»Heimat gibt es auch im Plural«, »Menschlichkeit kennt keine Obergrenze«, »Angst hat man vor dem, was man nicht kennt«; wir haben sie alle gehört, diese Holzhammer-Phrasen deutscher Gebrauchsmoral. – Alexander Kissler vom Cicero hat es auf sich genommen, einige der notorischsten Phrasen aufzuspießen und zu zerpflücken.
Die Einleitung setzt so an:
Wer über die Worte bestimmt, der beherrscht das Den- ken. Wer ein neues Denken etablieren will, muss den Worten einen neuen Sinn geben. Solche Umwertungs- versuche hat es immer gegeben, und es gibt sie heute. Der Begriff »Mut« etwa meint manchmal die Tugend dessen, der im Widerspruch zu den herrschenden Ten- denzen seiner Zeit handelt, und manchmal ist er nur das Etikett auf einem gewünschten Konsumverhalten.
Eine Leseprobe aus dem Kapitel »Willkommenskultur ist der beste Schutz vor Terror«:
»Willkommenskultur« ist ein Begriffsungetüm. Es zwingt zusammen, was kategorial auseinanderstrebt, das Punktuelle und das Dauernde, den Moment und die Generationenfolge. Diese Disparatheit ist den »Neuen deutschen Medienmachern« nicht entgangen. In ihrem Glossar mit »Formulierungshilfen für die Berichter- stattung im Einwanderungsland« (Stand 1. September 2017) halten sie auf Seite 18 fest, der »Medienwissen- schaftler Alexander Kissler« habe darauf verwiesen, »dass sich das Wort ›Willkommen‹ nur auf den kurzen Vorgang des Kommens beziehe, also keinen sich verstetigenden Zustand bezeichnen könne«. In der Kolumne »Kisslers Konter« vom 8. September 2015 hieß es bei cicero.de, es »mögen noch so viele Menschen in diesen Tagen an Bahngleisen stehen und Schildchen mit ›Welcome!‹ den Asylsuchenden, den Migranten und den Flüchtlingen fast hysterisch entgegenrecken. Individuell ist es hochsympathisch, kollektiv ist es albern. Am Bahnsteig hat die Geste ihr Recht, bei den ersten Schritten auf fremdem Boden, wohin sich die Einreisewilligen aus sehr disparaten Gründen und auf teillegalen Wegen aufmachten. Willkommen, daran erinnert das Grammatisch-kritische Wörterbuch von Adelung, willkommen meint ›bei der Ankunft angenehm‹, ›an- genehm in Ansehung der Ankunft‹. Nur stationär lässt sich der Ausdruck sinnvoll verwenden, nur im Moment. ›Willkommen!‹ ist Ausdruck eines Auftakts und unmöglich ins Rasterbett einer Kultur zu zwingen.«
Dereinst werden (hoffentlich) Historiker wie wohl auch Psychologen darüber rätseln, wie es zum 2019 noch immer andauernden Versagen von 2015 kommen konnte – Kissler liefert ihnen mit »Widerworte« bereits jetzt gut lesbar aufbereitetes Material.
Wer Freude an der Vivisektion politischer Sprache empfindet, wird an Kisslers Widerworten einige Freude haben – und zugleich ist es ein Buch für alle Freunde der sozial-politischen Geschichtsschreibung, mit der Besonderheit, dass diese Geschichte just in der Zeit passiert, in welcher dieses Buch erschienen ist.