01.02.2019

Wie soll man denken bei all dem Lärm?

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild von Michael Discenza
Broder trifft auf AfD und die »Guten« drehen durch, derweil brennen Politiker-Autos. Im Namen der Moral werden Grundgesetz und freie Wahlen angegriffen. Bei all dem wird so viel Lärm produziert, dass niemand mehr zum Nachdenken kommt – ist das gar gewollt?
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Stellen Sie sich vor, Sie würden in einer lauten Kneipe sitzen, und dort, mitten im Lärm, würden Sie versuchen, Mathe-Aufgaben zu lösen!

Es ist wirklich, wirklich laut in dieser Kneipe. Irgendwer streitet sich über den Politik-Aufreger des Tages, und man brüllt diesen und jenen Standpunkt herum. Einige Gäste sind bereits angetrunken, und sie torkeln herum, suchen Streit – wie um alles in der Welt sollen Sie da zum Denken kommen?

Ein Tohuwabohu, doch Sie sitzen tapfer an Ihrem Tischlein, vor Ihnen das Blatt mit den Matheaufgaben, ein Kaffee und ein spitzer Bleistift.

Ein Straßenverkäufer kommt herein, und er will allen Gästen irgendeinen Krimskrams andrehen, und auch er ist laut und er stößt an alle Tische. Sektenjünger kommen herein und sie singen ihre Mantras, und sie wollen alle bekehren. Was für ein Lärm! Doch, es hat seinen Grund – ein Kneipier verdient mehr am lauten Spaß als am stillen Nachdenken, seine Motivation, die Kneipe leise zu halten, ist eher gering.

Es ist laut, und es ist heiß, und alle brüllen, und alle wollen was von allen, und jeder will jeden anderen zu seiner ganz eigenen Beschränkung bekehren, und man rempelt und man brüllt auch Sie an, doch Sie versuchen mit all Ihrer Kraft, sich auf Ihre Matheaufgaben zu konzentrieren. In alldem Lärm ist es so unendlich schwer, seinen Geist beisammen zu halten. – So ungefähr fühlt es sich heute an, wenn man die Nachrichten liest oder mit Menschen spricht, die von Journalisten indoktriniert wurden, oder wenn man auch nur den ersten üblen Fehler begeht, einen Fernseher zu besitzen, und dann den zweiten üblen Fehler, diesen auch anzuschalten.

Regeln für Priester

Henryk Broder hat es gewagt, mit einer demokratisch gewählten Partei zu sprechen, und wenn wir extra »demokratisch gewählt« dazusagen, und wenn wir auch noch betonen, dass mit jener Partei – oh Frevel! – gesprochen wurde, dann müssen wir den Namen nicht dazusagen – die Kommunisten werden es schon nicht sein, die sind etabliert.

Im Dritten Buch Mose sind Regeln für Priester und den Gottesdienst gelistet. Das Buch kennen wir auch als Levitikus, und wenn man jemandem im Detail und in aller Deutlichkeit erklärt, was Sache ist und was Masse, wenn man ihn mit dem Listen höherer Regeln gewissermaßen elektrisiert, dann wird auch gesagt, man habe ihm die Leviten gelesen – und genau das hat Henryk Broder jüngst im Bundestag jener Partei getan (siehe achgut.com, 30.1.2019) – und was gab das für ein Hallo!

Die parteiübergreifende deutsche Linke leidet, seit Jahrzehnten schon, an einem Phänomen namens »Judenknacks« (nachzulesen etwas bei Dan Diner, welt.de, 28.3.2013); es ist genau das, wonach es klingt, und leiden scheint ungenau, denn sie scheinen es dann doch zu genießen – würden sie sich sonst darin suhlen?

Eine andere, davon in Materien und Ursache getrennte Irrationalität erleben wir, wenn es um die AfD geht – nennen wir es »AfD-Alarm«.

Der »Judenknacks« führt etwa dazu, dass Linke – ob am Holocaustgedenktag oder jedem anderen Tag – den Opfern von damals und deren Kindern erklären, was jene aus dem Unrecht gelernt zu haben haben.

Als Broder vor der AfD auftrat – und von deren Chefin fürs Foto umarmt wurde, recht passiv dastehend – überschnitten sich wohl bei manchem Haltungsbürgern der Judenknacks und der AfD-Alarm, was deren System heißlaufen ließ, wie ein Roboter im Film, der mit den Fingern in die Steckdose geriet, und das Ergebnis waren Äußerungen wie »Hofjude mit neuer Dienstherrin« eines FDP-Politikers (siehe etwa bild.de, 31.1.2019), die dann später zurückgenommen und, ganz wichtig, in Kontext gestellt wurden. (Solch offenen Antisemitismus hätte man eher bei der SPD vermutet, siehe etwa Karl Lauterbachs Geschwafel von »Alibijuden«.)

Ja, sie drehen durch, sie sind laut und sie selbst nicht mehr immer Herr ihrer Worte und ihrer Logik sowieso nicht, doch diese Kurzschließenden erzeugen Lärm. – So! Viel! Lärm! – Und wir sind wie einer, der in der knallvollen Kneipe sitzt, umgeben von Lärm und Aufregung, und verzweifelt versucht, sich auf Mathe-Aufgaben zu konzentrieren.

Man müsste es nachrechnen!

In Deutschland wirkt allein die Möglichkeit einer vernunftgeleiteten Debatte über Energie und Windkraft irreal, und das länger schon – die Vernunft wurde niedergebrüllt, und das Nachrechnen ist des Rechtsseins verdächtig – doch nun stellt man fest, dass Windkraft nicht nur Wald und Vögel, sondern auch noch den Immobilienwert ramponiert (siehe welt.de, 31.1.2019) – stellen Sie sich vor, Sie haben ein Haus gebaut, und dann baut man links einen Vogelhäcksler, rechts ein Heim für junge Männer, und dann macht man Ihr Auto illegal, und wenn Sie nicht derart enteignet werden wollen, dann brüllt man Sie nieder. – Wie kann man einer solchen Situation entkommen? Man müsste es nachrechnen! Wie aber rechnen, bei all dem Lärm?

Währenddessen

Es ist viel Lärm, und manche scheinen geradezu mit großer Mühe und unbestreitbar Lärm zu produzieren – oder sich darin zumindest einzurichten – um fast unbeachtet ihre Geschäftchen zu treiben, nicht immer zum Wohl der Demokratie.

Im GEZ-TV wird inzwischen offen das »F(u)ck AFD«-T-Shirt getragen (@torben_braga, 30.1.2019 – man spricht vom »Missverständnis« und »Neutralität« – orwellsche Gegenteilsprache, siehe @MDRPresse, 31.1.2019). Eine ehemalige Honorarkraft der Stiftung jener Ex-Stasi-Mitarbeiterin, die laut Tagesspiegel auch Beiträge für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst hat, steht im Verdacht, das Auto eines AfD-Politikers angezündet zu haben (tagesspiegel.de, 31.1.2019), er wird »Nazi-Experte« genannt. Währenddessen beschließt der Landtag Brandenburg einen offenen Angriff auf das grundgesetzlich verbriefte Prinzip freier Wahlen (siehe z.B. sueddeutsche.de, 22.1.2019). Stell dir vor sie greifen Politiker und das Grundgesetz an, und man bekommt es alles kaum noch mit, wegen all des Lärms.

Kann nett sein

Wie würde man es nun angehen lassen, in der lärmvollen Kneipe seine Mathe-Aufgaben zu lösen? Man könnte es mit Meditation und der Ruhe eines Zen-Mönchs versuchen, und den Lärm ausblenden. Man könnte das Lösen der Mathe-Aufgaben aufgeben und sich dem lärmigen Treiben anschließen. Man könnte die Kneipe verlassen. – Oder man könnte ein paar der Kneipengäste bitten, einem beim Rechnen zu helfen. Doch, vertun wir uns nicht: Einige von denen, welche die Gesellschaft laut und lärmig und aufgeregt halten, haben daran ein Interesse – wer nachdenkt, macht sich nicht nur Freunde.

Eine lustige Kneipe kann nett sein, und es ist wichtig, doch eine Kneipe ist eine Kneipe und eine Gesellschaft ist eine Gesellschaft. Es ist ein Problem – und ein gefährlicher Propaganda-Effekt – wenn der Lärm unser Gehirn frittiert und wir nicht mehr zum Denken kommen.

Ich kenne nicht die Zukunft, wenn ich auch ein paar Vermutungen über die Richtung hege, lediglich in ein oder zwei Details bin ich mir sicher: Es wird besser werden, falls und sobald wir wieder zum Denken kommen – es warten ein paar dringende Mathe-Aufgaben auf uns!

Weiterschreiben, Dushan!

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