16.09.2018

Es geht um Heimat, es geht immer um Heimat

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von Immo Wegmann
Brüssel greift Orbán an. In Werder sollen junge Männer neben Schule angesiedelt werden. In Chemnitz wird »Bürgerwehr« verhaftet. – Die meisten heutigen Konflikte laufen in derselben Frage zusammen: Was dürfen wir noch Heimat nennen?
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Unser geschätztes Tochterherz hat zwei Arten von Interessen: Zum einen sind da die Tätigkeiten, von denen sie weiß, dass Elli und ich sie ebenfalls zu schätzen wissen. Das Beherrschen von Sprachen zählt dazu, das Klavierspielen sowieso und das Einsammeln guter Noten in der Schule selbstverständlich auch.

Und dann sind da die anderen Tätigkeiten. Dinge, die völlig okay sind und zur Kindheit gehören, die jedoch – ich sage es mal so – keine Extra-Motivation durch die Eltern brauchen.

Zu dieser zweiten Gruppe gehört: Mit Freundinnen irgendwelche Popsongs hören (für die Mädels sind es natürlich nicht »irgendwelche« Songs, sondern ganz moderne und wichtige Hits, es ist nur der 44-jährige Vater, der findet, dass das Gedudel ähnlich klingt – doch meine Eltern konnten wohl auch nicht Sugarhill Gang von Grandmaster Flash unterscheiden) – und während sie diese Popsongs hören, tanzen sie auch dazu. Wenn es Abend ist, spielen sie auch Disco, und am nächsten Tag brauchen wir ein oder zwei neue Glühbirnen. Die »glühen« ja heute nicht mehr, sondern sind »Stromsparbirnen«, und neu brauche ich sie nach dem Tanzabend mit Lichtschalter-Disco dennoch, doch was tut und zahlt man nicht alles, um den pubertierenden Nachwuchs glücklich zu halten. – Wichtiger Rat für mich und andere Eltern: Dass es nervt und die Zahnkronen vibrieren lässt, macht es noch nicht falsch!

Augenrollen

Vorm Wochenende fragte unser Tochterherz uns also, ob ihre Freundin zum Spielen vorbeikommen darf.

Aha!, dachten Elli und ich, ein Wunsch! Ein berechtigter Wunsch, kein Zweifel, aber dennoch ein Wunsch, und wo ein Mensch einen tiefsitzenden Wunsch verspürt, da bietet sich die Gelegenheit zum Profit.

»Aber selbstverständlich kann deine Freundin vorbeikommen, ich mache auch etwas zu essen für euch«, sagte Elli.

»Super«, nickte das Tochterherz, mit jener Selbstverständlichkeit, die der pubertierenden Jugend zueigen ist. Wenn man den Blagen die Welt auf dem Silbertablett reichte, würden sie sich beschweren, warum es nicht zum Gold gereicht hat.

»Aber, nur wenn«, setzte ich zu ergänzen an.

Vorsichtige Panik bei der Tochterin: »Aber nur, wenn was?!«

»Aber nur, wenn du dein Zimmer aufräumst!« – Ha, ich wusste doch, dass sich da ein Profit machen ließe!

Das folgende Augenrollen der weiblichen Hälfte unseres Nachwuchses hätte wahrscheinlich, so jemand es an einen Generator anzuschließen wüsste, einige Minuten lang die nationale Stromversorgung gesichert. Ich bin nichtsdestotrotz guter Dinge, dass auch aus ihr einst ein anständiger Bürger wird, denn sie fand sich nach etwa so engagiertem wie wirkungslosem Protest mit der Bedingung ab.

Der gute Bürger murrt und augenrollt und findet sich dann eben doch ab. Was soll die Tochter auch machen? Mich abwählen? Für ihren kleinen Bruder stimmen, als »Protestpartei« quasi? Viel Glück damit!

Enthusiasmus

Der Wunsch nach der Besprechung hochwichtiger Tagesangelegenheiten (»die hat das zu der gesagt!« »Nein, oh« »Doch!« »Hihihi«), nach Popmusik und gemeinsamem Getanze, dieser Wunsch war dann doch stark genug, und die Tochter fing mit der Zimmergroßreinigung an! Ja, sie vergaß alles Augenrollen und wurde richtig enthusiastisch. Und, man glaubt es fast nicht: Selbst ihr kleiner Bruder Leo wurde vom Aufräumfieber angesteckt! Kaum war sie mit dem einen Zimmer fertig, räumten sie einfach im Wohnzimmer auf! Die Kinder gewährten uns Eltern die Gnade, das im Wohnzimmer verteilte Lego aufzusammeln! Ich werde gleich morgen zur Papeterie eilen und einen großen Kalender erstehen, nur damit ich diesen Tag dick und rot anstreichen kann.

Als ich, etwas später, aus meinem Arbeitszimmer herauskam und das Wohnzimmer begutachtete, hatte ich ein klein wenig Tränen in den Augen. Zum Teil aus Stolz und Glück ob der fast vollkommenen Ordnung, zum Teil weil ich barfuß dastand und die Kinder doch noch ein Stück Lego übersehen hatten.

Die Kinder strahlten vor Stolz über ihr Aufräumwerk. Elli lehnte in Schräglage an der Wand, heilfroh, dass nichts (was ich merkte) beim kindlichen Aufräumen in Bruch gegangen war, und ich merkte: Wow, ein schönes Zuhause!

Unser Zuhause ist schön, und wahrscheinlich ist Ihres genauso schön. Doch eine Wohnung wird erst durch unsere eigene Arbeit (oder in diesem Fall die Arbeit der eigenen Kinder) zum wirklichen Zuhause.

Erst wollte die Tochter sich nur die Erlaubnis, ihre Freundin einzuladen, gewissermaßen erkaufen. Dann jedoch entwickelten sie und ihr Bruder echte Freude daran, ihr Zuhause mittels ihrer Aufräumarbeit zu gestalten.

Kde domov můj

Heimat ist die erweiterte Form von Zuhause. Die Nationalhymne der Tschechen trägt den Titel »Kde domov můj«, und das ist auch als Frage lesbar: Wo ist meine Heimat? – Ich kenne mehr Exil-Tschechen als in Tschechien wohnende Tschechen, was sagt das aus? »Wo ist meine Heimat?«, allerdings, das ist eine Frage, die auch von Leuten geteilt wird, denen zu Tschechien wenig mehr als »Karel Gott!« und »Pilsener!« einfällt.

Eine ganze Reihe der politischen Meldungen dieser Tage haben mit Heimat und (drohendem) Heimatverlust zu tun.

In Chemnitz wurden Mitglieder einer »Bürgerwehr« festgenommen; die Herren wollten wohl das, was sie unter »Heimat« verstehen, verteidigen – und maßten sich an, Ausweise ausländischer Bürger zu kontrollieren (siehe spiegel.de, 14.9.2018). Die ersten Bürger haben den Eindruck, der Staat verteidige sie nicht, und er verbiete es zugleich, dass man sich selbst verteidige. Es geht um Heimat, es geht immer um Heimat, doch was für ein Heimatbild wächst da heran?

Damit ein Land auch Heimat sein kann, muss es auch Wohnungen oder sogar Häuser geben, in denen die Menschen wohnen können. Vom Standup-Comedian gibt es diesen Witz: »Ich habe mir einen Raumbefeuchter und Entfeuchter gekauft, und jetzt lasse ich sie es ausfechten.« – So ungefähr ist die Wohnbaupolitik der deutschen Regierung. Die SPD versucht via Mietpreisbremse, den Bau neuer Wohnungen zu verhindern; Merkel kündigt unterdessen an, via »Wohngipfel« für mehr Wohnungsbau zu sorgen (siehe z.B. rp-online.de, 15,9.2018). Heimat braucht Zuhause – kein Zuhause ohne Wohnraum.

Seit Urzeiten schon verbinden Menschen mit Heimat auch Natur – siehe etwa Heimatfilme. Im Hambacher Forst protestieren die Antifa und andere Linksbewegte recht martialisch gegen das Fällen der Bäume zugunsten der Braunkohleförderung (siehe z.B. tichyseinblick.de, 14.9.2018). Weitgehend unbeachtet bleibt gleichzeitig, dass einige Kilometer weiter, bei Aachen, Bäume gerodet werden für den Bau von Vogelhäckslern (siehe z.B. wdr.de, 16.9.2018). Heimat bedeutet auch Natur – außer wenn Ideologie oder Profit andere Schwerpunkte setzen.

In Brüssel tobt eine Art Stellvertreterkrieg darüber, was in der EU »Heimat« bedeutet. Auf der einen Seite kämpfen die EU-Bürokraten, Spendenempfänger und im Ausland lebende Polit-PR-Finanziers, auf der anderen Seite etwa Viktor Orbán, der den Einfluss ausländischer Polit-PR beschränken und die Ungarn selbst darüber bestimmen lassen möchte, wer in Ungarn lebt – beides ein scharfer Dorn im Auge von Postdemokraten, welche Europa lieber heute als morgen den Banken und Konzernen zu Füßen legen würden. (Randnotiz 1: Viktor Orbán arbeitete übrigens selbst ab 1988 eine Zeit lang für George Soros. – Randnotiz 2: Dieselben Leute, die Orbán demokratische Defizite ankreiden, sehen bereitwillig über verfassungsrechtliche und rechtsstaatliche Schräglagen der Merkel-Regierung hinweg. Beides ist ein Problem, und dennoch ist die Debatte darüber meist müßig.)

Auch in Werder an der Havel kämpfen Bürger um das Recht, ihre Heimat selbst zu formen und für ihre Kinder sicher zu machen. Direkt neben einer Grundschule steht ein Heim für »Flüchtlinge«, und mit »Flüchtling« ist wohl auch in Werder gemeint: vor allem junge Männer im wehrfähigen Alter aus Nordafrikas Krisenzonen. Noch sind die jungen Männer nicht eingezogen. Der in Moskau geborene SPD-Landrat Wolfgang Blasig ist unbedingt dafür, dass sie es bald tun, liest man (bild.de, 15.9.2018). Die Empathie von Linken für ihre Mitmenschen ist bekanntlich niedrig. Blasig kann sich wohl nicht hineinfühlen in Eltern, die ihre Kinder gerade in der Schule haben, während sie von einem der endlosen »Einzelfälle« lesen. Ist es noch Heimat, wenn ich mir wünsche, dass die Kinder woanders lebten?

Zuhause und Heimat

»Wo ist meine Heimat?«, singen die Tschechen. Wir alle, (Ex-)Tscheche oder nicht, tasten uns an diese Frage heran. Was selbstverständlich erschien, wird von einer neuen, extra-glatten Politiker-Garde in Frage gestellt.

Meine Kinder haben, als sie unser Zuhause neu aufräumten, mir eine Lektion in Zuhause und Heimat gegeben. Zuhause und Heimat sind natürlich auch die Orte, wo ich geschützt bin, wo ich mich auskenne, wo ich einfach ich selbst sein darf. In meiner Sprache ausgedrückt: Heimat ist der Ort, an dem ich meine Relevanten Strukturen anordnen kann und darf.

Man kann nicht in eine Heimat hineinziehen, man muss sie sich selbst erarbeiten. Ob ein Ort zur Heimat wird, hat wenig mit »Willkommenskultur« zu tun. Die europäischen Besiedler Nordamerikas wurden ja auch nicht willkommen geheißen.

Ob ein Ort mir zur Heimat wird, entscheidet sich zuerst daran, ob ich selbst an diesem Ort mitarbeiten, ihn mit erbaue, ihn mit aufräume.

Viele Menschen sehnen sich nach einem Ort, an dem sie mitbauen dürfen, ihren Vorgarten pflegen, die Schule der Kinder mitgestalten, über die Bepflanzung des Parks mitbestimmen. Politiker, die den Menschen sagen, dass ihre Arbeit eh vergebens ist, dass sie eh nichts zu sagen haben und dass zur Not die Kinder halt dran glauben müssen, die nehmen den Menschen ihre Heimat.

Meine Kinder haben in einem Moment der Erleuchtung die Freude am aufräumenden Mitgestalten des Zuhauses entdeckt. Ich glaube, dass der Wunsch nach Heimat und Zuhause dem Menschen angeboren ist. Egal wie viele gesponserte Politiker den Menschen einreden, der Wunsch nach einer sicheren, selbstbestimmten Heimat sei böse, ich würde nicht auf ihren langfristigen Erfolg wetten.

Der Mensch sehnt sich nach Heimat und Zuhause. Pubertierende Kinder begreifen das manchmal, arbeitende Bürger begreifen das schon länger. Nur die dubiosen Gestalten in Berlin, für die ist der Mensch eine heimatlose Produktionseinheit.

Ich höre von draußen, vom Wohnzimmer und von der Terrasse her, diese Popmusik klingen. Erste Tanzbewegungen sind in Vorbereitung. Sie haben die Rollos zugezogen, damit man das elektrische Licht auch sieht. Grundgütiger Himmel! Zuhause und Heimat kann ganz schön nerven – und doch wollte ich nicht ohne sie sein.

Weiterschreiben, Dushan!

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