgen seines Handelns.
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Wann weiß man, dass man erwachsen ist? Wenn man Salat statt Pommes zum Steak bestellt? Wenn man lieber daheim bleibt und einen Film guckt, statt irgendwo feiern zu gehen? Wenn man beim Zahnarzt mehr Angst vor der Rechnung als vorm Bohrer hat?

Im Text »Werdet erwachsen« schrieb ich:

Wichtigstes Wesensmerkmal des Erwachsenseins ist die Fähigkeit und damit auch die Pflicht, die Verantwortung fürs eigene Handeln zu übernehmen.

Verantwortung zu übernehmen ist die Essenz des Erwachsenseins. Der Begriff »Verantwortung« kann verschiedene Nuancen in der Bedeutung tragen, hier aber meinen wir die Pflicht, eine relevante Struktur zu erhalten und zu stärken.

Zwei Dinge, sagte Immanuel Kant, waren es, die ihn mit Ehrfurcht erfüllten: »Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (KrpV, Kap. 34)

Die meisten von uns kennen ein »Pflichtgefühl«. Wir unterscheiden uns aber darin, worauf sich das Pflichtgefühl richtet. Ein inneres moralisches Gesetz hält in uns den Drang wach, dieses oder jenes zu tun – nicht, weil es uns unbedingt einen Vorteil einbringen wird, weil es uns etwa mit Salz, Zucker oder Fett versorgen wird, sondern schlicht weil es Pflicht ist, die uns relevanten Strukturen zu stützen.

Es ist dem Menschen angeboren, Verantwortung übernehmen zu wollen. Die meisten von uns haben eine Verantwortungs-Leerstelle in der Seele. Manche gründen eine Familie oder ein Unternehmen, um diese Leerstelle zu füllen. Manche kaufen sich einen Hund, für den sie die Verantwortung übernehmen. Wer Verantwortung für eine Struktur übernimmt, der setzt in einem mentalen Akt diese Struktur in die Pflichtgefühl-Leerstelle ein.

Verantwortung ist wie Sport; anstrengend und doch wohltuend. In richtigem Maß stärken Verantwortung und Sport den Menschen. Wer sich zu viel Verantwortung oder Sport auflädt, kann daran kaputt gehen. Aber auch: Wenn man nicht genug Verantwortung oder Sport betreibt, verkümmert man.

Es ist kein Zufall, dass die Gesellschaft gleichzeitig fauler und kindischer wird. Es ist kein Zufall, dass sogenannte »Jugendmagazine« einigermaßen gewissenlos das Dicksein »normalisieren« und zugleich als »Social Justice Warrior« es zur neuen Ideologie machen, dass niemand die Verantwortung für sein Schicksal trägt, sondern immer ein anderer »Oppressor« (meist »alte weiße Männer«); Verantwortung für die eigene Gesundheit und das eigene Schicksal wird verteufelt.

Die Jeder-bekommt-einen-Preis-Generationen ist unglücklich wie nie. Die Zahl der Depressiven steigt (siehe z.B. guardian.com, 4.6.2018). Der Mensch braucht Verantwortung wie er Sport braucht, und ohne Verantwortung wird er unglücklich.

Leute, die ihr Geld mit Moralisieren verdienen, tendieren seit Jahrzehnten dazu, Menschen aus fremden Kulturen wie Kinder zu behandeln.

Ich lese in diesen Tagen politisch korrekte Kommentare wie »Jeder Flüchtling hofft, in Seenot gerettet zu werden. Aber keiner flieht übers Meer, weil es private Seenotretter gibt«, oft von GEZ-Aktivisten wie hier Herr Restle. Die Argumentation dahinter spricht, wenn man darüber nachdenkt, den Migranten jedes Vorausdenken und damit Verantwortung ab. Es ist latent rassistisch und es ist falsch.

Es ist eine Frechheit, dass viele linke Aktivisten, aber auch viele einfach nur dumpf vor sich hin Mainstreammedien-Konsumierende anderen unterstellen, ihnen seien die im Meer ertrinkenden Flüchtlinge egal. Das zeugt von einem desaströsen Menschenbild. Das Gegenteil ist der Fall. Die Gegenseite, die nicht gerade bunte Fähnchen schwenkend durch die Straßen demonstriert, überlegt, wie man mit Hilfe vor Ort und der Begegnung auf Augenhöhe diese unnötigen Toten verhindern kann.

Während Schlepper via Facebook die Überfahrt wie Agenturen bewerben (siehe z.B. welt.de, 25.5.2017), während Migranten via Social Media ihre Papiere handeln (siehe z.B. spiegel.de, 17.4.2018) oder ihre Zukunft sorgfältig planen (wie die Flüchtlinge, deren Tochter noch in Syrien zu Ende studieren wird, sueddeutsche.de, 6.7.2018), während also die Migration nach Europa und Deutschland wie eine eigene Industrie organisiert wird, tun Aktivisten so, als ob die armen Fremden dumm und blauäugig sich unwissend ins Wasser stürzen, ernsthaft denkend, man könnte auf einem kleinen Schlauchboot weiter gelangen als bis zum NGO-Boot, das vor der Küste wartet, um die Migranten von den Schleppern zu übernehmen.

Ich halte nichts von der Überheblichkeit linker Aktivisten, welche afrikanische Migranten wie Kinder behandeln, als ob diese nicht wüssten, wie Wasser und Wellen funktionieren. Ich halte viel davon, eine Hand auszustrecken, und Menschen zu helfen – ich finde es problematisch, dem Gegenüber zu begegnen, als wäre er ein Kind. Er ist es meist nicht. (Und vielleicht ist er schlauer als du und nutzt deine Überheblichkeit aus!)

Es wird in diesen Tagen viel davon gesprochen, man solle auch die »Fluchtursachen bekämpfen«. Ich fände das eine gute Idee – wenn man ehrlich wäre ob dieser Ursachen!

Hilfsorganisationen – und zwar nicht erst die dubiosen Fährdienst-NGOs – verkaufen ihre Dienste an Spender mit Hilfe von Fotos von kleinen Kindern mit großen Augen. Es scheint sich insgesamt eingeschlichen zu haben, die zu Helfenden als Kinder zu betrachten. Es führt nirgends hin.

Ich plädiere für Klarheit. Ich bin dafür, zur Verantwortung aufzurufen. Die Safe-Space-Generation wird neu lernen müssen, was Verantwortung bedeutet – dazu gehört eben auch Verantwortung für das eigene seelische Kostüm!

Ich plädiere auch dafür, uns ehrlich zu machen im Verhältnis zu den armen Regionen in der Welt. Man spricht vom »Gespräch auf Augenhöhe« – wir sollten diese Metapher auch ernst nehmen!

Lassen Sie uns Hilfe anbieten, so viel Hilfe wie wir können, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen. Doch, lassen Sie uns darauf bestehen, dass wir es als Erwachsene mit Erwachsenen zu tun haben.

Vielleicht wäre dies die richtige Einstellung zu den Krisenregionen in Afrika: Wir helfen gern, so gut und so viel wie wir können, und so, wie wir es für klug halten, doch die Verantwortung für Ihr Schicksal, die tragen Sie noch immer selbst.

Oder, anders: Hilf deinem Nächsten, doch mach ihn nicht zum Kind.

Weiterschreiben, Wegner!

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