Wenn du heute jung bist, sei dir meines Mitgefühls und meiner ratlosen Sorge sicher.
Solltest du aber in diesen trüben Tagen darauf bestehen, nicht nur jung sein, sondern dazu auch noch einen Beruf zu suchen, dann empfehle ich dir: Werde Prophetenbeschimpfer!
Ja, die dummen (und also oft auch: armen) Schweine zu beschimpfen, welche sich nicht hemmen können, die Zukunft vorherzusagen, das ist ein Beruf mit Zukunft. (Wenn auch mit düsterer Vergangenheit und einer recht blöden Gegenwart.)
Ein Patient kommt zum Arzt mit einer Krankheit. Beim Arzt aber entwickelt er, so stellt der Arzt fest, zwei weitere Krankheiten. Und so geht der, der mit einer Krankheiten in die Praxis kam, mit drei Krankheiten wieder hinaus. Du aber, der Prophetenbeschimpfer, du bist der Arzt des Propheten.
Beschimpfe den Propheten das erste Mal, wenn er seine Prophezeiung kundtut. Was maßt der Irre sich an, mit provokanten Worten unsere Gewissheiten zu stören! Hass ist es, was er versprüht. Hetze ist es, die er in die Seelen des Volkes streut!
Und dann, das zweite Mal, beschimpfe den Propheten, wenn seine Prophezeiung wahr wird. Beschimpfe ihn nicht bloß – unterstelle ihm böse Freude.
Der Prophet profitiert doch davon, dass eintritt, was er vorhersagte – so beschimpfst du ihn. Wer profitiert, der freut sich doch über die Möglichkeit des Profits. Was für ein Unmensch muss das aber sein, der sich über so böse Ereignisse freut! (Hinweis: Es stärkt dein Argument, dass tatsächlich immer wieder falsche Propheten erst Angst schüren und dagegen sogleich ein Vademecum verscherbeln. Bisweilen steht Prophet gegen Prophet – und den Hörern schwirrt der Kopf.)
Und dann, wenn es vorüber ist, beschimpfst du den Propheten gleich noch einmal, ein drittes Mal – im Rückblick.
»Prophet«, so schimpfst du, »warum hast du nicht lauter gewarnt? Warum warst du nicht deutlicher?«
Frage das Volk, ob es des Volkes Schuld ist, dass sie nicht auf den Propheten hörten. Natürlich nicht! Wir sind das Volk, und unsere Stimme ist Gottes Stimme.
»Warum warst du so zaghaft mit deiner Prophezeiung?«, so tadelt das Volk den Propheten. »Warum war dein Rücken nicht gerader, als wir dich verhöhnten und dein Leben bedrohten? Deine Schuld ist es, dass wir nicht auf dich hörten. Und dann die falschen Satzzeichen in deinen Prophezeiungen … wie sollte man dich ernst nehmen?«
Ja, der Beruf des Prophetenbeschimpfers ist befriedigend und – diese »Prophezeiung« sei riskiert – wird auch in Zukunft weiter gefragt sein. Der Abgrund ist sichtbar. Die ersten sind bereits hineingefallen, und man hört das Schreien vom Abgrund her – also steht reichlich Arbeit an, all die Propheten zu beschimpfen, die vor ebendiesem Abgrund warnen.
Wer in Kampf und Krieg zieht, ob auf dem Schlachtfeld oder auf dem Schachbrett, der tut gut daran, seinen Feind zu verstehen.
Was also motiviert den Propheten, sich beschimpfen zu lassen, dreimal, und seine Prophezeiung dennoch unablässig zu verkünden?
Ich meine, es war Nietzsche, der Propheten mit den Gänsen auf dem römischen Kapitol verglich, den heiligen Tieren der Juno.
Wenn Gefahr droht, schnattern die Gänse, laufen umher und schlagen mit den Flügeln. Vor allem aber schnattern sie laut, sodass jeder sie hört.
Warum aber schnattern die Gänse? Man sagt, dass die Gänse die Menschen vor Kelten und anderen Katastrophen warnen wollen.
Ich bin aber recht sicher, dass in keiner einzigen Gans sich je eine Absicht manifestierte, die in den Satz zu bringen wäre: »Ich spüre eine Gefahr nahen, und ich will die Menschen warnen.«
Tatsächlich ist es den Gänsen angeboren, in dieser oder jener Konstellation der Welt laut zu schnattern. Die Gänse schnattern aus dem gleichen Grund, warum Propheten prophezeien und die Sterne im Nachthimmeln leuchten: Es ist ihre Natur.
Solltest du in diesen Tagen tatsächlich jung sein, und solltest du einen einträglichen Beruf suchen, dann wäre Prophetenbeschimpfer das Richtige. Der Staat, so höre ich, zahlt Leuten viel Geld, die die Propheten beschimpfen, welche vor dem Staat warnen.
Doch solltest du, gleich welchen Alters, heute die nächsten Jahre deines weiteren Lebens skizzieren, wäre es dennoch klug, darauf zu hören, was die Gänse so schnattern.
(Ein Gedanke noch: Mancher Prophetenbeschimpfer beschimpft die Propheten bloß, damit die anderen Leute nicht auf die Propheten hören. Er selbst hat längst, um die metaphorischen Tiere zu wechseln, seine Schäfchen ins Trockene gebracht.)