Manche von Ihnen, liebe Leser, waren früher Kinder, und einige von Ihnen haben heute selbst Kinder, und wer irgendwas über irgendwas weiß, der weiß von der sichersten Art, zuverlässig und schnell einen handfesten Streit zwischen zwei Kindern zu provozieren. (Ich habe die folgende Metapher heute morgen übrigens theoretisch getestet. Ich stellte der Gattin die Frage, was die effektivste Art sei, unsere Kinder zum Streiten anzustiften – was man als Essayisten-Gattin nach dem Aufwachen eben gefragt wird – und sie antwortete recht genau mit den hier beschriebenen Angaben.)
Ja, es gibt eine Methode, Kinder überzeugend und schnell zum Streit anzuregen, und diese hat zwei Stufen, einmal für Anfänger, einmal für Experten.
Kinderstreit für Anfänger: Geben Sie einem Kind etwas, das beide Kinder gerne hätten, etwa eine Süßigkeit oder ein Geschenk zwischendurch, und geben sie dem anderen Kind nichts – et voilà! – Instant-Streit! (In den Texten »Wer hungert nach Gerechtigkeit?« und »Warum Linke derzeit Sand zwischen den Zähnen haben« erwähnte ich, dass und warum unser Sohn in solchen Situationen einst »ungefähr!« rief.)
Wenn Sie den Kinderstreit für Anfänger sicher beherrschen, können Sie zum Experten aufsteigen (bitte besprechen Sie vorab eventuelle Langzeit-Schäden mit Ihrem Kinderpsychologen, den Sie gewiss monatlich bezahlen, wenn Sie regelmäßig Experimente dieser Art durchführen) – Fortgeschrittene initiieren einen Streit so: Geben Sie beiden Kindern jeweils eine Süßigkeit und stellen Sie sicher, dass sich beide Kinder darüber freuen. Dann, wenn die Freude wirklich groß ist, erlauben Sie dem einen Kind, das Sie lieber mögen, sich nach Belieben an den Süßigkeiten des Kindes, das Sie weniger mögen, zu bedienen. – »Streit« ist noch gar kein Ausdruck für das, was folgen wird.
Man könnte an dieser Stelle fragen, warum um aller lieben Kuckucke Willen man absichtlich einen Streit zwischen Kindern provozieren sollte, doch das wäre natürlich eine andere Frage für einen anderen Essay…
Den Puls der Zeiten
An dieser Stelle fragt sich Ihr treuer Essayist: »War meine Einleitung nicht zu humorig für das, was folgt?«
Nun, wie ein Bäcker oder jeder andere frühaufstehende Beruf, wache ich morgens auf, mache mir einen Kaffee und mache mich an die Arbeit. Meine Arbeit besteht darin, den Zeiten den Puls zu messen.
Man mag mich einen »Zyniker« nennen, und im gestrigen Newsletter schrieb ich, warum mich das eher wenig stört, doch in letzter Zeit (und kurz davor auch) spüre ich bei manchen unschönen Nachrichten ein bitter-sarkastisches Zucken in den Mundwinkeln (und so ein Zucken in den Mundwinkeln, wenn es das richtige ist, lässt sich trefflich zu Essays machen, so wie Liebesleid zu schön-traurigen Liedern wird, Weltschmerz zu Romanen und Lügen zu Abendnachrichten).
Heute morgen schlief meine Familie noch in ihren warmen Betten, die Kinder jeweils mit dem Buch, das sie gestern abend noch lasen, neben sich auf dem Nachttisch (und Leo mit dem großen Kuschellöwen neben sich, den liebt er), und alle atmeten sie noch tief und fest, als Papa durch die Wohnung schlich, um sich sein Heißgetränk zuzubereiten und an den Arbeitstisch zu schleichen – in Rostock ist, so erfuhr ich heute, ein Mann in der Nacht von Montag auf Dienstag erfroren. Bauarbeiter fanden ihn im Gewerbegebiet, wohl als sie ihre Schicht beginnen wollten. »Neben ihm stand ein mit Pfandflaschen gefüllter Trolley.« (bild.de, 4.12.2019)
Es ist natürlich nicht die einzige Meldung heute. Dann wär da noch: Zwei Bundesländer weiter, in Sachsen, plant man derweil, dass Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes – also die ohnehin Privilegierten, die von anderer Leute Steuern leben – demnächst kostenlos Strom-Tanken dürfen (bild.de, 2.12.2019). Wo es nach Selbstbedienung riecht, da steht oft genug »SPD« drauf (siehe jüngst etwa »Ameisen und Zähneklappern«), und auch hier ist es ein »Genosse«, der den Armen nimmt und den seinen gibt (hier konkret: den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst).
All die anderen Maßnahmen laufen ja weiter. Gratis-Tanken für die, welche ohnehin von den Steuern der Bürger leben ist vor allem ein Symbol für die Entfremdung zwischen Staat und Bürger. Den einen wird genommen, den anderen wird gegeben, und wen die Propaganda lobt, der sei auch von uns gelobt.
Die einen erhalten ihre Pension von Staat und Staatsfunk, die anderen erhalten, wenn überhaupt, eine Mindestrente, und müssen Flaschen sammeln, um zu überleben (wenn es nicht zu kalt ist). Die, denen das Herz »derer da oben« gehört, erhalten vom Staat neue Häuser gebaut – die anderen erfrieren. Die einen fahren mit der U-Bahn, und hoffen, lebendig anzukommen – die anderen dürfen ihre schicken neuen Mode-Autos auch noch gratis tanken. Und wer sich gar keine Sorgen machen muss, sind wahrscheinlich die Leute, welche von der von-der-Leyen-EU ein paar Brosamen der 50 Milliarden Euro abbekommen, die Deutschland an den Brüsseler Moloch überweisen soll (welt.de, 4.12.2019) – Freude, schöner Götterfunken, Berater müsste man sein!
Löwen, medaillenbehangen
Die Familie ist inzwischen aufgestanden. Elli hat die Freude unseres Herzens mit Frühstücken versorgt, zum Anziehen gezwungen und dann zur Schule begleitet.
Vor einigen Tagen hat der Sohn in der Schule beim Sport eine kleine goldfarbene Plastik-Medaille »gewonnen«, einen dieser typischen »Teilnahmepreise«, bei der steht auf einer Seite »WINNER« und auf der anderen Seite »Made in China«. Das fand er sehr amüsant, da zwei seiner Mitschüler tatsächlich »made by Chinese« sind (und ihre Eltern »made in China«). Ich selbst finde es lustig, weil es eine so buchstäbliche Bebilderung der Redensart »andere Seite der Medaille« ist. Diese Plastik-Medaille hat er, zusammen mit anderen Judo-Auszeichnungen und Ellis Marathon-Medaille, seinem großen Stofflöwen umgehangen, und diesen vor unseren Weihnachtsbaum gesetzt. Der Baum ist aus Plastik. Ein Fake-Löwe mit einer Fake-Medaille sitzt vor einem Fake-Baum – die Echtheit hat schon bessere Tage gesehen – immerhin ist die familiäre Freude an all diesem niedlichen Quatsch echt, und es soll Leute geben, die sagen, das sei es, worauf es wirklich ankäme.
Glück ist ein anderes Wort für das Bewusstsein, dass die Dinge, einen selbst und seine Lieben betreffend, »in Ordnung« sind, dass man »die Kreise geordnet« hat (für Details und Formeln siehe »Relevante Strukturen« – Sie wissen Bescheid). Ungerechtigkeit ist eine Form der Unordnung. Ungerechtigkeit ist eine Form von Unglück.
Dass Deutschland auseinander driftet, das wäre ein zu schwacher Ausdruck. Deutschland wird auseinander gerissen. Solange in Deutschland die, die das Land auseinanderreißen, mit Journalistenpreisen behangen und mit Posten versorgt werden, und solange die, welche die Ungerechtigkeit beenden und die Ordnung wieder herstellen wollen, geschmäht und geächtet werden, so lange wird das Reißen weitergehen – bis nichts mehr da ist, das auseinanderzureißen sich noch lohnt.
Was für ein Mensch?
Wer Streit zwischen Kindern initiieren will, der gibt dem einen, was er dem anderen vorenthält, und wer den Streit so richtig heiß kochend bevorzugt, der nimmt dem einen Kind, was ihm längst gehörte, und gibt es dem anderen – doch was für ein Mensch würde so etwas tun?!
Wer als Politiker das Gefühl brennender Ungerechtigkeit unter den Einwohnern eines Landes herstellen wollte, der würde die einen Pfandflaschen sammeln und dann doch erfrieren lassen, während er die anderen mit Häusern oder Gratis-Tanken versorgt – doch was für ein Politiker würde so etwas tun?! Unvorstellbar, was in so einem Menschen vorginge.
Deutschland will Moral-Weltmeister sein, während seine schwächsten Bürger aus Armut um die Häuser ziehen, Flaschen sammeln – und bei Kälte erfrieren.
Bei aller Abgebrühtheit
Wenn wir später die Kinder von der Schule abholen, werden wieder einige der ökologisch und sozial bewussten Eltern mit stolzen SUVs vor der Schule stehen, selbstredend mit laufendem Motor, und wenn ich von der Anschauung auf die Regeln schließen darf, dann gelten für diese fahrbaren Stadtpanzer offensichtlich andere Verkehrs- und Parkgesetze. Wenn Eltern und ihre Kinder derart heucheln und einen Widerspruch zwischen Reden und Handeln ausleben, dann finde ich es geradezu süß, verorte es zwischen ironisch bis zutiefst menschlich. Wenn aber Politiker den Schwachen und Fleißigen nehmen, um dann sich selbst (plus denen, die sie wirklich mögen) zu geben, das ist brennend ungerecht, das macht mich wütend, das lässt mich mit meinem Zynismus ringen.
Kinder sind weit davon entfernt, »geborene Heilige« zu sein, die dann von der bösen Gesellschaft verdorben werden – Kinder sind Engel und sie sind Teufel, manchmal abwechselnd, manchmal zugleich, und was sich von beiden Aspekten langfristig durchsetzt, das ist teils Erziehung, teils Zufall, und, ja, teils Lebensumstände – und doch bleibt es bei all dem wahr, dass Kinder ein angeborenes Bewusstsein für Gerechtigkeit haben, erst nur in ihren eigenen Angelegenheiten, und bald in Blick auf ihre Umwelt.
Ich halte nichts von der »neuen Kindlichkeit« in der Politik, wie wir sie bei Ultra-Populisten wie den Grünen finden, wo politische Debatte mit Luftballons, Slogans und Wachsmalkreide ersetzt werden soll. Und doch hielte ich es für tragisch, wenn wir unseren angeborenen Sinn für Gerechtigkeit ganz verlieren würden.
Der Mensch sehnt sich nach Gerechtigkeit, wie er sich nach Luft, Wasser und frischer Nahrung sehnt – durch industrielle Produkte kann der Hunger auf frische Nahrung übertönt werden, durch Propaganda kann die Sehnsucht nach Gerechtigkeit zum Schweigen gebracht werden.
Wir alle waren einst Kinder, wir alle haben einst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit gespürt. Ja, es ist notwendig und es gehört zum Erwachsenwerden dazu, vorsichtig zu werden und immer auch zumindest eine Prise Zynismus parat zu haben. »A Hund is er scho« sagen die Bayern, und es ist ein Kompliment – ein bekanntes Gebet erhofft »die Geduld, das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann« – alles richtig, und doch keinesfalls vollständig.
Bei aller Abgebrühtheit, die das Erwachsenwerden mit sich bringt, will (und also: darf) ich nicht vergessen, dass ich auch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit in mir trage, schon immer in mir getragen habe. Wir sind zur Ordnung geboren, zur Ordnung, zur Gerechtigkeit und: zum Glück – »zum Glück« in beiden Bedeutungen, klar.
Wir sind nicht Heilige, und wir werden es nicht sein, wir wollen nicht einmal so tun, als ob wir es wären – wir sind ja keine Gutmenschen – doch um zu erkennen, dass es ungerecht ist, immer nur den einen zu nehmen und den anderen zu geben, dafür braucht es keine Heiligen.
Es genügt, ein Mensch zu sein – und sein Menschsein nicht zu vergessen!