15.06.2025

Zerrissen, was heilen soll

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Bild: »Doch zuerst«
Ich fühle mich als Mensch ständig zerrissen, und auch die Gesellschaft ist gespalten. So richtig weh tut aber, wenn jenes gespalten ist, was doch die Zerissenheit heilen sollte. Zum Beispiel Familie oder Kirche. Was tun?
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Die Welt ist zerrissen, die Bruchstücke bekämpfen einander, doch auch ich bin zerrissen wie selten zuvor. Kann ich also sagen, die Welt spiegelt sich in mir, und ich in der Welt?

Wie ich zerrissen bin, im allgemeinen Sinne, wie der Mensch zerrissen ist, das beschrieb ich im Dazwischenwesen. Ich legte es bereits zuvor in den Relevanten Strukturen an. Und zwischenzeitlich suchte ich nach einer Lösung im Loslassen.

Doch auch alltäglich stolpere ich über meine Zerrissenheiten. Etwa die Zerrissenheit zwischen meiner Selbstwahrnehmung als jemand, der noch immer entdecken und ausprobieren will, der noch immer Mut zum Neubeginn in diesem und jenen findet (was ich natürlich nicht als Unstetigkeit verbuche, sondern als ewige Jugend) – und der Realität, dass mir jüngst erstmalig eine junge Dame in der Bahn ihren Sitzplatz anbot.

Es erinnert an das erste Gesieztwerden. An das erste vernünftige (oder immerhin leidlich erwachsene) Gespräch mit einem Menschen, an dessen Geburtsjahr ich mich erinnerte (weil ich in jenem Jahr selbst erwachsen wurde, zumindest rechtlich).

Am 15. Dezember 2017 schrieb ich den Essay »Eine Brücke über den großen Graben«. Es war, wie die meisten Texte, eine spontane Mitschrift meiner Gedanken ebendieses Tages. Ich beschrieb die Deutschen als zweigeteilt zwischen denen mit Empathie (den »Rechten«) und denen, die sich in »selbstgewählter Empathielosigkeit« gefallen (den »Guten«).

Ich vermaß diesen Graben später immer wieder neu. Am 21. Januar 2024 stellte ich fest, dass »Links« heute für blinden Gehorsam steht, und »Rechts« für Aufmüpfigkeit. In manchem großen Thema von Migration bis Impfung erweist sich wieder und wieder, dass die »bösen Rechten« zuletzt richtigliegen – und doch werden sie von den »guten Linken« gehasst und verfolgt, weil sie aufmüpfig zu sein wagten und die Wahrheit aussprachen, als die Lüge Staatsräson war.

Bei den bislang hier beschriebenen Zerrissenheiten ist es ja noch einigermaßen möglich, sich emotional zu distanzieren. Du schaust von deinem Innenhof aus der Gesellschaft beim großen Kampf zu, wie man Kindern oder Welpen beim Kabbeln zuschaut. (Ein Unterschied ist, dass du anders als bei Kindern oder Welpen die Deutschen nicht am Nacken packen, auseinander ziehen und in eine beruhigende Auszeit schicken kannst.)

Gewisse Zerrissenheiten sind mehr als ärgerlich und kontraproduktiv. Gewisse Zerrissenheiten sind auf tiefe Weise schmerzhaft, denn sie zerreißen Institutionen, deren Aufgabe doch eben das Heilen, das Zusammenbringen, das Überwinden der übrigen Zerrissenheit war.

Nicht nur Feminismus und Männer ohne Konzept vom Mannsein lassen Familien zerbrechen. Immer häufiger bringen Kinder den Hass und die Spaltung aus der Schule mit, wo sie gehirngewaschen und auf die Slogans des Tages gedrillt wurden. (Siehe dazu meinen Essay »Hast du deinem Verräter die Windeln gewechselt?« aus dem Jahr 2018.)

Es fühlt sich auf metaphysische Weise falsch an, wenn die Quellen und Garanten unserer Lebensordnung von Staat und Propaganda aktiv zerrissen werden.

Dieser Tage ging in Frankreich die Chartres-Wallfahrt zu Ende, mit einem Rekord von unglaublichen 19.000 Gläubigen (catholicnewsagency.com, 10.06.2025).

Zum Abschluss der Wallfahrt wurde eine traditionelle lateinische Messe gefeiert. Ein Zeichen der Einigkeit? Jein. Weltweit müssen heute ausgerechnet junge Katholiken dafür kämpfen, eine traditionelle lateinische Messe feiern zu dürfen. Doch warum müssen sie kämpfen? Gegen wen? Ihre Gegner sind immer wieder ausgerechnet Bischöfe, welche die Tradition zum auszumerzenden Gegner erklärt zu haben scheinen (siehe als Beispiel catholicnewsagency.com, 4.6.2025). Das ist mal eine schmerzhafte Zerrissenheit!

Man muss weder selbst Familie haben noch Katholik sein, um zu spüren, dass es auf metaphysische Weise falsch ist, wenn die Familie oder die Kirche von innen, von ihren eigenen Leuten zerrissen wird.

Ja, ich bin heute zerrissen. Und ich bin gar nicht sicher, ob meine Zerrissenheit jene der Welt spiegelt, oder ob es die Welt ist, die meine Zerrissenheit aufgreift und vertausendfacht.

Zur Sicherheit und fürs Gewissen will ich ehrlich nach besserer Ordnung für mich suchen, will meine Zerrissenheit heilen lassen.

Denn ist die eigene Zerrissenheit, wenn sie ewig und ohne jede Besserung schwärt, nicht die ärgste aller Zerrissenheiten? Ja, wäre ein derart Zerrissener überhaupt in der Lage, das nicht Zerrissene in und an der Welt zu sehen?

Weiterschreiben, Wegner!

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