Dushan-Wegner

21.08.2020

Lebt die Katze noch?

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Foto von Manja Vitolic
Iraker verursacht »islamistisch motivierten Unfall«. Kirchen betonen, dass die religiös motivierte Tat nix mit Religion zu tun hat. Das eigentliche religiöse Mysterium ist aber: Warum war der Herr noch in Deutschland?!
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Er hieß Wigner, nicht Wegner, genauer: Eugene Paul Wigner. Er wurde 1902 in Budapest (Ungarn) geboren, arbeitete und lehrte in den USA als Physiker. 1950 wurde ihm der Nobelpreis für Physik verliehen. Er verstarb 1995 in Princeton (New Jersey, USA). Bereits diese dürren einleitenden Zeilen lassen uns ahnen, dass Wigners Gedanken von höherer Komplexität waren als die mancher »normalsterblicher« Zeitgenossen.

Das 1935 formulierte Paradoxon namens »Schrödingers Katze«, worin eine Konsequenz der Quantenphysik verdeutlicht wird, ist heute Teil der Popkultur. Es geht um eine gedachte Katze, von der wir nicht wissen, ob sie tot ist oder lebt, bis jemand nachschaut – und bis dahin muss man davon ausgehen, dass beides der Fall ist.

Während die Logik hinter Schrödingers Katze mir bereits den Kopf sprengt, war das Problem für Wigner vermutlich »zu einfach« – und also formulierte er 1961 ein Gedankenexperiment, das wir als »Wigners Freund« kennen.

Ich will versuchen, so präzise wie ich es vermag, das Denkexperiment »Wigners Freund« nachzuerzählen: Nehmen wir wieder an, dass Schrödingers Katze in der Box sitzt. Ein Physiker (»Wigners Freund«) schaut in die Box, und er entdeckt eine tote oder eine lebendige Katze. So weit, so bekannt. Doch nehmen wir zusätzlich an, dass ein weiterer Beobachter (Wigner selbst) sich außerhalb des Versuchsraums aufhält, und dass er nur durch seinen Freund erfährt, ob die Katze lebendig oder tot ist. – Wenn es erst im Moment des Messens entschieden wird, ob die Katze lebendig oder tot ist, was zählt als messen? Die Beobachtung, die Wigners Freund selbst anstellte, oder die Beobachtung, die Wigner selbst via Freund unternahm?

60 Jahre nach der Formulierung seines Meta-Paradoxons haben Forscher in Australien und Taiwan nun nachmodelliert, dass da »was dran sein könnte« – sprich: Dass das Messergebnis davon abhängt, ob man selbst beobachtet oder ob man den Beobachter beobachtet, wobei sie es zunächst mathematisch nachmodellierten und dann mit Photonen anstelle von Menschen auch im Experiment zeigten.

Wenn Sie, liebe Leser, tiefer in die Materie einsteigen möchten, empfehle ich den populär geschriebenen und doch fast-schon-gehirnsprengenden englischsprachigen Text »Quantum paradox points to shaky foundations of reality« im Science Magazin, 17.8.2020.

Wenn Sie jedoch selbst Physiker sein sollten (und ich weiß, dass einige von Ihnen tatsächlich theoretische Physiker sind), und wenn Sie mit Schmerzen feststellen, dass ich das alles viel zu simpel und wohl auch stellenweise falsch verstanden habe, dann bitte ich schon jetzt um Vergebung – in diesem Fall wird mein Versagen nicht den restlichen Text konterkarieren, vielmehr sogar zur Anschauung dienen.

Nicht wenigen von uns wird womöglich bereits die Andeutung spekulativer Physik ein Schwindelgefühl bescheren – das Gehirn der »Krone der Schöpfung« gerät erbärmlich schnell an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. (Ich selbst habe zu den Schrödingers-Katze-Experimenten ersten wie auch zweiten Grades noch einmal eine ganz andere Frage. Ich erzähle Sie ihnen gleich – erinnern Sie mich bitte dran!)

Unser Verstand tut sich schwer, all die Dinge zu verstehen, die wir doch so gern verstehen würden – womit wir bei den Nachrichten des Tages wären.

Ein »motivierter« Unfall

Nachrichten aus Berlin haben auf schillernde Weise einen bestimmten Aspekt mit Nachrichten aus der theoretischen Physik gemeinsam: Als »Normaler« versagt einem der Verstand (und zuweilen fehlt uns, die wir uns als Normale einordnen, schlicht die Geduld).

Wir lasen dieser Tage eine bemerkenswerte Zeile:

Unfall in Berlin war wohl islamistisch motiviert (@ntvde, 19.8.2020)

(Nicht nur) meine erste Reaktion war: Was bitteschön soll ein islamistisch motivierter Unfall sein. Da ich kein Linker bin, gestehe ich dem kommunikativen Gegenüber natürlich eine wohlwollende Interpretation seiner Worte zu, also deute und entfalte ich die knappe Meldung so: »Was zunächst wie ein Unfall aussah, erweist sich nun als islamistisch motiviert.«

(Manche deuteten die knappe Zeile auch als den Versuch, verkrampft das Wort »Anschlag« aus der Meldung zu halten.)

Als wäre es heute ohnehin egal, ob dieser Einzelfall™ nun »Anschlag« oder »Unfall« genannt wird (was werden die Bürger denn tun, wenn es ein Anschlag ist? Erdulden werden sie. Toleranz üben müssen sie.), wurde es später dann doch zugegeben – es war ein Terroranschlag.

Sarmad A. hatte, so etwa welt.de, 19.8.2020 und tagesspiegel.de, 19.8.2020, im Vorfeld auf Facebook etwas von Religion gepostet und dazu Bilder von Unfällen. Am Dienstag den 18. August 2020 dann, kurz vor 19:00 Uhr, verursachte der 30-jährige Iraker auf der Berliner Stadtautobahn A100 absichtsvoll mehrere Unfälle. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt. Als er zum Stehen kam, rollte Sarmad A. einen Gebetsteppich aus und betete. Augenzeugen berichteten, dass er in einer ausländischen Sprache gerufen habe, dass er die Umstehenden ermorden wolle – und dass (sein) Gott groß sei. (Laut einer Dame, die in Springer-Medien öfter gut wegkommt, siehe etwa welt.de, 21.8.2020, könnte der junge Mann damit auch nur gemeint haben, dass er gerade eine sehr schöne Frau gesehen habe, siehe @sawsanchebli, 17.4.2019, insofern ginge seine Verhaftung in Ordnung, denn eine Frau schön zu nennen, das gilt in Berlin als schwerer Sexismus.)

Warum wohl?

An einer mir als geradezu panisch wirkenden Reaktion der Kirchen erahnen wir den weiteren Kontext dieses Anschlags.

»Bischof Christian Stäblein und Erzbischof Heiner Koch« erklärten, so welt.de, 19.8.2020, dass sie sich »gegen jegliche Versuche, die Religion für die Begründung von Terror und Gewalt zu missbrauchen« »verwahren«.

Die Logik auch dieser kirchlichen Aussagen ist natürlich keine. Mir tun die Täter fast schon leid, die im Namen ihrer Überzeugung morden wollen, und dann von deutschen Granden gesagt bekommen: »Nein, du irrst dich darin, warum du getan hast, was du getan hast!«

Während die Logik brüchig ist, wirkt die gesamte Aussage auf mich zumindest so routiniert wie panisch. Es lässt mich stocken – nachhaken.

Der junge Mann war als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, und lebte im Status der »Duldung«. Sarmad A. wurde (so tagesspiegel.de, 19.8.2020) 1990 in Bagdad geboren. Sarmad A. war in der Vergangenheit mehrfach mit Gewaltdelikten aufgefallen (bild.de, 19.8.2020).

Warum wurde er nicht abgeschoben?

Weil Deutschland »tolerant« ist.

Warum ist Deutschland »tolerant«?

Man könnte darauf hinweisen, wie absurd viel Geld die Konzerne der Kirchen an deutscher »Toleranz« verdienen. Man könnte berlin.de verlinken, wo die Linkliste allein zu Berliner Initiativen ahnen lässt, was für ein riesiges steuerfinanziertes Business offene Grenzen sind. Man könnte auf linke Lebenslügen verweisen, und darauf, dass einige extra porentief rein gehirngewaschene Gutmenschen lieber ihre Nachbarn, sich selbst oder sogar ihre Kinder opfern werden, als sich anzuerkennen, eine Lüge zu leben. All das wäre vermutlich nicht vollständig falsch – doch vielleicht ist es tatsächlich einfacher.

Unter den Schwerverletzten ist unter anderem ein Feuerwehrmann (bild.de, 20.8.2020). Einer, der Menschen retten will, an den Rand des Todes gebracht von einem, der im Namen seiner Religion morden will. Das ist der Preis der Toleranz.

Der junge Herr war schon zuvor mit gewissen Gedanken und gewissen Gewalttätigkeiten aufgefallen. Der junge Herr hätte abgeschoben werden können. Warum wurde er geduldet? Hatte man gar versucht, ihn abzuschieben, hatte er dann aber erklärt, dass er »nicht möchte«? (So in Schwerin passiert, siehe welt.de, 17.2.2020.) Es wird gewiss einen gewichtigen Grund haben – hofft man.

Ich verstehe nicht, warum Deutschland sich das antut – immer noch, immer weiter.

Beobachter des Beobachters

Es ist mir eine kathartisch demütigende Erfahrung, als Normalmensch von der theoretischen Physik zu lesen. Es erinnert mich aufs Neue daran, wie begrenzt unser aller Verständnis ist.

Es ist nicht zu leugnen, dass ich die Logik der Denkweise (und die Logik der Ethik) der Toleranten und Guten nicht verstehe. Leser der »Relevanten Strukturen« wissen, dass ich (denkbar simple) mathematische Formeln entwickle, um ethisches Empfinden darzustellen und so verstehbar zu machen – an der Logik der Gutmenschenethik versage ich.

Nein, ich verstehe suizidale Toleranz nicht. Wie kann es ethisch gerechtfertigt sein, für die Profite der Wohlfahrtskonzerne und eine weltfremde Ideologie das Leben seiner Mitmenschen zu gefährden?

Logisch betrachtet existieren hier prima facie zwei Möglichkeiten.

Erstens: Die Guten und Gerechten haben eine höhere ethische Logik entdeckt, die mir so verschlossen ist wie die Frage, ob ein Beobachter des Beobachters der Katze des Schrödinger dasselbe Ergebnis erhält wie der erste Beobachter selbst.

Oder, zweitens: Die Guten und Gerechten sind, bei allem politischen und finanziellen Geschick, so verblendet wie alle Verblendeten der untergegangenen Regime der Geschichte.

In unseren erhabeneren Stunden

Die Menschen, die heute im Krankenhaus liegen, weil Deutschland seine Toleranz am Sarmad A. übte, sind ab sofort und den Rest ihres Lebens Terroropfer. Für die »Guten und Gerechten« sind das eben nur weitere Späne, die fallen, wenn im Namen der Moral gehobelt wird (siehe auch Essay vom 27.8.2018). Man verzeihe mir, dass mein Herz nicht-so-sehr bei den Profiten der Schlepper und Kirchen ist, sondern bei den Menschen, deren Leben ab sofort von diesem einen Ereignis geprägt ist.

Wenn es einen Grund gibt, warum ein Land gewalttätige Illegale »duldet« (und wohl auch finanziert, ihnen Kost und Logis bezahlt, während armen Rentnern noch die mickrige Rente beschnitten wird), dann bitte ich die Genies da oben, mir den Grund zu erklären – ich verstehe ihn nicht.

Wenn es aber so sein sollte, dass die-da-oben zwar mächtiger, aber dümmer sind als wir, wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen oder wie ein Affe mit Maschinengewehr, dann sollten wir auch aus dieser Erkenntnis die Konsequenz ziehen.

Wir betrachten Deutschland (und in unseren erhabeneren Stunden das Abendland oder gleich den Planeten als Ganzes), und wir könnten den Eindruck gewinnen, dass wir Teil eines großen Schrödingers-Katze-Experiment sind – doch wer spielt welche Rolle darin?

Wir fragen uns, ob wir der erste Beobachter oder der zweite sind, also der, der selbst beobachtet, oder der, der den Beobachter beobachtet.

Ich weiß nicht, ob wir der erste oder der zweite Beobachter sind.

Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, dass wir die Katze sind – und laut Quantenphysik sind wir schon jetzt zugleich tot wie auch lebendig.

(Ah, ich höre, wie Sie rufen: »Herr Wegner, Sie wollten, dass wir Sie an irgendeine ganz eigene Frage zu Schrödingers Katzenstall erinnern!« – Ich antworte: »Ach ja, danke! Gut, dass Sie dran denken!«)

Meine ganz eigene Frage zur Schrödingers Katze ist diese: Wir fragen uns stets, ob und woher der Beobachter weiß, ob die Katze lebt. Ich frage mich: Woher weiß eigentlich die Katze selbst, ob sie tot ist oder lebendig?

Ich will meine eigene Frage natürlich im Rückgriff auf den Mathematiker Descartes beantworten: So wir nicht von einem bösen Gott getäuscht werden, dürfen wir aus der Tatsache, dass wir die Frage überhaupt stellen können, für alle praktische Konsequenz ausreichend sicher schließen, dass wir noch leben.

»Hurra, wir leben noch!«, hieß auch eines der Johannes-Mario-Simmel-Bücher, die in meiner Jugend bei uns daheim im Regal standen und auf den Nachttischen lagen. Wir sind die Katze – doch: »Hurra, die Katze lebt noch!«

Der erste Satz jenes Simmel-Romans zitiert wiederum eine tschechische Roman-Figur, an die ich zuletzt häufiger denke, nämlich den braven Soldaten Schwejk, von welchem ich im Essay vom 14.1.2020 schrieb: »Auch in dir steckt ein kleiner Schwejk!«

Dieser erste Satz von »Hurra, wir leben noch!« ist praktisch ein Zitat eben jenes braven Soldaten, und er lautet: »Eine große Zeit erfordert große Menschen.«

Nein, dies ist keine »große« Zeit. Dies ist eine lächerliche Zeit, doch sie hat lächerliche Gestalten genug – lächerliche, gefährliche, zynische Gestalten, denen drecksegal ist, wie es der Katze geht, oder dem Beobachter, oder dem Beobachter des Beobachters, solange sie für sich ihren Teil von der Katze abschneiden und beiseite schaffen.

Dies ist eine lächerliche und gefährliche Zeit, und was diese Zeit erfordert, das sind ernsthafte und doch mutige Menschen.

Hurra, wir leben noch – wir wollen stets redlich bemüht sein, dass es auch so bleibt!

Weiterschreiben, Wegner!

Ich danke Ihnen, denn nur durch Ihre Unterstützung ist es mir möglich, in diesen (bislang 1,723) Essays wichtige Themen zu vertiefen:

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