Ich schrieb vor acht Jahren, als Kommentar zum wahren Unwort des noch immer jungen Jahrhunderts, »wir schaffen das«:
Wir sollen schaffen, aber wir wissen nicht, wer wir sind. Die merkelsche Pflichtrepublik wird scheitern. Sie scheitert bereits. Es ist mehr als Randnotiz, dass Merkel die Ankündigung ihrer nächsten Kandidatur weit nach 2017 verschoben hat. (Essay vom 28.8.2016)
Ein Land muss mehr als ein Pflichtenkatalog sein, so schrieb ich damals, vor acht Jahren, und der Essay hieß: »Merkel – ihr Erbe wird ein Land ohne Verantwortungsgefühl sein«.
Meine Argumentation war (und bleibt) im Kern, dass ein Land, dessen Identität von Regierung und Propaganda systematisch ausgehöhlt wird und also immer weniger eigene Identität besitzt (»ein Deutschland, das nicht Deutschland sein darf«), kein Gefühl der Verantwortung in seinen Bürgern wecken kann. Vom »Zurückerobern« sprach ich, und dass wir bald »Deutschland neu definieren« müssen.
Heute, acht Jahre später, müssen wir feststellen: Nein, Deutschland hat sich nicht »neu definiert«. Deutschland ist und bleibt einig Merkelland – jetzt neu mit extra tollpatschigen Clowns. Und Deutschland wurde wahrlich nicht »zurückerobert«. Sicher, es existieren Bürger, die sich (aus eigener Initiative!) für Deutschland verantwortlich fühlen – Regierung und Propaganda bekämpfen sie im Rahmen des »Kampfes gegen Rechts«.
Wir sind wie einer, der sich verlaufen hat, und der das auch weiß, doch um anzuhalten und die Richtung zu ändern, dafür fehlt ihm die Willenskraft. Das Verantwortungsgefühl fehlt, das bleibt richtig, doch es fehlt mehr.
Wenn dir Tassen im Schrank fehlen, kann es durchaus sein, dass dir auch noch andere Utensilien abhandenkamen.
Jetzt mit Ticker
In den Nachrichten lesen wir seit Wochen und Monaten nun von den wirtschaftlichen Problemen des Volkswagen-Konzerns. Diese Woche erst, im Essay von der Heldenmontage, schrieben wir über Pläne, drei Volkswagenwerke in Deutschland zu schließen. Bei focus.de, 31.10.2024 haben sie einen Volkswagen-Krisenticker eingerichtet.
»Moralisten verlassen Moralistan«, so schrieb ich im März dieses Jahres über Volkswagen. Damals ging es »nur« darum, dass Volkswagen zunächst große, sehr moralisch durchtränkte Pläne zum Bau einer neuen E-Auto-Fabrik verkündet hatte. Und dann, wegen »Wettbewerbsdruck«, änderte man seine Absichten. Man würde das neue Werk nun doch in China bauen. In China aber – wollen wir wetten? – wird Volkswagen weit weniger moralisch auftreten.
Überhaupt, die berücksichtigte Volkswagen-Moral – man seufzt. Einst von den Nazis gegründet (also den »richtigen« Nazis, nicht im Sinne von »Abweichler«, wie das Wort heute verwendet wird), fällt Volkswagen in den letzten Jahren vor allem durch lächerliche Propaganda auf: Pro-Regierung-, Pro-Woke- und Anti-Opposition. Wenn Deutschland wieder gleichgeschaltet wäre, wie anders würde Volkswagen sich verhalten, als man es in den letzten Jahren tut? Der Beispiele sind so viele; für jetzt nur ein Essay aus dem Jahr 2019: »Keine Volkswagen-Sonderkonditionen für die AfD – ziemlich zynisches Marketing«.
Wenn westliche Konzerne sich extra moralisch geben, hat es einen von zwei Gründen, oft beide. Vielleicht wollen sie andere unschöne Meldungen übertönen. Oder sie wollen sich an Politiker ranschmeißen – um Fördergelder und staatliche Aufträge abzugreifen oder auch mal Genehmigungen zu erhalten, die ihnen einen Wettbewerbsvorteil sichern (wobei »Wettbewerb« spätestens dann das falsche Wort ist).
Wo es weniger irrsinnig ist
Das Traurige (weil »tragisch« so abgegriffen ist) an der Volkswagen-Misere ist ja, dass – wie so vieles in Deutschland – die Ursachen so vorhersehbar und offensichtlich sind. Volkswagen wird, so höre ich, von internen Machthierarchien gelähmt. Volkswagen produziert an Markt und Menschen vorbei. Volkswagen produziert in einem extrem teuren Land, und konkurriert mit Autos aus Ländern mit weniger irrsinniger Energiepolitik und Abgabenlast.
Vor allem aber: Volkswagen wurde auf Visionen gebaut. Wolfsburg wurde 1938 gegründet und hieß »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben«. »KdF« bedeutet »Kraft durch Freude«, ein Nazi-Programm und -Slogan. Nein, ich verharmlose nicht das NS-Unrecht, wenn ich sachlich feststelle, dass »Kraft durch Freude« rein für sich genommen eine starke Vision ist. Menschen sind kräftiger, wenn sie Zeit mit Sport und Ausflügen verbringen. Die KdF-Vision war so stark, dass Volkswagen-Busse und Käfer zum prototypischen Auto der friedliebenden Hippies wurden.
Und schon der Name: »Volkswagen« – ein Auto für alle. Die Vision der Freiheit und Selbstbestimmung, die ein zuverlässiges und doch bezahlbares Auto verleiht. Die technische Vision, die einst Volkswagen anleitete, braucht eine sehr konkrete technische Grundlage, die perfekt koordinierte Zusammenarbeit von Ingenieuren, Marketern, den vielen Arbeitern am Fließband – und inzwischen auch Robotern. Und damit diese arbeiten können, braucht es eine komplexe, funktionierende Infrastruktur.
Doch heute verliert Deutschland all das. Die Infrastruktur, die Ingenieure, motivierte Arbeiter, doch vor allem die Vision.
Mut und Wille (fehlen)
In Deutschland sagt man, dass wer Visionen hat, zum Arzt gehen sollte. Es ist ein unkluger, als Nation sogar suizidaler Satz.
Deutschland wird ein Land ohne Verantwortungsgefühl sein, so sagte ich 2016, und leider behielt ich recht. Doch Verantwortung ist nicht die einzige Art von Geschirr, die im deutschen Schrank fehlen. Es fehlt, unter anderem, auch der Mut und Wille zur Vision. Eine Vision davon, wie eine bessere Welt aussehen kann – und welche Produkte es dafür braucht.
Mit »bessere Welt« meinen wir eine Welt, in welcher die Menschen klüger werden und wirklich gerne leben. »Moral« im woken Sinne mag in Talkshows und Sonntagsreden gut ankommen, doch es ist keine für die Konzeption von verkäuflichen Automobilen taugliche Vision.
Einzelner, mit Vision
Wer Visionen hat, der sollte ein Unternehmen gründen (in einem Land, in dem sich das lohnt). Und wer keine Visionen hat, der sollte denen, die sie haben, praktisch helfen ihre Visionen zur Realität werden zu lassen (und dazu gehört, die Visionen realistisch, aber voller aktiver Hoffnung zu prüfen).
Volkswagen stand für Deutschland, und bittererweise tut es das weiter und wieder. Ein Deutscher zu sein, ja: ein Mensch zu sein, der mehr als ein Roboter mit Verdauungsapparat ist, muss heute bisweilen bedeuten, auf produktive Art das Gegenteil von Volkswagen und damit das Gegenteil von Deutschland zu sein.
Als Einzelner. Mit Vision.
»Wen soll ich senden?«, wird Jesaja gefragt (Kap. 6, Vers 8), in einer Vision, und: »Wer will unser Bote sein?«
Jesaja antwortet: »Hier bin ich, sende mich!«
Jesaja hätte auch formulieren können: »Ich übernehme Verantwortung.«