Viel mehr Blumen während des Lebens, so lehrt eine alte Weisheit, und weiter: denn auf dem Grab sind sie vergebens.
Diese Weisheit stammt aus Zeiten, als die Menschen noch viel regelmäßiger, ja auch schon mal als ganze Familie, ihre Vorfahren auf dem Friedhof besuchten.
Die »Blumen« stehen für die Aufmerksamkeit und öffentliche Bekundung von Respekt, und vor allem für die eigene Zeit, die man dem anderen gibt, solange auf beiden Seiten dafür eben noch Zeit ist.
Alle Ehrungen nach dem Tod nützen dem Geehrten genau gar nichts. Seien wir ehrlich: Wir treiben diese Riten für uns selbst. Die Blumen auf dem Grab sind für uns, denn derjenige, der darunter liegt, der tut sich gerade mit dem Sehen und dem Riechen etwas schwer.
Aus sicherer Distanz
Jedoch, nicht immer ist es Lob, das spät kommt – zu spät. Manchmal ist es auch die Kritik, die den Kritikern erstaunlich spät einfällt!
In einem aktuellen Fall lebt die kritisierte Person durchaus, doch scheint sich aber weitgehend aus dem politischen Leben zurückgezogen zu haben (sie wird bloß vom Staat nicht nur fürstlich, sondern geradezu bischöflich versorgt).
Der Kritiker aber, den wir hier meinen, der ist 80 Jahre jung, und scheint nun hektisch einigen Gewissensballast loswerden zu wollen.
Seit nun einem glorreichen Jahr ist Olaf »Erinnerungslücke« Scholz der strahlende Kanzler des besten Deutschlands aller Zeiten, und damit ist Merkel es nicht mehr.
Herr Schäuble fiel schon zu Merkel-Zeiten gelegentlich damit auf, Merkel indirekt und höflich zu kritisieren. 2015 etwa hieß es, dass Schäuble und Merkel sich uneins seien, ja, dass Schäuble die Merkel »in der Hand habe« (Nikolaus Blome auf Englisch in politico.eu, 23.10.2015; oder etwa ft.com, 12.11.2015). Auch zur Griechenlandpolitik waren sie sich uneins (businessinsider.de, 26.5.2015). Doch nach etwas Gebrummel kuschte er dann doch zuverlässig, und er ließ Merkel ihr Zerstörungswerk vollbringen. Schäuble lehnte den »Putsch« gegen Merkel ausdrücklich ab (rnd.de, 15.12.2022). Soviel Demokratie wollte er dann doch nicht wagen, so ernst meinte er sein Gebrummel nicht. Merkels Macht ging ihm offenbar vor das Wohl des Landes: »Wir stürzen nicht unseren eigenen Kanzler, sondern wir stützen unseren Kanzler.«
Nun aber traut sich Herr Schäuble, aus sicherer zeitlicher Distanz, die ehemalige DDR-Funktionärin Angela Merkel (für seine Verhältnisse) endlich grundlegend zu kritisieren. Letzten Monat etwa zur Russland-Politik. (tagesspiegel.de, 18.11.2022: »Wir wollten es nicht sehen«).
T-Online titelt: »Als es um Merkel geht, wird Schäuble deutlich«. Der Text gibt Schäubles Kritik an der Energiepolitik der Merkel-Ära wieder, schließt dann aber geradezu süffisant:
Der heute 80-jährige Spitzenpolitiker gehörte damit eben jenen CDU-geführten Regierungskoalitionen an, unter deren Ägide die deutsche Energieabhängigkeit von Russland massiv ausgeweitet wurde. (t-online.de, 18.11.2022)
Und aktuell klingt die Kritik nochmal schärfer, umfassender und fast schon grundsätzlich.
Die BILD titelt ganz schockiert:
Starker Tobak im TV – Schäubles bittere Merkel-Bilanz – Ex-Bundestagspräsident wirft Altkanzlerin falsche Politik vor. (bild.de, 15.12.2022)
Schäuble sagt ja nun gute Dinge. Ganz richtig etwa über die Energiepolitik:
Wir sind in Europa in einer Lage, wo alle anderen sagen: Seid ihr eigentlich wahnsinnig? (Wolfgang Schäuble, zitiert in bild.de, 15.12.2022)
Mit Verlaub, ähnliche Aussagen las man etwa bei den Freien Denkern schon früher – und zwar als Frau Merkel noch Kanzlerin war. (Ich erwähnte das mit der Energiepolitik ja bereits im Buch »Talking Points«, und das erschien 2015.)
Mein Essay vom 20.9.2019 etwa hieß »Deutschland trinkt, um zu vergessen, dass es trinkt«, und die Einleitung lautete:
Offene Grenzen, Atomausstieg, Ökogaga – weil Merkel auf Tageslaune aufspringt, beschließt Regierung dumme Fehler, die das Land auf Jahrzehnte beschädigen. Wäre Merkel-Deutschland ein Mensch, hätte es fünf geschiedene Ehen und fünfzig Suff-Tattoos. (Essay vom 20.9.2019)
Schäuble umschreibt dasselbe recht genau, wenn er ganz Europa fragen lässt: »Seid ihr eigentlich wahnsinnig?«
Doch er sagt es heute. Und was Schäuble heute sagt, das ist die Art von banaler Wahrheit, für welche »die Schwefelpartei« einst zur solchen wurde, und die bekämpfte auch er.
Sogar das unselige Jahr 2015 findet in Schäubles später Kritik statt. »Es können natürlich nicht alle nach Europa kommen«, stellt er fest.
Womöglich bescheinigt Herr Schäuble sich selbst so etwas wie einen »Mut zur Wahrheit« – von außen sieht es nach »später Reue« aus.
Vom selben Zweck
Jene Redensart mit den Blumen auf dem Grab, noch während des Lebens, sie gilt erstaunlich präzise auch für die Kritik während des politischen Lebens.
Etwa so: Viel mehr Kritik während des (politischen) Lebens, denn auf dem (politischen) Grab ist sie vergebens!
Ich vermute, dass die sprichwörtlichen »Blumen auf dem Grab« demselben Zweck gelten wie etwa Schäubles späte Kritik an Merkel: Derjenige, der Blumen aufs Grab legt wie auch der späte Kritiker tun es für sich, beide wollen sich gut dabei fühlen, beide hoffen wohl auch eventuelle Schuldgefühle loswerden.
Ist es wirklich Mut?
Bereut Herr Schäuble sein halbes Jahrhundert an Parteitreue, seine Jahre als Rädchen in der Merkelmaschine? Ist sein frischer Mut zur Wahrheit ein Versuch, die durch Jahrzehnten politischen Treibens gründlich dreckig gewordenen Hände reinzuwaschen?
Ach, sparen wir uns die Ferndiagnosen! Ich weiß nicht einmal immer, warum ich tue, was ich tue. Ich schreibe aus Getriebensein und nenne es meine Moral. Wie kann ich wissen, was Herrn Schäuble wirklich treibt?
Für den Fall aber, dass Herr Schäuble sich »Mut« attestieren sollte, frage ich klärend nach: Ist ein Mut, der nichts kostet kann, wirklich Mut?
Zarte Landgewinne
Nein, ich halte Herrn Schäubles späte Kritik an Merkel nicht für Mut – schon gar nicht, wenn er sie doch wieder in Lobhudelei einwickelt.
Doch ich ziehe eine Lehre für uns daraus, und die lautet etwa: Werde nicht zum traurigen Fall wie Schäuble! Sei nicht ein williger Schemelhalter, wenn es dir nutzt – und gelegentliches Grummeln spricht dich nicht frei – um dann Jahre später dein Gewissen plötzlich aufzudrehen.
Und doch sehe ich Gutes an diesem traurigen Phänomen!
Dass ein Herr Schäuble jetzt zu meinen scheint, es sei endlich opportun, das Offensichtliche auszusprechen, das ist ein gutes Zeichen. Eine Schwalbe am Horizont, kurz vor Weihnachten, ist noch immer besser als keine Schwalbe.
Ich fühle einen zarten Optimismus in mir, und dieser vorsichtige Optimismus erzielt tatsächlich zarte Landgewinne gegen meinen inneren Zyniker.
Ich wünsche uns hier weiter und immer wieder den Mut zum Aufmucken – und zwar Aufmucken, solange es relevant ist, solange es etwas zum Besseren verändern kann.
Aufmucken, solange es relevant ist – das ist ein Ratschlag gegen späte Reue.
Und der andere gute Ratschlag bleibt weiterhin: Viel mehr Blumen während des Lebens!
Und jetzt, wo bald Weihnachten ist, wahlweise auch Stollen, Plätzchen und was uns Menschen sonst noch glücklich macht.