Stell dir vor, du bist im Hafen. Oder in Nähe eines Hafens. Und stell dir weiter vor, dass es ein gewöhnlicher Yachthafen ist.
Riechst du sie, die Meeresluft? Hörst du die Möwen? Das Klappern der Seile im Wind? Gut.
Und nun stell dir noch die Menschen vor, die man im Hafen und um den Hafen herum so trifft.
Reeder und andere
Ich teile die Hafenmenschen in vier Gruppen:
Da sind die Gaffer und Beobachter. Touristen, Spaziergänger, verirrte Parkbootkapitäne. (Indem wir uns die Szene vorstellen und die eigene Vorstellung »betrachten«, zählen wir zu diesen Beobachtern. Nun gut. Reden wir von den Beobachteten.)
Die Wichtigen und Weltbeweger. Die Yachtbesitzer, die Reeder, die Männer, deren Macht und Bedeutung damit zusammenhängt, dass Menschen und Güter zuverlässig übers Meer bewegt werden.
Die Arbeiter. Etwa die Arbeiter, die Segel reparieren, Champagner auf die Yachten tragen und so weiter. (Und natürlich die zweifellos notwendigen Wirte in den Hafenkneipen!)
Und dann wäre da eine weitere Gruppe, deren Notwendigkeit zu häufig übersehen wird, und zwar: die Angler rund um den Hafen.
Was es braucht
Vor allen Yachten, vor allen Hafenpromenaden und Hafenkneipen, vor den Marinas und Luxusboutiquen, in den Zeiten also, die man »gut und alt« nennt, da diente das Meer anderen, ursprünglicheren Zwecken: dem Schwimmspaß für Frau und Kind. Und natürlich dem Angeln und Fischen, ausgeführt von Männern jeden Alters.
Der Fischfang war notwendig zur Sicherung der für die Entwicklung der Gehirne notwendigen tierischen Proteine. Morgen für Morgen saßen die Angler im Hafen, fuhren die Fischer aufs Meer hinaus.
Was täglich wiederholt wird, über Jahrhunderte und Jahrtausende, und was zugleich buchstäblich lebensnotwendig ist, das wird zum »Teil des Lebens« der Menschen, die in der Nähe dieses Hafens leben. Oder um einen modernen Begriff zu wählen: zu einem Teil der Identität.
Was aber sowohl die tägliche Nahrung sichert als auch ein Teil der Identität ist, das erfüllt gleich mehrfach alles, was es braucht, um notwendig genannt zu werden.
Angler als solcher
Heute kauft man Fisch im Supermarkt, so viel man will. Der Supermarkt-Fisch wird industriell gezüchtet oder von brutalen Schleppnetzen in Tonnen gefangen. Dennoch ist das Angeln notwendig – und wie!
Zuerst: Das Angeln tut natürlich der Anglerseele gut.
Im Mann existiert ein angeborenes Bedürfnis, zu sitzen und den Horizont zu betrachten. Die Evolution will es so, und mit »will es so« meinen wir: Ein Stamm, in dem genug Männer den Horizont beobachteten, lebte sicherer und hatte also bessere Überlebenschancen.
Zugleich ist dem Mann angeboren, immerzu etwas tun zu wollen. Auch hier wieder: Stämme, in denen die Männer immerzu etwas tun wollen, möglichst zum Wohl des Stammes, überlebten eher.
Der Angler erfüllt zuerst Notwendigkeiten, vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein, was ihm als Mann einprogrammiert wurde. Und einst diente das Angeln und Fischen im Meer auch den Notwendigkeiten seiner Familie. (Auch heute noch bringt mancher Hafenangler ein paar Fische heim, die er – oder natürlich seine geduldige Hälfte – lecker zubereitet.)
Notwendigkeit für uns
Doch der Angler bedient nicht nur seine innere, seelische und von der Evolution eingepflanzte Notwendigkeit!
Er erinnert uns an die Notwendigkeiten des Menschseins, derer wir uns womöglich nicht bewusst sind.
Die Frage ist nicht, warum der Angler angelt. Die Frage ist, was deine Rechtfertigung ist, nicht zu angeln!
Der Angler tut, wozu er geboren und von der Evolution programmiert wurde. Er tut, was einst dazu diente, das Überleben von Stamm und Familie zu sichern, weil es buchstäblich in seiner Natur liegt.
Jeder Angler erinnert uns daran, dass wir Menschen eine Geschichte und eine Natur haben, dass uns Notwendigkeiten eingepflanzt sind. Notwendigkeiten, die zumindest zu berücksichtigen uns weniger unglücklich macht – wenn nicht sogar glücklich. Damit aber sind, so meine ich, die Angler im Hafen notwendig.
Und so weiter
Nun mögt ihr euch fragen, warum ich, ein bisweilen als »politisch« beschriebener Essayist, so ausgiebig von Anglern und deren Notwendigkeiten schreibe. Nun, wir sprachen von den verschiedenen Gruppen im Hafen.
Da wären die Gaffer, wie wir (zumindest in diesen Gedanken). Die Gaffer, die Spaziergänger, die Gelangweilten, die Bürokraten, Grünenwähler, Funktionsjackenträger und so weiter. All jene also, über welche Zarathustra in einem bösen Moment ätzte: »Für die Überflüssigen ward der Staat erfunden!«
Da wären die Besitzer der Yachten, die Weltbeweger und Wirtschaftskapitäne. (An dieser Stelle diskutieren wir nicht die Notwendigkeit erfahrener, nachgewiesen erfolgreicher Weltbeweger. Wir führen uns lediglich kurz vor Augen, wie es den einfachen Menschen in Nationen ergeht, in denen Yachtbesitzer vertrieben oder gleich erschossen wurden, um die enteigneten Yachten an Parteifunktionäre umzuverteilen.)
Und dann sind da die Arbeiter und Angler. Die Männer, welche die Maschinen reparieren und die Kisten schleppen. Und die Männer, die uns daran erinnern, woher wir kommen und was unsere Notwendigkeiten sind.
Ein anderer Anteil
All diese Erklärungen und Bebilderungen dieses politischen Essayisten dienen einem einfachen Zweck. Ich will eine Erklärung dazu versuchen, wer in den USA einen Trump und in Deutschland die AfD wählt. Im Sinne dieser Metapher: Es sind die Yachtbesitzer, die Arbeiter und die Angler. Vor allem aber die Angler und alle »Angler im Herzen«.
Wer weder Trump noch die AfD wählt, ist im Geist dieser Metapher vermutlich den Beobachtern, Spaziergängern und Bürokraten zuzuordnen.
Hier drängt sich natürlich eine brennende Frage auf, die wohl an anderer Stelle abzuhandeln wäre: Warum ist der Anteil der Beobachter, Spaziergänger und Bürokraten im Hafen Deutschland so viel größer?