16.04.2025

Das Publikum applaudierte (ich weiß nicht, wieso)

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Bild: »Applaus! (Hust)«
Du besuchst ein Konzert. Orchester, 2 Tenöre, 1 Sopran. Alles wunderbar, großer Genuss. Nach der Pause aber erfährst du, dass die Sopranistin eine Erkältung auskuriert. Ärgerst du dich auch, dass du den ersten Teil zu Unrecht ganz hervorragend fandest?
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

Kaum hatte der Regen aufgehört, kamen die Spaziergänger wieder aus den Seitenstraßen und Miethausfluren und liefen hin und her, zielstrebig nirgendwohin, wie Tretboote auf dem Parksee, nur dass sie es eben auf dem trocknenden Asphalt taten.

Auch ich war unterwegs, mitten unter den Spaziergängern, war aber doch keiner von ihnen. (Wenn sich einer darauf versteht, mitten in einer Gruppe, doch kein Teil davon zu sein, so ist das überhaupt eine erstrebenswerte Fähigkeit und damit Tugend, gerade wenn sie auch zur Gewohnheit wird.)

Ich war unterwegs zu einem Konzert. Debussy. Zwei Tenöre, ein Sopran und eine Pause.

Nach der Pause wurde mehrsprachig durchgesagt, dass die Sopranistin gerade erst eine virale Erkältung durchgemacht hatte. Das Publikum applaudierte, ich weiß nicht, wieso. (Klatschten die, weil die Sopranistin so erfolgreich Kamillentee getrunken hatte? Weil sie noch lädiert war und dennoch an- und auftrat?)

Ich aber war verärgert über diese Mitteilung. Ich hatte den Gesang im ersten Teil für makellos gehalten. Ja, ich hatte ihn sehr genossen, doch, wie ich nun erfuhr, zu Unrecht!

Dazu kam, zuvorlaufend: Es war nicht meine erste Verärgerung an dem Tag, der doch so harmonisch hätte werden können – lasst mich erklären!

Ich erwische mich in letzter Zeit beunruhigend oft dabei, dass ich über bestimmte Verhaltensweisen anderer Leute den Kopf schüttle, leise aufstöhne oder sogar lache (die riskanteste der Reaktionen, wie ich lernte) – und nur zwei Sekunden später geht mir auf, dass ich selbst ebensolche Verhaltensweisen an den Tag lege.

Vor dem Konzert lief ich nämlich unfreiwillig einige Zeit neben einem prototypischen Spaziergänger-Paar her.

Ich muss euch nur einen Aspekt dieses Paars beschreiben, dann könnt ihr den Rest der Szene samt beider Personen zu Ende zeichnen, und zwar: Er erklärt ihr die Welt, mit der Autorität eines Realschullehrers. Minutenlang.

»Was haben die beiden für eine Dynamik?«, so frage ich mich. Ich möchte lachen und schnaufen.

Ich war kurz davor, den Mann auf sein Verhalten hinzuweisen, doch zum Glück habe ich mir einen Rest an sozialem Überlebenswillen bewahrt.

Vor allem aber war ich verärgert. Und nicht nur etwas verärgert über den Hobby-Realschullehrer. Ich war verärgert über mich, der ich doch erkenne, diesem Belehrenden immer wieder ähnlich zu sein.

Bedeutet solche Einsicht, dass ich reifer werde? Erwachsen und weise?

Es wäre an der Zeit!

Vielleicht bedeutet es bloß, dass ich inzwischen sogar mir selbst zu nervig bin.

Oder ich werde mit dem Alter reizbarer? Derart reizbar, dass ich mir selbst auf die Nerven gehe? Logisch unmöglich ist das nicht.

Nun, das Konzert würde bald beginnen, das besänftigte mich zunächst. Und in der ersten Hälfte war der Sopran wirklich gut, wie ihr ja schon wisst.

Ja, ich hatte mich unterwegs doppelt geärgert: Ich hatte mich über den spazierenden Deppen geärgert. Und über diesen zum Konzert eilenden Deppen.

Vor der Konzerthalle standen übrigens die Trucks einer Filmproduktion. In der Stadt wurde gerade der neue Film von Johnny Depp gedreht. Es ging um einen Mann, der am Tag trinkt – passend.

Was ist eigentlich problematischer? Einer, der am Tag trinkt, oder einer, der ständig meint, der Welt ebendiese erklären zu müssen, in der Hoffnung, diese möge zur Vernunft kommen? Hilft das eine womöglich gegen die Unmöglichkeit des anderen?

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Texte (inzwischen 2,346 Essays) und Angebote wie Freie Denker sind nur mit Ihrer regelmäßigen Unterstützung möglich.

Jahresbeitrag(entspr. 1,50 € pro Woche) 78€

Zufälliger Essay

Auf /liste/ finden Sie alle bisherigen Essays – oder klicken Sie hier, um einen zufälligen Essay zu lesen.

E-Mail-Abo

Erfahren Sie gratis, wenn es ein neues Video und/oder einen neuen Essay gibt – hier klicken für E–Mail-Abo.

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)