Dushan-Wegner

20.02.2023

Des Schusters blutige Hacken

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, robot in desert
Schusters Kinder haben die schlechtesten Schuhe, so sagt man – und der Schuster selbst läuft barfuß. Ich kenne nicht viele Schuster, aber dafür einen Philosophen, der das Loslassen predigt, doch sich mit ebendiesem schwertut.
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Schusters Kinder, so lehrt ein deutsches Sprichwort, tragen die schlechtesten Schuhe. Es soll bedeuten, dass während der Schuster seine Kundschaft mit feinem Schuhwerk versorgt, seine eigenen Kinder regelmäßig hintan stehen müssen.

Nun kenne ich persönlich keine Schuster, die tatsächlich Schuhe herstellen, doch ich kenne Handwerker und Freiberufler anderer Berufszweige, und da trifft diese Analogie zumeist ganz und gar nicht zu!

Die Kinder des Buchhalters schlafen gut, denn ihre Bücher sind tipp topp ordentlich. Die Kinder des Schreiners freuen sich über die feinen Holzarbeiten bei sich daheim. Und auch die Familie meines Hausarztes ist medizinisch bestens versorgt.

Die Redensart von des Schusters Kindern stammt vermutlich aus einer Zeit, als Schuster weiter verbreitet waren als heute. Ich nehme an, sie waren oft arme Leute, und sie konnten sich für die eigenen Kinder das gute Leder nicht leisten, welches sie für ihre Kunden verarbeiteten.

Und doch wenden wir diese Redensart noch heute an. Wir meinen aber keine buchstäblichen Schuster damit, und wohl auch keine anderen Handwerker.

Wir meinen es eher in dem Sinne, in welchem wir auch jenes Fragment aus Lukas 4:23 zitieren: »Arzt, hilf dir selbst!«

Wir meinen den metaphorischen Schuster. So wie man etwa in Israel sagt: »Der Schuster geht barfuß!«

Ich schreibe diesen Schuster-Text als Autor eines Buchs übers Loslassen.

Meine Texte sind in gewisser Hinsicht ja Dokumente all der politischen Angelegenheiten, die ich nicht wirklich loslassen kann – vielleicht auch gar nicht loslassen will.

Die Hoffnung auf eine Renaissance des öffentlichen Verstands, ich kann sie, gegen alle Plausibilität, einfach nicht loslassen. Die Wut über öffentlich gefeierten Irrsinn. Der ewige Versuch, das Unerklärliche zu verstehen, und dann doch zu erklären. Der Glaube, dass es einen Weg zurück geben kann, gegen allen Anschein. All dass vermag ich nicht loszulassen. Ich sollte wohl, doch ich kann nicht – und will wohl auch nicht, zumindest nicht mit ganzer Seele.

Und dazu natürlich die privaten Angelegenheiten, die zu listen mehr exhibitionistisch als notwendig wäre. Die Fehler, in denen man sich selbst der schärfste Ankläger, Richter und dann auch der strafende Folterknecht ist. Ach, wenn das Loslassen die Schusterei ist, dann läuft dieser Schuster nicht nur Barfuß, sondern inzwischen auch mit blutigen Hacken durch sein Leben.

Ja, dieses Leben ist eine tägliche und praktische Übung im Loslassen, und zuletzt lassen wir alles los, alle Trennung, alle Hoffnung, aber eben auch alles Weh.

Ich will mich weiter im Loslassen üben. Nur so kann ich die Kraft freisetzen, das festzuhalten, was mir wirklich wichtig ist, die Menschen und die Momente mit ihnen.

Das Leben ist eine Übung im Loslassen. Und doch halte ich an der Gewissheit fest, in dieser großen Übung nicht allein zu sein – und dieses Festhalten macht mich froh.

Weiterschreiben, Wegner!

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