Dushan-Wegner

07.11.2021

Vom Zehnmeterbrett

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
Als Jugendliche springen wir vom Zehnmeterbrett, als Mutprobe. Im richtigen Leben springen wir dann wieder, metaphorisch gesprochen, doch bei den Mutproben des erwachsenen Lebens können wir nicht immer sicher sein, dass im Becken auch Wasser ist.
white wood plank on brown stone near cliff during daytime
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In Köln, da liegt ein Stadtteil namens Müngersdorf, und dort haben sie ein Freibad, und in diesem Freibad bin ich, vor etwa drei Jahrzehnten, zum ersten Mal überhaupt von einem Zehnmeterbrett gesprungen. Ich erinnere mich noch immer an jene Momente jugendlichen Mutes!

Ich erinnere mich, wie ich die Treppe hochstieg. Auf der Plattform setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich vorn an der Kante stand.

Ich sinnierte über das kommende Fallen.

Ich sprang.

Während des Fallens spürte ich blanke Panik, aber auch ein Sichabfinden.

»So ist das also«, dachte ich in jener halben Sekunde. In mir ging das vor, was mein elfjähriger Sohn heute in moderner Meme-Sprache ironisch als »contemplating life choices« beschreiben würde – zu Deutsch etwa: »Lebensentscheidungen neu bedenken«.

Zum Glück platschte ich nicht auf den Bauch. Ich teilte die Wasseroberfläche ordentlich mit den Füßen voran, und unter Wasser orientierte ich mich schnell wieder, wo oben ist, und ich schwamm schnell aus dem Sprungbereich und zum Beckenrand.

Ich war nicht stolz, ich war nicht enthusiastisch. Es war mehr ein Gefühl des Abhakens: »So, das wäre dann auch erledigt.«

Heute ist die Welt eine andere. Freibäder auch. Ich sowieso.

Ich frage mich heute etwas, das ich damals, als ich auf dem Turm stand, noch nicht fragte.

Ich frage mich: Warum sprang ich?

Die Frage mag im ersten Moment banal klingen – bis man versucht, sie ernsthaft zu beantworten. Das hat sie aber mit vielen großen Fragen der Philosophie gemeinsam. (Ein Satz wie »Ich weiß, dass das wahr ist«, klingt ja auch simpel, bis man versucht, die Bestandteile »Ich«, »wissen« und »Wahrheit« zu definieren.)

Warum sprang ich?

War es der Druck der Gruppe? Das klänge plausibel, jedoch, ich war zwar an jenem Tag mit Freunden da, für den Sprung hatte ich mich aber abgesetzt. Das wollte ich allein bestehen.

Eine klassische Begründung meiner Motivation wäre auch: Ich sprang vom Zehnmeterbrett, weil die zehn Meter eben da waren. – Wir Mensch bewältigen die Hürden, die sich uns in den Weg stellten, genau weil sie sich uns in den Weg stellten. Jedoch, der Sprungturm hatte sich mir keineswegs »in den Weg gestellt«. Ich hatte diese angsteinflößende Höhe mit Absicht aufgesucht.

Noch einmal die Frage: Warum sprang ich?

Ich vermute, die Motivation meines Sprungs hatte mit jenen Zuständen und Eigenschaften zu tun, die Philosophen gern in nominalisierten Formen des Partizip I beschreiben, des aktiven Partizips im Präsens, welches einen andauernden, meist aktiven Zustand bezeichnet.

Ein Verb, wie »Sein« oder »Springen«, wird zunächst zu einer Art Adjektiv, wie »seiend«, oder »springend«.

Von da aus wird das Wort zum Nomen, wie »Seiender« oder »Springender«. Und wenn man sich die Sprache schon derart untertan macht, dann darf man auch noch eine Negation davor setzen, damit die Worte wirklich auf den Bruchteil eines Millimeters genau das bezeichnen, was wir sagen wollen.

Ein besonders schönes nominalisierte Partizip, philosophisch und poetisch zugleich, finden wir etwa bei Herrn von Goethe, wenn er im Faust, und dort im Vorspiel auf dem Theater, die Lustige Person sagen lässt: »Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.«

Ich war also, damals im Freibad, bis dahin ein Nichtgesprungenseiender – ich wollte aber ein Gesprungenseiender sein. Durch das Springen aus der Höhe ins Wasser würde ich vom Nichtgesprungenseienden zum Gesprungenseienden werden.

Oder, weniger überpräzise formuliert: Ich wollte vor mir kein Feigling sein. Ich wollte einer sein, der sich zu Springen traut. Das Springen war Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst – es gibt einfachere Wege, ins Wasser zu gelangen.

Die Spiele der Jugend, sie sind eben das: Spiele. Ein Spiel, das ist ein Als-Ob, eine Übung.

Der Jugendliche springt vom Zehnmeterbrett, als ob es etwas bedeutete, und das wird die Bedeutung. Die Mutprobe ist eine Übung in der Kunst, sich selbst von einer Wesensart in eine andere zu verwandeln. Kraft seines Willens wechselt der Jugendliche von seinem bisherigen Seinsstatus in einen neuen, hoffentlich höheren.

Es ist eine Übung für das »richtige« Leben. Später findet sich der Mensch dann vor Proben seines Mutes, die nicht mehr als-ob sind.

Die Berufswahl, Gründung einer Familie, für den Unternehmer eine Investition oder das Einstellen von Arbeitskräften – es ist jedes Mal eine Mutprobe. Und wenn wir das Leben wirklich in seinen Möglichkeiten auskosten – oder wenn das Schicksal uns dazu zwingt – dann fühlen sich manche Entscheidungen und notwendige Handlungen sogar weit dramatischer an als ein Sprung ins sichere Schwimmbecken.

Würde ich denn heute noch den Mut aufbringen, tatsächlich aus zehn Metern Höhe ins Wasser zu springen? Man wird ja älter, und man findet sich klüger. Ich weiß heute meine Feigheit als Altersweisheit zu verkleiden, und das mache ich womöglich so gut, dass ich selbst die Feigheit und die Weisheit verwechsle.

Ich habe seitdem ja manchen Sprung gewagt, als Metapher gesprochen, und ich war mir im Moment des Sprunges längst nicht immer sicher, dass das Becken unter mir mit Wasser gefüllt war.

Man wird aber müde, man wird auch des Mutes müde.

Der mutige Sprung in unsichere Tiefe, er hat uns wiederholt auf jeweils höhere Ebenen gehoben – dort aber wurden der Kämpfe nicht weniger, und die neuen Kämpfe sind nicht weniger blutig, im Gegenteil!

Ich sollte, sobald die Saison, das Wetter und der Terminkalender es ermöglichen, mal wieder ins Freibad gehen. Ich sollte mal wieder auf den hohen Turm klettern.

Ich sollte prüfen, ob ich noch immer einer bin, der sich zu springen traut. Philosophisch gefragt: Bin ich noch immer ein Mutig-vom-Zehnmeterbrett-Springender?

Weiterschreiben, Wegner!

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