In Christchurch (Neuseeland), haben nach aktuellem Stand der Nachrichten einer oder mehrere Attentäter bei Anschlägen auf zwei Moscheen und wohl auch weitere Orte mindestens 49 Menschen getötet.
Im Internet kursiert ein Manifest, das von einem der Attentäter stammen soll. Erste Medienberichte scheinen die Authentizität zu bestätigen (siehe etwa dailymail.co.uk, 16.3.2019).
Der Autor bezeichnet sich als »ethno-nationalistischer Öko-Faschist« und er mordete, so das Manifest, um die »weiße Rasse« und die angeblich durch »Überbevölkerung« bedrohte Umwelt zu schützen. – Das Manifest wirkt wie eine sarkastische Mischung aus Klischee-Phrasen und »Memes«, mit dem Ziel, zitiert zu werden und über die Tat hinaus zu wirken.
Es gibt ein Video vom Anschlag. Es wurde von einer Kopfkamera aufgenommen und als Live-Video via Facebook gestreamed. Über Soziale Medien hat sich das Video des Anschlags verbreitet. Es ist schrecklich. Man wünscht, man hätte es nicht gesehen.
Das Live-Terror-Video ist ein Novum selbst für eine an schrecklichen Bildern nicht arme Zeit. Die Bilder sind aus der Perspektive des Mörders. Man sieht seine Opfer, sie sind im Gotteshaus. Sie wollten beten. Er tötet sie. Die Perspektive wirkt wie ein First-Person-Shooter-Computerspiel, aber mit echten, um ihr Leben fürchtenden Menschen.
Das Manifest
Ich habe mir das im Internet kursierende Manifest genauer angeschaut.
Das Machwerk ist über weite Strecken in Frage-Antwort-Form aufgebaut.
Der Attentäter beschreibt sich selbst so:
What are your views?
I am an Ethno-nationalist Eco-fascist. Ethnic autonomy for all peoples with a focus on the preservation of nature, and the natural order
Er sieht sich als »ethno-nationalistischer Öko-Faschist«, der eine »natürliche Ordnung« bewahren möchte – sagt er. Wir wissen nicht, wieviel davon ernst gemeint ist, und wie viel nur Provokation sein soll, doch macht es einen Unterschied?
Die Motivation des Täters, inklusive seiner Ökologie, scheint zuerst rassistisch zu sein. Er unterstützt, sagt er, jene, die eine Zukunft der »weißen Kinder« wünschen. Dass er Muslime ermordete, begründete er damit, dass jene angeblich mehr Babys bekommen und so die »weiße Rasse« verdrängen. Er hat dem Manifest den Titel »The Great Replacement« gegeben; das könnte eine Anspielung auf das Buch »Le Grand Remplacement« von Renaud Camus sein.
Der Täter hat Feuerwaffen gewählt, so das Manifest, weil diese eine besondere Wirkung auf die Debatte hätten. Selten war ein Anschlag so präzise auf mediale Wirkung hin konzipiert.
Der Frage-Antwort-Stil stellt Fragen, die ein Durchschnitts-Journalist stellen würde – und er gibt oft sarkastische Antworten, die mit linken und rechten Klischees spielen.
Viele Stellen wirken wie ironisches »Trolling« (Internet-Provokation), so etwa, wenn er behauptet eine schwarze US-Konservative hätte ihn radikalisiert, dass er den Friedensnobelpreis erwartet, wie ihn auch Nelson Mandela einst bekam. Er spricht von Morden an Politikern. Er sagt, was es braucht, um von einer fast nur noch auf Triggerwörter reagierenden Medienöffentlichkeit viral verbreitet zu werden.
Der Autor des Manifests stellt sich selbst die Frage, ob er Faschist sei, und antwortet dann hämisch, »Yes.«, und Journalisten würden lieben, dass endlich einer, den sie Faschist nennen, auch tatsächlich ein solcher sei.
Das Manifest bedient sich an Argumenten von beiden Seiten des politischen Spektrums (und bestätigt nebenbei die Hufeisentheorie). Die angegebenen Motivationen kombinieren Rassismus und Umweltschutz, explizit und wiederholt. Es heißt, dass die Umwelt von Überbevölkerung zerstört wird, und dass indem man die »Eindringlinge« tötet, man auch die Überbevölkerung »tötet« – und die Umwelt rettet.
Der Text sieht Trump als Symbol »weißer Identität«, sagt er, lehnt ihn aber ansonsten ab. Für Konservative, Demokratie und einiges andere hat man gleichermaßen Verachtung übrig (»There is no democratic solution«, et cetera).
In seiner verächtlichen Einstellung zur Demokratie ähnelt der Text durchaus einigen in Europa zu findenden Positionen, welche demokratische Debatten, parlamentarische Entscheidungswege und Rechtsweg durch charismatische Akklamation und gefühltes Recht ersetzen zu wollen scheinen.
Das Manifest beruft sich mehrfach auf den faschistischen Politiker Oswald Mosely; der Autor nennt sich selbst einen echten Faschisten. Der Autor hat sich in seinem eigenen Todeskult eingerichtet (»Accept Death, Embrace Infamy«).
Insgesamt wirkt das Manifest wie der Versuch, den Riss in der westlichen Gesellschaft weiter zu vergrößern. Die ersten Reaktionen zeigen, dass es ihm gelingen könnte. Das Stöckchen, das der Mörder in seiner Mischung aus Memes, Phrasen und perversem Sarkasmus den Linken und Medien hinhält, ist für manche viel zu verlockend.
Der Autor (oder: die Autoren) des Manifests haben Versatzstücke politischer Phrasen und Standpunkte (oft: »Memes«) zusammengetragen, explizit mit dem Ziel, Meinungslager gegeneinander aufzubringen.
Einigen Lesern des Manifests fiel auf, dass das Manifest stellenweise wie das linke Klischee eines »bösen Rechten« klingt, und doch wäre es absurd, ein »false flag« zu vermuten, dafür ist der Text zu zielgerichtet und enthält durchaus eigene Elemente. Wir haben es wohl mit dem Terror des Medienzeitalters zu tun; heute ist jeder seine eigene Presseabteilung, und nicht nur der IS weiß mit der Logik der Massenmedien und der Logik der Sozialen Medien zu »spielen«. Der Autor des Manifests gibt Medien die Zitate, nach denen ihnen dürstet. Manche Formulierungen sind sarkastisch, andere sind zwar irre, aber ihm wohl ernst, einige rassistisch, andere Formulierungen übernehmen Themen, die auch in »normalen« Kreise debattiert wird. Zusammen mit den fürchterlichen Bildern des Anschlags ist dieser Anschlag ein ganz neues Phänomen, das wir zwar verstehen können, aber kaum begreifen.
Der Autor des Phrasen-Manifests will die westliche Gesellschaft spalten. Er sagt quasi: »Nehmt diesen Bullshit und schlagt damit aufeinander ein, damit vollendet ihr meine Tat!« – Es ist zu befürchten, dass seine Mathematik aufgeht.
Man vergisst die Bilder nicht
Man kann nicht nicht auf das Massaker von Christchurch reagieren. Man wünscht, man hätte die Videoaufnahmen von Christchurch nicht gesehen.
Wer unglücklich genug ist, das Video gesehen zu haben, der hat Menschen in den letzten Sekunden ihres Lebens erlebt. Man sagt ja stets, dass das Mitgefühl den Opfern und Familien gilt, doch selten war es intensiver wahr als heute.
Instrumentalisierung
Der brutale Terroranschlag von Christchurch wurde schnell instrumentalisiert von jenen, die alles instrumentalisieren, man hörte es erst aus den USA, dann, als man aufwachte, in Europa.
Wer Debatte über bestimmte Ideen verhindern will, der wird den Anschlag eines rassistischen Anti-Demokraten und »ethno-nationalistischen Öko-Faschisten« für seine Zwecke zurechtbiegen, und dessen Motivationen wie Anti-Imperialismus, Arbeiterrechte und Umweltschutz wird man unter den Tisch fallen lassen.
Wer Stücke aus dem »Manifest« herausnimmt, um seinen politischen Gegner mit dem Terroristen gleichzusetzen, vollendet dessen Werk. Die ersten Meinungsmacher haben bereits begonnen, die Phrasen des Manifests mit der Sprache ihrer politischen Gegner zu vergleichen – sie sind zu blind, um zu sehen, wohin dieselbe Argumentation bei einem islamistischen Anschlag führt.
Anderswo hört es nicht auf
Während die Mörder von Christchurch unschuldige Menschen niederschossen, hören Gewalt und Hass anderswo ja nicht auf! Erst im Januar wurden 21 katholische Christen bei einem Anschlag des IS getötet (spiegel.de, 27.1.2019). Vom Gaza-Streifen aus wurden gestern Raketen auf Tel Aviv geschossen, Israel schlug zurück (bild.de, 15.3.2019). Im toleranten Berlin Kreuzberg soll heute eine verurteilte palästinensische Terroristin einen Vortrag über »Palästinensische Frauen im Befreiungskampf« halten (bild.de, 15.3.2019).
Vom Faustschlag zum Terroranschlag
Auch in Europa gibt es extremistische Positionen, die Demokratie heimlich oder öffentlich verachten, und die Gewalt als legitimes Mittel der Auseinandersetzung ansehen.
Jedes Leben kommt nur einmal, und nichts ist wertvoller als das Leben. Nichts wird denen, die heute einen Menschen verloren haben, diesen Menschen wiederbringen.
Lassen Sie uns gerade deshalb bekräftigen, was wir jeden Tag sagen: Demokratie und Rechtsstaat müssen sich durchsetzen gegen jeden, der meint, aus diesen oder jenen Gründen über Recht und Gesetz zu stehen.
Ob nur ein Faustschlag gegen den politischen Gegner oder ein Terroranschlag mit dutzenden Toten, keine Idee rechtfertigt es, der Idee wegen einem anderen Menschen auch nur ein Haar zu krümmen.
Wenn man das Manifest als authentisch betrachtet (was diverse Medien tun, mir ist bislang kein Widerspruch bekannt), dann ist der Terrorist von Christchurch ein rassistischer Anti-Demokrat, der politische Ziele mit Hilfe brutaler Gewalt durchsetzen will; zudem ist er einer, der genau versteht, wie politische Debatten im Empörungszeitalter funktionieren. Wer Zitate aus dem Manifest nutzt, um auf den politischen Gegner einzuschlagen und die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben, der vollendet ein Stück weit das eigentliche Werk des Mörders.
Der Text des angeblichen Manifests verschmilzt Ideologie mit »Rasse«, also Hautfarbe, eine gefährliche Denkweise, die leider auch in Europa zu finden ist. Der Autor erklärt, bereit zu sein, Menschenleben für Umweltschutz zu opfern – ist das ein Thema, das wir in Europa fürchten müssen? Muslime wurden laut Manifest als Anschlagsziel gewählt, weil sie angeblich besonders viele Kinder haben, und so laut Manifest den beiden Hauptzielen des/der Autoren im Wege stehen, der Bewahrung der »weißen Rasse« und dem Umweltschutz (»environment« findet sich 21 mal im Schriftstück).
Der Autor des Manifests will spalten. Er will die Gesellschaft auseinanderreißen. Wenn die Gesellschaft diese Leute lässt, wird es ihm gelingen. (Unvorsichtige Medien könnten dem Terroristen beim Spalten helfen, denn Spaltung bringt Klicks. Zudem: Man wird Inhalte herausziehen, die gegen den politischen Gegner angewendet werden können, und die anderen ignorieren.)
Der Horror von Christchurch ist eine blutige Mahnung an zivilisierte Gesellschaften, niemals, wirklich niemals, Angst und Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung zu akzeptieren, niemals Menschen physisch zu bekämpfen, weil man keine Argumente gegen ihre Ideen hat, weil man sie zu überzeugen versagte. Es ist besser, sich zurückzuziehen, als auch nur einen Finger wegen einer Idee zu erheben.
Der/die Täter hat/haben die Demokratie abgeschrieben und wollen die Gesellschaft spalten, bis hin zur offenen Gewalt – lassen wir es zu?
Es ist kein schöner Freitag.
Es ist ein Freitag, an dem wir in uns gehen sollten, wieder einmal.
Es gilt, auch weiterhin: Trauert mit den Trauernden. Stärkt die Lebenden. Liebt die Menschen, doch prüft ihre Ideen.
Und: Trennt euch von jenen, die sich in den Wahn steigern, ihre politischen Ziele mit Gewalt durchsetzen zu dürfen.