07.05.2025

Der Anfang des Anfangs

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Startschwierigkeiten
Wer gleich zu Beginn eines Rennens auf die Nase fällt oder sich gar schon beim Start verläuft, der wird kaum siegreich sein. Da sind wir uns einig, oder? Nun, lasst uns über den Start in den Tag reden!
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Wenn einer ein Rennen läuft, sagen wir über hundert Meter oder über zweihundert, und wenn der gleich auf den ersten Metern stolpert, fällt und sich das Gesicht verformt, wie steht es um seine Aussicht auf Erfolg?

Nicht gut. Seine Aussicht ist nicht gut. Wer schon zum Start hinfällt, die falsche Richtung einschlägt oder gar nicht erst losläuft, so einer wird kaum siegen, vermutlich nicht einmal, wenn er ganz allein laufen sollte.

Diese simple Metapher beschreibt eine der ärgsten Krisen der Neuzeit, so meine ich. Dieser Start, den ich beschreibe, ist der Start in den Tag. Wir erleben eine globale Krise des Starts in den Tag.

In der ersten Stunde

Die Gedanken der ersten Sekunden und Minuten meines Tages sind mein Start in den Tag. Die Menschen beginnen den Tag, und die Gedanken, mit denen sie den Tag beginnen, sind Schrott, sind schädlich, sind verheerend für Glück und geistige Gesundheit.

Es gibt Menschen, die ihren Tag damit beginnen, noch mit halb geschlossenen Augen nach dem Smartphone zu greifen und durch Social Media zu scrollen.

Es gibt Menschen, die sich in der ersten Stunde ihres Tages mit YouTube-Kommentatoren vergiften.

Es gibt Menschen, die zum Aufwachen noch ganz andere Dinge tun, welche ähnlich schädlich sind, aber anders als digitale Drogen traditionellerweise geächtet werden. (Ich hörte letztens, dass Schulkindern in Frankreich früher während der Schulzeit richtiger Wein gegeben wurde!)

Wie aber soll man den Tag beginnen, wenn nicht mit der heute üblichen digitalen Vergiftung?

Auf rituelle Weise

Die verschiedenen Religionen haben unterschiedliche Morgenrituale und Gebete zum Wachwerden entwickelt. Hindus kennen die Morgenandacht Sandhya Vandana. Buddhisten rezitieren Sutras. Praktizierende Juden beten das Modeh Ani und waschen die Hände auf rituelle Weise. Im Islam ist das morgendliche Fajr-Gebet das erste der fünf täglichen Gebete.

Womit ich den Tag beginne, »programmiert« mich für den Tag. Die Morgenrituale der Religionen »programmieren« die Praktizierenden im Sinne der Religion, ihrer Moral und Dogmen.

Ich verstehe, warum die Menschen nicht mehr einer Religion angehören wollen. (Nota bene: »Ich verstehe« bedeutet nicht »Ich freue mich darüber.«)

Doch mit dem Unverstandenen und dem Ärgernis berauben wir uns auch des Nützlichen – wenn nicht sogar des Lebensnotwendigen.

Wer nicht mehr an höhere Entitäten zu glauben vermag, ja, wer nicht einmal sagen könnte, was Glaube überhaupt bedeutet, der wird konsequenterweise auch nicht mehr am Morgen zu diesen höheren Entitäten »sprechen« wollen. Also gibt er mit der Religion auch die Morgengebete auf.

Wer aber die »Programmierung« durch die religiösen Morgenrituale aufgibt, wird dadurch nicht »nicht programmiert« ‒ er wird von anderen Faktoren »programmiert«. Statt der Programmierung durch religiöse Formeln erfolgt eben die Programmierung durch Social-Media-Schrott oder Polit-YouTube-Bitterkeit. (Und wer regelmäßig Mainstream-Medien konsumiert, wird eben von der Propaganda programmiert. Ein solcher aber ist ohnehin für Himmel und Menschen verloren.)

Wir brauchen neue Gebete, Rituale ohne Religion. Ich diskutiere hier nicht Dogmen, nicht die Vor- oder Nachteile des Glaubens. Über persönliche Glaubenswege zu diskutieren, also Sachargumente vorzutragen, ist so sinnvoll wie über Wittgenstein ein Ballett aufzuführen. (In dieser verwirrten Zeit fände auch das gewiss ein Publikum.)

Wer ‒ außer unseren Selbstzweifeln ‒ hindert uns denn, eigene neue Rituale zu entwickeln?

Gleich …

Wir brauchen ein Morgengebet, das wir natürlich nicht »Gebet« nennen, aber ein Name findet sich schon noch.

Wie auch immer wir es nennen, ich finde, wir sollten vor allem realistisch sein. Die meisten von uns werden sich nicht abgewöhnen, am Morgen nach dem Smartphone zu greifen. Also müssen wir noch früher ansetzen.

Meine Idee ist: Wir entwickeln ein eigenes Ritual, welches beginnt, bevor wir die Augen öffnen.

Es ist in Ordnung, sein »Morgengebet« abzulesen, ob auf dem Smartphone oder vom Papier. Doch wenn wir noch vor dem Augenöffnen beginnen wollen, müssen wir zumindest den ersten Absatz auswendig beherrschen.

Was aber sollen wir sagen?

Das Naheliegendste wäre: »Gleich, wenn ich meine Augen öffne …«

Hey, das klingt doch gut!

Das kann ich mir merken. Vielleicht noch ein oder zwei Zeilen dazu.

Und morgen dann will ich mir weitere Gedanken machen, über Dankbarkeit und gute Absichten und noch einiges mehr.

Aber immerhin ist ein Anfang gemacht. Ein Start für den Start für den Start.

Nach einem solchen Start muss es doch gut weitergehen! Bald dürfen wir sogar die Augen öffnen. Aber noch nicht.

Weiterschreiben, Wegner!

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