14.11.2024

Was Deutschland ist (und was »ist« bedeutet)

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild: »Demokratie, betet an«
Politiker werden sagen, dass Deutschland natürlich ein Rechtsstaat und eine Demokratie ist. Doch ähnlich wie Bill Clinton muss man fragen, was das Wort »ist« hier bedeutet. »Ist« man Rechtsstaat, wenn man sich wie im Totalitarismus aufführt?
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Rechtsstaat, welch wichtiges, gewichtiges Wort! Die Frage ist: Ist Deutschland ein solcher Rechtsstaat?

Die Antwort auf diese Frage könnte mit dem philosophischen Vermächtnis des Bill Clinton beantwortet werden: »Es kommt darauf an, was die Bedeutung des Wortes ›ist‹ ist.«

Wenn wir die andauernden Taten und eine konkrete aktuelle Äußerung von Nancy Faeser betrachten, könnten wir schon länger (und heute aufs Neue!) versucht sein, die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands infrage zu stellen – lasst mich erklären!

Dieser Essay legt die logisch-philosophischen Prolegomena zu einem weiteren aktuellen Text, nämlich »Hausdurchsuchung als Strafe für Witz-Weiterleitung«.

A ist B

Gefragt nach der Bedeutung von »ist« möchte man antworten: »das weiß doch jeder«, und: »ist doch klar«. Doch soll man die Bedeutung konkret ausformulieren, tut man sich plötzlich schwer.

»A ist ein B« kann bedeuten, dass das, was wir mit »A« benennen, bestimmte Eigenschaften besitzt, die zu besitzen in üblicher Verwendung des Begriffs »B« zumindest zu erwarten oder sogar notwendig ist.

Wenn ich sage, »Rex ist ein Hund«, dann bezeichne ich damit bestimmte Eigenschaften des Objektes Rex. Ja, das Lesen oder Hören des Satzes »Rex ist ein Hund« aktiviert in eurem Kopf bestimmte Bilder (»Prototypen«) – ihr stellt euch genau jetzt den Hund Rex vor. Die Zuverlässigkeit von Begriffen ist zwingend notwendig, um als Gesellschaft kooperieren zu können (siehe Turmbau zu Babel).

Manchmal aber wird die Bedeutung von Wörtern absichtlich ausgetauscht oder modifiziert. Auch die Bedeutung des »ist«, der zur dritten Person Singular konjugierten Form von »sein« (mit kleinem S, aber dem Sein mit großen S durchaus verwandt).

In sehr speziellen Kontexten aber kann das Wort »ist« sich von den Eigenschaften lösen und metaphysische Qualitäten meinen. Ich will hier drei dieser Kontexte betrachten, nämlich erstens Spiele, zweitens religiöse Kulte und drittens totalitäre Gesellschaften.

Das ist ein Spiel

Im Spiel können wir sagen, dass ich ein Cowboy bin, und du ein Indianer – via Übereinkunft, bis zum Ende des Spiels.

Diese Zuschreibung ähnelt dem, was Karl Popper »metaphysisch« nennt. Es ist nicht überprüfbar, ob du wirklich ein Cowboy bist, doch das prüfen zu wollen würde ohnehin den Zweck verfehlen.

Du »bist« im Spiel ein Indianer, weil es via Übereinkunft und/oder Bestimmung durch den Spielleiter so bestimmt ist.

Trotz der quasi-metaphysischen Zuschreibung von Eigenschaften beim Spiel, werden häufig, als Gedächtnisstütze und/oder zur emotionalen Vertiefung, konkrete Symbole der tatsächlichen Eigenschaft eingesetzt, etwa Cowboyhut, Federschmuck oder Tomahawk.

Das Spiel aber zeichnet sich auch dadurch aus, dass den Teilnehmern zu jeder Zeit bewusst ist – zumindest im Hinterkopf –, dass es sich um ein »Als-ob« handelt.

Ein Mitspieler kann schon mal »vergessen«, dass das Spielgeschehen uneigentlich ist, was amüsante, irritierende oder auch mal gefährliche Konsequenzen hat.

In anderen Kontexten jedoch verhält es sich anders mit der Uneigentlichkeit. Da kann es lebensgefährlich sein, festzustellen, dass die Bedeutung eines »metaphysischen Ist« stets ein Spiel, eine Verstellung und ein Als-ob ist.

Das ist Religion

Religiöse Kulte teilen mit dem Spiel mit, dass sie von metaphysischem Sein reden. Die Verwendung des Wortes »ist« in der Religion ist metaphysisch. Die Wahrmacher religiöser Aussagen entziehen sich aller »weltlichen« Überprüfung – man soll es »glauben«. (Nicht selten entziehen sich religiöse Aussagen selbstbewusst sogar der Überprüfung durch simple Logik der Begriffe, siehe Trinität oder Theodizee.)

Ein berühmtes Beispiel fürs metaphysische Ist finden wir in der Debatte um die Transsubstantiation. Es geht um Matthäus 26:26 und die Frage, was Jesus hier mit »ist« meint: »Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib.«

Die Verwendung des Wortes »ist« in religiösen Kulten übernimmt vom Spiel, dass viele der »Mitspieler« sich praktisch im Modus eines »Als-ob« verhalten – und zwar konsequent! Auch und gerade der Hostienbäcker, der doch Mehl und Wasser selbst angemischt hat (wie etwa die Karmelitinnen in Pottenbrunn), glaubt, dass das trockene Gebäckstück (nach wichtigen Worten und Gesten) eben Jesu Leib ist.

Spiel und Religion gleichen sich darin, dass das Wort »ist« Wahrheiten bezeichnen kann, die nicht überprüfbar (und damit metaphysisch) sind, und die Gültigkeit solcher Zuschreibung geschieht durch Autorität, tradierte Regelwerke und Übereinkunft.

Ein Verderber ist im Spiele wie auch in der Religion einer, der die jeweiligen Regelwerke ignoriert und stattdessen nach den Regeln der »Realität« handelt. (Und beide, Religion wie Spiel, lenken durch ihre Uneigentlichkeit so schön von den eigentlichen Problemen ab, was sie zum profitablen Geschäft für ihre Betreiber und nützlichem Freund der Mächtigen macht.)

Der inhaltliche Unterschied zwischen Religion und Spiel mag sein, dass das Spiel nur »Spaß macht«, während die Religion »Sinn stiften« soll. Der für die jeweilige Anwendung (und damit lokale Bedeutung) von »ist« entscheidende logische Unterschied zwischen Religion und Spiel liegt aber darin, dass beim Spiel allen Teilnehmern bewusst sein sollte, dass es »nur ein Spiel« ist, dass sie wieder in die »Realität« zurückkehren müssen.

Bei der Religion dagegen soll das Uneigentliche in die eigentliche Welt getragen werden. In seinem »Herzen« soll der Gläubige im Uneigentlichen bleiben, soll zwar »in dieser Welt«, aber nicht »von dieser Welt« sein (vergleiche etwa Johannes 15:17f).

Das ist Politik

Totalitäre Gesellschaften teilen mit Spiel und Religion, dass das Wort und Konzept »ist« metaphysisch ist. Doch nur mit der Religion teilt der totalitäre Staat, dass zwingend verlangt wird, das metaphysische Ist dem konkreten Ist gleichzustellen.

(Als Scherzlein dazu, ein Nachtgebet aus dem Dritten Reich: »Lieber Gott, mach mich blind, dass ich den Führer arisch find!« – Erfolgreiche Teilnahme am Totalitarismus fordert dem Bürger viel Als-ob und metaphysisches »ist« ab.)

Der »gewöhnliche« Rechtsstaat ordnet das Zusammenleben der Menschen. Der totalitäre Staat aber maßt sich darüber hinaus an, in das Denken der Menschen einzugreifen; regelmäßig dadurch, dass er Wörtern neue, oft gegensätzliche und/oder metaphysische Bedeutung gibt.

Von Orwell kennen wir die Umdeutungen »Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke«. (Uns fällt natürlich zuerst die Umdeutung von Wörtern zum Gegenteil der bisherigen Deutung auf, doch das dreimal wiederholte Wort »ist« leistet hier die Arbeit!)

Aus dem heutigen deutschen Propagandastaat kennen wir etwa die Umdeutung von den politischen Positionen Links, Mitte und Rechts. Wir erleben die Neubelegung von zentralen Begriffen wie Demokratie.

Die alte Bedeutung von Demokratie, also dass das Volk in freier Wahl sich seine Vertreter wählt, und so weiter, wird in der demagogischen Praxis durch »Macht der Etablierten« ersetzt.

Und wer Demokratie »alter Schule« will (also quasi: vor Merkel), der wird als rechts und damit unmoralisch abgetan.

Im Totalitarismus wird der Bürger früher oder später einen Widerspruch zwischen der erlebten Realität und der konstruierten Propaganda-Wahrheit bemerken (oder zumindest spüren). Das Leiden an diesem Widerspruch ist die kognitive Dissonanz.

Der wohldressierte Bürger im Totalitarismus hat gelernt, die kognitive Dissonanz zum großen Teil zu unterdrücken, und den Rest seines Leidensdrucks auf jene Personen und Gruppen umzulenken, die auf den Widerspruch hinweisen und die dadurch drohende Gefahr abwehren wollten. (Als Beispiel: In Deutschland ist es heute Alltag, dass nach einer Tat durch junge Männer gewisser Bevölkerungsgruppen regelmäßig jene Politiker von der Propaganda angegangen werden, die solche Taten verhindern wollten – statt die, die für diese Taten politisch verantwortlich sind.)

Wie jede Dehnbarkeit muss auch die kognitive Dissonanz regelmäßig trainiert werden, um geschmeidig zu bleiben. Dazu erlassen totalitäre Gesellschaften absichtlich absurde, willkürlich und offen widersinnige Gesetze wie etwa, dass Männer, wenn sie ein Kleid anziehen, Frauen zu nennen seien – und wer sich nicht daran hält, wird bestraft.

Der psychologische Zweck solcher Absurditäten besteht darin, die Bedeutung des Wortes »ist« aufzuweichen. Der Bürger soll sich darin üben, »Zwei plus Zwei ist Fünf« zu sagen, bis die alte Bedeutung von »ist« aus seinem Gehirn weggeätzt wurde.

Exkommunikation oder Hausdurchsuchung

Wenn in der aufgeklärten Demokratie ein Satz mit »ist« verwendet wird, dann sollte ein im bekannten und üblichen Sinne verwendeter Kategorienbegriff folgen, mit einem bewährten und bekannten Eigenschaftskatalog. Der Totalitarismus dagegen trainiert seine Bürger, auch im Alltag ein metaphysisches Ist zu verwenden, wenn der Staat das so vorschreibt.

Die Oblate ist der Gottessohn und ein Mann im Kleid ist eine Frau und Herr Habeck ist ein ehrenwerter Mann. Warum? Weil die Autoritäten das so sagten. Und weil das zu denken (oder zumindest öffentlich zu tun, als ob) streng verpflichtend ist. Und wer das anders sieht, der wird mit bestraft, mit Exkommunikation, 1.000 Euro Strafe oder einer Hausdurchsuchung.

Mit dem Schlagwort Hausdurchsuchung aber, liebe Leser, wären wir bei gewissen aktuellen Ereignissen, die wir im Essay »Hausdurchsuchung als Strafe für Witz-Weiterleitung« behandeln.

Weiterschreiben, Wegner!

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