01.07.2025

Zwei Cafés und ein Zeitfenster

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Papattisserie«
Kinder und Kulturen haben gemeinsam: Das Zeitfenster, innerhalb dessen sich etwas »retten« lässt, schließt sich irgendwann. Für die Verantwortlichen, ob Eltern oder mündige Bürger, stellt sich jeweils die Frage: KANN ich noch etwas tun? Und wenn ja, was?
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Zwei Cafés. Zwei Väter. Jeweils ein Kind. Und zwei sehr unterschiedliche Szenen.

Sichtbar teure Polohemden

Das erste Café: sehr schick, ich wurde eingeladen. Rechteckige Croissants mit Himbeercreme als Füllung, getunkt in weiße Schokolade, mit echten Himbeeren als Dekoration. Herausragend lecker. Ich habe schon andere Desserts gegessen, aber keine besseren.

Und dann kam ein Vater, etwa mein Alter, mit seinem Sohn, etwa in Leos Alter, ins Café. Beide waren in jenem feinen Stil gekleidet, den man »leiser Luxus« nennt. Knielange Hosen in gebügeltem Beige. Leder-Deckschuhe. Sichtbar teure Polohemden.

So weit passte in diesem Bild alles zusammen – bis das Bild innerhalb von Sekunden zerbrach. Oder genauer: Bis es plötzlich zu einem sehr anderen Bild wurde.

Der wohlgekleidete Sohn sagte etwas zu seinem wohlgekleideten Vater. Sagte ich »sagte«? Nein, der Sohn sagte nicht wirklich etwas. Es waren unverständliche Geräusche, etwas zwischen Grunzen und Stöhnen. Wie die Versuche eines Tieres, Sprache zu bilden, aber ohne Sprechapparat.

Als ich hinschaute, merkte ich, dass der Junge die Hände in merkwürdigen Winkeln hielt und damit gestikulierte. Die Geräusche wurden lauter, die Arme mit den in ungewöhnlichem Winkel gehaltenen Händen ruderten immer hektischer.

Da sie beide noch an der Kuchentheke anstanden, deutete ich es so, dass der Junge einen konkreten Wunsch hatte, sich aber schwertat, dies in Worte zu bringen.

Der Vater stand seinem behinderten Sohn gegenüber, hörte ihm zu. Ich will ehrlich sein: Wir, die übrigen Gäste im Café, waren ein wenig gestört, auch wenn niemand sich dies laut auszusprechen wagte.

Nach einer Weile, als der Junge etwas erschöpft wirkte, nahm der Vater ihn einfach in den Arm. Der Vater hielt den hilflosen Sohn fest umarmt, und der Junge beruhigte sich bald.

Ich nehme an, dass sie dann auch zusammen herausfanden, welches Gebäck sich der Junge wünschte.

Irgendetwas! Aber nein.

Das zweite Café: solide Mittelschicht. Uns gegenüber saß ein Vater am Tisch, neben ihm stand ein Kinderwagen.

Im Kinderwagen saß ein Mädchen, etwa drei Jahre alt.

Das Mädchen war angeschnallt. Immer wieder streckte sie ihre Händchen nach ihrem Vater aus. Dabei machte auch sie Geräusche, wenn auch diese sehr »normal« klangen. Ein kleines Mädchen eben, das sich Aufmerksamkeit von seinem Vater wünschte.

Doch was tat der Vater? Der Vater war auf sein Mobiltelefon fixiert. Er scrollte und scrollte und scrollte …

Wenn das Mädchen sich meldete, schob er den Kinderwagen mit einer Hand geistesabwesend hin und her. Oder er gab dem Mädchen ein Fläschchen mit Wasser zu trinken. Ja, Wasser. Dann war das Kind wieder für etwa eine Minute stumm, schaute vor sich hin.

Wenn er dem Kind wenigstens ein Spielzeug gegeben hätte. Oder sogar ein Bilderbuch. Irgendetwas! Aber nein. Er scrollte stumm auf seinem Mobiltelefon, und sein Kind interessierte ihn wenig.

Ich fragte mich: Was wird aus diesem Mädchen werden? Das Kind war, anders als der Junge zuvor, ganz offensichtlich in jeder erkennbaren Hinsicht gesund. In diesem Alter wird geformt, was die Menschen im späteren Leben sein werden. Alle gesunden Instinkte dieses Kindes ließen es Input und Kommunikation von seiner Umgebung einfordern.

Der Vater war auf diese Weise mental abwesend, locker eine halbe Stunde lang, dann verließen wir das Café. Es tat mir sehr um das Mädchen leid. Ich nehme an, sie wird bald nicht mehr um Aufmerksamkeit bitten.

Früher bin ich in solchen Situationen schon mal eingeschritten, habe die Eltern mehr oder weniger sanft auf ihr Tun hingewiesen.

Heute tue ich das nicht mehr.

Ein scrollendes Elternteil aufzufordern, sein Tun zu hinterfragen und zu ändern, würde diesem gleich mehrere geistigen Schritte abverlangen, zu denen diese Person oft nicht (mehr) fähig ist. Eher wird ein Meth-Süchtiger seinem Kind ein ordentliches Frühstück zubereiten, als ein Mobiltelefon-Junkie sich eingestehen, ein Problem zu haben und etwas Falsches zu tun.

Das Zeitfenster

Ich habe Respekt für jenen Vater, der seinen behinderten Sohn mit so viel Liebe und Geduld versorgte. Eltern mit gesunden Kindern wissen, wie anstrengend das »simple« Aufziehen von Kindern sein kann. Wie viel mehr emotionale und praktische Arbeit ist es, für ein behindertes Kind so etwas wie »Zukunft« zu erarbeiten?

Und dann: Jedes Kind, dessen Leben von Mobiltelefonen kaputtgemacht wird, bricht mir das Herz. Ich möchte solchen Eltern bisweilen sagen: Wenn du nicht bereit bist, dein Kind selbst aufzuziehen, wenn dir dein Mobiltelefon so viel wichtiger ist, warum gibst du dein Kind dann nicht zur Adoption frei?

Und, ja, natürlich erfasst mich in der Retrospektive eine gewisse Wut, und ich bin nicht sicher, ob diese Wut »anständig« ist: Kann nicht der Vater des zweiten, gesunden und hoffnungsvollen Kindes auch nur ein Viertel des Engagements des ersten Vaters aufbringen? Warum nicht?!

Eine begrenzte Zeit, innerhalb derer uns bestimmte Möglichkeiten offenstehen, nennen wir ein Zeitfenster. Ein Zeitfenster muss genutzt werden, denn wenn es sich schließt, verschwinden damit auch die Möglichkeiten. (Die Metapher vom Fenster würde auch lehren, dass wir innerhalb dieser Zeitspanne hineinschauen können, wie man durch Fenster hindurchschaut.)

Das Zeitfenster unserer Gesellschaft, innerhalb dessen sich noch etwas retten lässt, schließt sich gerade.

Wenn wir eine Hoffnung haben, dann beginnt sie damit, dass Eltern ihren Kindern Aufmerksamkeit schenken – und vielleicht mit ihren Kindern ein Buch lesen.

Die Zeit, innerhalb derer du etwas ändern kannst, diese Zeit ist kurz – nutze sie, oder bereue es für immer. Und dies gilt für Eltern mit ihren Kindern ebenso wie für Bürger mit ihren Kulturen. Die Zeit, innerhalb derer sich (noch) etwas retten lässt, ist kurz – nutzt sie!

Weiterschreiben, Wegner!

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