In Brandenburg wurde gewählt. Der Wahlsieger bei den 18- bis 29-Jährigen war die AfD (welt.de, 23.9.2024). Bei den 30- bis 44-Jährigen war es die AfD. Bei den 45- bis 59-Jährigen war es die AfD.
Gewann die AfD also die Wahl? Nein, denn in der Wählergruppe 60 Jahre und älter war es dann die SPD, und die wurde dann auch die stärkste Partei. Die Brandenburgwahl gibt »Altparteien« eine ganz neue Bedeutung.
Ich weiß, dass nicht wenige von euch in der Alterskohorte 60 plus sind. Auch ich werde in einem Jahrzehnt dort ankommen. Doch ich bin mir sicher, dass niemand von euch, die ihr mir hier zuhört, in diese ominöse Wählergruppe gehören.
Mich würde vielmehr interessieren, wie viele derjenigen, die die SPD wählten, sich selbst zum Wahllokal fuhren — oder fahren durften. Mich würde interessieren, wie viele derjenigen, die die SPD wählten, wissen, welches Jahr wir aktuell schreiben und welchen Monat. Mich würde interessieren, wie viele der SPD-Wähler per Brief wählten, wobei ihnen ein Pfleger helfend zur Seite stand. Und so weiter und so fort.
Es ist egal
Ich würde wirklich gern an freie und faire Wahlen in Deutschland glauben. Doch Wahl um Wahl ist wie einmal mit kaltem Wasser abduschen: Es bringt dich schnell in die Realität zurück.
Junge Menschen lernen in Wahlen heute: Es ist egal, wen du wählst. Die SPD wird mindestens zahlenmäßige – oder tatsächliche – Altersheime aktivieren, um deine Stimmen zu neutralisieren.
Das System wird einen Weg finden, die alten »Eliten« an ihren Pfründen zu halten. Lasst uns hier einen Namen und einen Begriff erwähnen: Colin Crouch und »Postdemokratie«. Crouch erfand den Begriff »Postdemokratie« nicht, doch er popularisierte ihn mit seinem Buch dieses Titels.
Colin Crouchs Postdemokratie-Theorie beschreibt den Zustand moderner Demokratien, in denen die formalen demokratischen Strukturen wie Wahlen und Parlamente zwar bestehen, die tatsächliche politische Macht aber zunehmend von Eliten und Konzernen ausgeübt wird.
Politischer Diskurs »light«
Bürger verlieren an Einfluss, und politische Prozesse werden von Lobbyismus, wirtschaftlichen Interessen und technokratischen Entscheidungen geprägt. Wahlen sind mehr Ritual als wirkliche Entscheidungsmacht. Der politische Diskurs verkommt zu mediengesteuerten Spektakeln, die auf oberflächliche Botschaften statt tiefgehende Diskussionen setzen.
In einer Postdemokratie nehmen die ideologischen Unterschiede zwischen den großen Parteien ab, und die politische Partizipation der Bürger sinkt. (Insofern wäre die AfD die einzige demokratische, da eben nicht-postdemokratische Partei.)
Politik wird stark professionalisiert, während die Menschen sich von den Entscheidungen und Institutionen entfremdet fühlen.
Crouch sieht dennoch Hoffnung, diesen Zustand zu überwinden, indem man demokratische Werte stärkt, soziale Bewegungen fördert und neue Formen der Bürgerbeteiligung etabliert. Natürlich ist das Bullshit – diese »Zivilgesellschaft«-Initiativen sind doch geradezu prototypische Phänomene für die Postdemokratie. Aber gut, Crouch verdient sein Einkommen als Mainstreamer. Crouchs »Hoffnung« erinnert mich an die Schlusskapitel in Descartes’ Meditationen, bei denen man das Gefühl hat, das muss er jetzt schreiben, um nicht Einkommen und/oder Kopf zu verlieren.
Asche und Erinnerungen
Mich bezüglich der Demokratie einen Pessimisten zu nennen, wäre falsch, weil zu optimistisch. Ein Pessimist beschreibt einen zukünftigen Zustand – wenn, dann bin ich Gegenwartspessimist. Ich sehe kein zu rettendes Haus. Seht euch doch um, lest und hört die Nachrichten! Sind das noch Flammen, jung genug, dass sie zu löschen wären? Oder ist es längst die entspannt qualmende Asche?
Tröstet euch … nein, tröstet euch nicht! Gönnt euch nur ein wenig Wehmut. Wenn dein Haus bereits niedergebrannt ist, dann hast du noch das Grundstück, die Papiere und vor allem die vielen Erinnerungen an die schönen Momente, die du und deine Lieben in dem Haus verbracht haben.
Selbst wenn keine einzige SPD-Stimme in Brandenburg mithilfe »freundlich helfender Genossen« gewonnen worden wäre, so wäre die Wahl dennoch nicht »fair« und also »demokratisch« gewesen. Ein milliardenschwerer Propaganda-Apparat attackiert unablässig jeden oppositionellen Gedanken. Wer aus der Reihe denkt, muss um seine Existenz fürchten. Zu widersprechen bedeutet, sich selbst vors soziale Erschießungskommando zu stellen.
Selbst wenn – entgegen aller Lebenserfahrung – jeder Brandenburger SPD-Wähler seine Stimme für den Niedergang nach reiflicher Abwägung und ohne »freundliche Betreuung« durch Genossen abgegeben hätte, wäre keine Wahl in einem Staat mit ARD, ZDF und ungezählten steuerfinanzierten Propagandavereinen im vollen Sinne »demokratisch« zu nennen.
Raus aus dem Zynismus!
Ich halte mich nicht für einen Pessimisten, sondern für einen Realisten. Ich suche nach Wegen, wie wir mental damit klarkommen, wie wir herauskommen, uns nicht auch seelisch gefangen nehmen lassen. Ein pessimistischer Realist, ein handelnder Optimist.
Wir sind Bürger in der Postdemokratie. Was bedeutet »Bürger«, wenn »Demokratie« nur noch als »unsere Demokratie« auftritt? Wenn »Demokratie« nicht mehr »Herrschaft des Volkes« meinen kann, sondern »Herrschaft der Guten«, mit einer pervertierten Bedeutung von »gut«? Wenn das Wort »unsere« nicht »uns« einschließt, sondern nur die »Eliten«?
Ich will einen Weg heraus aus dem Zynismus finden. Und kann ich auch nichts an den Zeiten ändern, will doch zumindest sicherstellen, nicht am Wahnsinn der Zeit wahnsinnig zu werden.
Jetzt muss ich aber für heute Schluss machen. Jemand klopft an der Tür. Er sagt, er habe meine Tabletten und einen Zettel, auf dem ich ein Kreuz machen soll. Ich mache besser, was er sagt, sonst wird man mich morgen wieder mit kaltem Wasser waschen.