Dushan-Wegner

25.02.2022

Hohle Männer, aufeinandergestützt

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von NASA
Wie erzählt man seinen Kindern vom Krieg? Seufz. – Ich hoffe, dass es da draußen im Weltall keinen gibt, der uns beobachtet und sich so seine Gedanken über uns macht, denn ich würde mich sehr schämen.
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Ich lese am Abend gern etwas vor, Elli und den Kindern – wer auch immer mir zuhört, dem wird vorgelesen. Nicht selten wähle ich »Weisheitsliteratur«, also Buddha, Bibel oder auch mal Nietzsche.

Gestern war mir danach, einige Passagen mit »Extra-Schlagkraft« zu lesen. Es brauchte etwas, das zu den Meldungen des Tages passte. Was wählt man, wenn Krieg ist?

Nein, ich will am Abend nicht mehr darüber nachdenken, ob die NATO sich bis an die Grenzen Russlands erweitern sollte. Ich will nicht über die Rohstoffe in der Ukraine nachdenken, auch nicht über Russlands Zugang zum Schwarzen Meer. Was geht es mich – oder meine Kinder?! – an, ob es Putin gelingen kann, einen russischen Imperialismus wiederzubeleben? Ich will am Abend nicht darüber nachdenken, dass der Präsident der Ukraine Volodymyr Zelenskyy jüdisch ist und dass unter anderem sein Großvater im Holocaust ermordet wurde, und dass es für Zelenskyy einen besonderen Geschmack hat, wenn das ach-so-moralische Deutschland ihn im Stich lässt. Zelenskyy begann seine Karriere mit 17 Jahren als Comedian, doch während er in der maximalen Krise zum Staatsmann wird, wirken die Staatsmänner des Westens ein weiteres Mal wie korrupte, schwache Clowns (was Putin natürlich korrekt vorhergesagt hatte). Israel hat erstaunlich freundlich auf Russlands Einmarsch reagiert (haaretz.com, 24.2.2022); bedeutet es, dass man sich mit der wirklichen »neuen Weltordnung« abgefunden hat? Ach, auch darüber will ich nicht kurz vorm Schlafengehen nachdenken.

Ich fühlte mich etwas emotional leer, etwas »hohl«, also wählte ich die »Hollow Men« von T.S. Eliot. Ich las es auf Englisch vor.

»Wir sind die hohlen Männer«, beginnt jenes Gedicht (übersetzt), »die Ausgestopften«, und das war auch, warum ich es gewählt hatte. So wie man Blues-Musik hört, um seine eigene Traurigkeit zu überwinden, so erhoffte ich mir, mit dem Gedicht über innere Leere auch den eigenen entsprechenden Zustand zu bewältigen.

Jedoch: Als ich uns dieses Gedicht zu therapeutischen Zwecken vorzulesen begann, hatte ich nicht bedacht, wie es endet!

Es ist ja eigentlich ein sehr berühmtes Ende. Vor drei Jahren hatte ich selbst mich in einem Essay auf dieses Gedicht bezogen. Eine Passage des Endes hatte ich damals zum Titel gemacht: »Nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer« (Essay vom 19.6.2019)

So hatte ich gestern also, um mich und die Familie von den Kriegsnachrichten abzulenken, jenes schöne Gedicht von T.S. Eliot vorgelesen, doch ich hatte dessen Ende nicht bedacht. Ich rutschte eher überrascht in das Ende jenes Gedichtes hinein, und ich proklamierte mit Verve und Pathos:

This is the way the world ends
This is the way the world ends
This is the way the world ends
Not with a bang but a whimper.

Zu Deutsch:

Dies ist, wie die Welt endet
Dies ist, wie die Welt endet
Dies ist, wie die Welt endet
Nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer.

Seufz.

Am selben Tag, einige Stunden zuvor, hatte ich Ihnen, liebe Leser ja den Essay »Bomben gendern nicht« vorgelegt. Darin schimpfe ich auf den jämmerlichen Mangel militärischer und fast noch mehr geistig-moralischer Wehrhaftigkeit unseres Landes. 

Man muss das Ende der »Hohlen Männer« nur wenig anpassen, um es zur düsteren Vorhersage zu machen: »Dies ist, wie die Welt endet, erst ein Knall, und dann Gewimmer.« (Wobei das »Gewimmer« auf unserer, westlichen Seite wäre. Die Ukraine wehrt sich, so gut sie kann, und sie verzeichnete sogar einige Erfolge!)

Nein, »Die hohlen Männer« sind kein guter Trost gegen die Angst vorm Krieg, das sah ich am Ende des Textes ein. Es brauchte etwas anderes.


Ich wählte ein anderes Buch, einen sonst zuverlässigen Klassiker im Metier guter Laune – den oftgelesenen und gernzitierten »Anhalter durch die Galaxis« – im Folgenden: »der Anhalter« – mit seinem heute extra aktuellen Motto: »Keine Panik!«

Ich begann, den Anhalter vorzulesen.

Wie Sie sich vielleicht erinnern, beginnt der Anhalter mit einer satirischen Aufzählung der Möglichkeiten, spontan den Planeten zu verlassen. Man solle die NASA anrufen. Oder das Weiße Haus. Oder den Kreml…

Uff! Es ist wirklich schwer, den Themen des Tages zu entkommen!

(Nebenbei: Diese Vorab-Notiz des Anhalters schließt mit dem Witz, dass man auch deshalb den Planeten verlassen will, weil man die Telefonrechnung fürchtet, die sich ergibt, wenn man NASA, den Kreml und schließlich auch den Papst angerufen hat. Meine Kinder verstehen den Witz nicht, denn sie wachsen auf mit Video-Chats rund um den Globus ohne Extrakosten.)


Auf die Vorab-Notiz mit den Telefonnummern folgt im Anhalter das Vorwort. Ich übertrage es für Sie ins Deutsche: »Weit draußen in den unerforschten Randgebieten der aus der Mode gekommenen Ausläufer des westlichen Spiralarms der Galaxis befindet sich eine kleine, weitgehend unbeachtete gelbe Sonne.«

Zweiter Absatz: »In einer Entfernung von ungefähr zweiundneunzig Millionen Meilen umkreist diese Sonne ein vollständig unwichtiger, kleiner, blaugrüner Planet, dessen von Affen abstammende Lebensformen so spektakulär primitiv sind, dass sie Digitaluhren noch für eine ziemlich nette Erfindung halten.«

Und dann: »Dieser Planet hat – oder besser: hatte – ein Problem, und zwar: Die meisten Menschen dort waren die meiste Zeit über unglücklich.«

Wieder seufzte ich, als ich es gestern las, denn es führte mir die Dimensionen vor Augen – die wahre Bedeutung unserer menschlichen Zwistigkeiten in Relation zum Ganzen. Was ist selbst eine Atombombe – oder hundert Atombomben – im Verhältnis zum Universum?

Ob es einen Gott gibt oder nicht, ich hoffe auf jeden Fall, dass es keine Außerirdischen gibt, die uns vom Weltall aus beobachten, wie der Waldgänger vielleicht interessiert einen Ameisenhaufen betrachtet (vielleicht mit dem Stock etwas herumstochert und dann, sobald er sein Interesse wieder verliert, weitergeht).

Ich hoffe, dass es niemanden da draußen im Weltall gibt, der uns beobachtet und sich so seine Gedanken über uns macht, denn ich müsste mich sehr schämen. (Leo war an diesem Punkt bereits eingeschlafen. Er war zufrieden, dass ihm vorgelesen worden war, das war die ihm wichtige Dimension.)


Irgendwo in einer offenbar wenig beachteten Ecke der Galaxie rotiert ein kleiner blaugrüner Planet um eine gelbe Sonne herum.

Die Bewohner jenes Planeten könnten sich dessen bewusst sein (sie verfügen ja über die notwendigen mentalen Kapazitäten), was für ein irrwitzig unwahrscheinliches Glück sie haben, überhaupt zu existieren.

Wenn wir an Gott glauben, dann müssten wir doch jeden Tag buchstäblich eben diesem Gott danken, dass er uns geschaffen hat, hier auf diesem wunderschönen Planeten, wo wir Nahrung, Luft und lecker belegte Brote haben.

Auch wenn wir von der Evolution ausgehen, müssten wir doch jeden Tag den unwahrscheinlich günstigen Zufall feiern, dass wir überhaupt entstanden sind, und das auf eine Weise, die evolutionär günstiges Verhalten mit Spaß, Lust und der Freude an Schönheit belohnt.

Sind wir dankbar? Feiern wir, dass wir sind? – Ach…

Das buchstäblich Einzige, das der Mensch tun kann, was ihn wesentlich über den Status einer vor allem biologischen Entität hebt, ist das tägliche Dazulernen über sich selbst.

Sein Menschsein zu nutzen, das bedeutet, über sich zu lernen (»erkenne dich selbst«), über den Mitmenschen und dessen Innenleben zu lernen (»Empathie«), und über die Regeln hinter den Regeln des Alltags zu lernen (»Mathematik«, »Metaphysik«, »Logik«, et cetera).

Nicht der, der mit dem meisten Spielzeug stirbt, hat »gewonnen«, ja nicht einmal der, der den meisten »Spaß« hatte – so wichtig »Spaß« für ein lebenswertes Leben ist! – sondern der hat »gewonnen«, der etwas darüber lernte und auch begriff, wer er ist und was »zu leben« bedeutet.

Das Leben lässt sich »verschwenden« und »verlieren«, also lässt es sich auch »gewinnen«, doch meine Gegner in diesem Spiel sind weder Menschen noch ein System. Mein ärgster Gegner bin ich selbst, genauer: meine Trägheit, meine Lernfaulheit.


»Wir sind die hohlen Männer, die Ausgestopften, aufeinandergestützt«, so schreibt T.S. Eliot, und manchmal lassen die herzlosesten der hohlen, aber schlauen Männer eben Soldaten aufmarschieren. Die Soldaten an der Front sind oft Söhne aus armem Hause, wie ohnmächtige Puppen, zu verbrauchende Strohfiguren, losgeschickt andere Strohfiguren zu töten, alles nur damit irgendwelche mächtigen hohlen Männer ein kleines Fleckchen auf diesem Planeten für eine kleine Weile kontrollieren können.

Dieser Planet hat ein Problem, da liegt Douglas Adams natürlich richtig: Die meisten Menschen hier sind die meiste Zeit über ziemlich unglücklich – und ein Krieg wird das gewiss nicht verbessern.

Ein unnötiger Krieg eines alternden Machthabers, ermöglicht durch einen moralisch korrupten und schwachen Westen, welcher Moral nur noch fadenscheinig zu simulieren weiß und schützende Stärke für unmoralisch hält.

Das Leid der Menschen ist schrecklich, die Zerstörung bricht einem das Herz, das Vertrauen gegenüber Europa ist fürs Erste irreparabel beschädigt, und das ist noch nicht alles, das mich daran schmerzt.

Mich schmerzt auch diese eine große Frage: Ist das wirklich das Beste, was wir als Menschen anstellen können?

Ein wunderschöner Planet, das Wunder unserer Existenz, und statt dies zu feiern, werfen schlaue Menschen blöde Bomben aufeinander.

Ich werde heute Abend meiner Familie wieder etwas vorlesen. Das ist das Beste, das ich am Abend mit der Familie tun kann, bevor es ins Reich der (hoffentlich ruhigen) Träume geht.

Noch weiß ich nicht, welchen Text ich heute wählen werde. Vielleicht gelingt es mir ja, etwas zu finden, das mich nicht an den Krieg denken lässt, aber dennoch zur Stimmung des Tages passt.


»Our dried voices, when we whisper together, are quiet and meaningless«, so schreibt T.S. Eliot in den Hohlen Männern; zu Deutsch etwa: »Unsere vertrockneten Stimmen, wenn wir zusammen flüstern, sind leise und bedeutungslos.«

Nun habe ich also, in vertrockneter, leiser Stimme, circa tausendzweihundert Wörter darüber geschrieben – weitere Wörter folgen – wie sogar geliehene Worte heute darin versagen, mich wirksam abzulenken.

Vielleicht ist Ablenkung ja auch nicht das, was ich jetzt brauche! Vielleicht ist es das Gegenteil, vielleicht sollte ich meine Aufmerksamkeit bündeln. Wer sich nicht im Angesicht des Krieges dessen bewusst wird, was ihm wirklich wichtig ist, der wird sich dessen wohl nie bewusst werden.

»Wir sind die hohlen Männer, die Ausgestopften, aufeinandergestützt, Stroh im Schädel« – ich lese die Zeilen wieder, und ein Wort fällt mir auf: »aufeinandergestützt« – »leaning together«.

Ja, wir sind die hohlen Männer, die Ausgestopften, Stroh im Schädel, all das, aber eben auch: aufeinandergestützt!

Wenn Sie sich dieser Tage auch etwas »emotional hohl« fühlen, hohl und ratlos, fast als hätten wir nur »Stroh im Schädel«, dann lassen Sie uns doch zumindest einander stützen.

Weiterschreiben, Wegner!

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