04.11.2019

Erdoğan, unsere IS-Kämpfer und die Kunst, ein Gentleman zu sein

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von Matthew Henry
Die Türkei deutet an, deutsche IS-Kämpfer nach Deutschland weiterreichen zu wollen. Man sei »kein Hotel«. Das Problem: Deutschland wirkt damit überfordert, wie es mit solchen Leuten umgehen soll. Was, wenn Erdoğan das sehr wohl weiß?!
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Einst, als die Briten die Welt beherrschten, als sie mehr waren als die Punchline von Großbritannien-versucht-die-EU-zu-verlassen-Witzen, mehr als der Schauplatz eines Tauziehens zwischen anti-demokratischen NGOs und dem dokumentierten Willen des Volkes, in jenen bald schon mythischen Zeiten (gab es sie je wirklich?), als Verstand, Wissenschaft und Kultur statt durchgeknallter politischer Korrektheit den britischen Diskurs bestimmten, damals galt den Briten der Gentleman als Gipfel dessen, was ein Mann an Eigenschaften anstreben konnte – und dadurch auch sollte.

In seinem Song »Englishman in New York« beschreibt Sting, wie ein britischer Gentleman (Inspiration: der Entertainer Quentin Crisp) sich in New York zurechtzufinden versucht. Er ist ein »Alien«, ein Fremder und fast schon Außerirdischer, doch er hat Prinzipien – »manners maketh man«, die Manieren machen den Mann aus.

Sting singt gegen Ende des Liedes:

Takes more than combat gear to make a man
Takes more than a license for a gun
Confront your enemies, avoid them when you can
A gentleman will walk but never run.
(Sting, Englishman in New York)

Frei übertragen: »Es braucht mehr als eine Kampfausrüstung, um ein Mann zu sein, es braucht mehr als einen Waffenschein. Stelle dich deinen Gegnern, doch geh ihnen aus dem Weg, wenn du kannst. Ein Gentleman wird gehen, aber nie rennen.«

Wollen wir wissen und verstehen, was einen Gentleman ausmacht? Nun, ich zumindest will es nicht nicht wissen – ich bin nicht dagegen, es zu wissen – und von Sting erhalten wir die erste Lektion: Ein Gentleman stellt sich seinen Gegnern, doch er bekämpft sie nicht unbedingt. Er weiß, was und wohin er will, doch er rennt nicht hin wie ein aufgeschrecktes Huhn, er geht und schreitet – und wenn das Schicksal dem Gentleman gewogen ist (das singt Sting nicht, das interpolieren und hoffen wir), dann kommt er auch an.

Man sei kein Hotel

Die Kunst der politischen Kommunikation und deren Wurmfortsatz, der Politikjournalismus, teilt sich in mehrere Teilkünste auf, zu denen neben Talking Points auch die Kunst zählt, das Kleine groß und das Große klein wirken zu lassen, die langen Linien verblassen zu lassen vor der hellen Erregung im Jetzt.

2014 berichtete etwa der Tagesspiegel über syrische Dschihadisten, welche die Türkei als Rückzugsraum genutzt haben sollen:

»Im März seien 150 IS-Kämpfer per Bus aus Syrien an die türkische Grenze gekommen und in Gruppen von je 40 bis 50 Mann über die Demarkationslinie in die Türkei spaziert. Nach einer mehrtägigen Ruhepause in einem Hotel der türkischen Grenzstadt Reyhanli seien 100 IS-Mitglieder wieder nach Syrien zurückgekehrt.« (tagesspiegel.de, 21.8.2014)

Die türkische Regierung wies Vorwürfe der türkischen Opposition, wonach sie auf irgendeine Art mit dem IS zusammenarbeite, und sei es durch Passivität, »strikt zurück«:

Vorwürfe einer Zusammenarbeit mit dem IS seien Landesverrat, schimpfte der designierte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kürzlich. (tagesspiegel.de, 21.8.2014)

Man wies allerdings darauf hin, dass die 900 Kilometer lange Grenze zu Syrien natürlich »nicht hundertprozentig zu überwachen« sei… davon kann Deutschland ja auch berichten.

Im halben Jahrzehnt seitdem ist einiges passiert, unter anderem 2015 und der »Flüchtlingsdeal«, aber auch Anfang 2018 die »Operation Olivenzweig« (siehe Wikipedia) und vor wenigen Wochen die »Türkische Militäroffensive in Nordsyrien 2019« (so der Titel des Wikipedia-Artikels).

Aktuell berichtet der deutsche Staatsfunk, dass ihm Erkenntnisse vorlägen, wonach »islamistische Milizen an der Seite der Türkei in Syrien kämpfen« (tagesschau.de, 1.11.2019). Das Außenministerium unter Peinlichminister Maas hat Berichte über mutmaßliche Völkerrechtsverletzungen »mit großer Sorge zur Kenntnis genommen« und verurteile »solche Taten aufs Schärfste« – es klingt wie das Schulterzucken der Diplomaten.

Doch, es ist nicht die einzige Meldung aus jener Region, die sich aktuell um IS-Kämpfer dreht – da gibt es eine weitere! 

Wir lesen:

Die türkische Regierung plant laut einem Bericht, deutsche IS-Anhänger in die Bundesrepublik zurückzuschicken. Man sei kein Hotel, sagte der türkische Innenminister. (zeit.de, 3.11.2019)

Moment, ergibt das Sinn?! – Nun, ob dein Weg in die richtige Richtung weist, hängt davon ab, was dein Ziel ist. Ein Gentleman wird gehen, nicht rennen, doch er wird nicht zwingend seiner Umgebung signalisieren, was das Ziel ist, das er wirklich anpeilt. (Vielleicht treibt ein Gentleman es ja auch wie Donald Trump, bei dem nicht nur ich den Verdacht habe, dass er gern viele Bälle in die Luft wirft, und sich darauf verlässt, zumindest einige davon fangen zu können, um dann zu sagen, diese habe er immer schon fangen wollen – und wer weiß, vielleicht stimmt es, vielleicht nicht.)

Was bedeutet es?

Was ist der Unterschied zwischen einem Gentleman und einem Rüpel, wenn es um die so wichtige Angelegenheit des Werbens um die Frauen geht? Nun, der Rüpel – manche sagen: »Macho« – schubst die Frau (hoffentlich nur metaphorisch gesprochen), der Gentleman hilft der Dame beim Fallen. Der Rüpel ist zudringlich und aggressiv, der Gentleman weckt in der Frau das Begehren, sich fallen zu lassen – selbstredend in die Arme eben jenes Gentlemans. (Es passiert manchem ungeschickten Gentleman, dass ihm zwar das Wecken des Begehrens gelingt, die Dame dann aber doch in den Armen eines Rüpels endet, doch die Frage, was die Rabauken so attraktiv macht, soll Thema anderer Essays anderer Essayisten sein.)

Jeder rational und im eigenen Interesse handelnde Staat versucht, seine Verhandlungsposition gegenüber anderen Staaten zu stärken – und wenn eine eigene Handlung einen anderen Staat in gewisse innere Widersprüche bringen kann, wäre man nicht geradezu verpflichtet, es zumindest anzudenken?

Die deutschen IS-Kämpfer, welche die Türkei angeblich nach Deutschland zurückgeben will, hatten sie eigentlich nur den deutschen Pass? An welchen Handlungen waren sie beteiligt und was davon lässt sich individuell und gerichtsfest beweisen? Was bedeutet es praktisch, wenn IS-Kämpfer nach Deutschland gebracht werden, denen man nichts nachweisen kann, die aber sehr deutlich gemacht haben, wie wenig sie von den Werten der Demokratie halten?

Jedes Rechtssystem setzt bestimmte Grundwerte und Verhaltensweisen als gegeben voraus. Würde die Straßenverkehrsordnung mit ihren Regeln und Bußgeldern denn funktionieren, wenn eine kritische Menge an Verkehrsteilnehmern es nicht akzeptieren würde, dass an einer roten Ampel zu halten sei? Was sollte man dann tun? Hunderte und Abertausende ins Gefängnis werfen?

Erdoğan muss Deutschland nicht bekämpfen, er muss gar nicht rüpelig sein, um seine Position gegenüber Deutschland zu stärken. Erdoğan kann sich wie ein Gentleman benehmen, er kann Deutschland, »beim Fallen helfen«, indem er Deutschland ins Messer seiner eigenen realitätsuntauglichen Moral fallen lässt.

 Die Erklärungslast verschoben

Das am Wesen des Gentlemans interessante Adjektiv ist gentlemanlike – holprig ins Deutsche übertragen etwa »nach der Art eines Gentlemans« oder »gentleman-artig«. Was ist es, allgemein und prinzipiell, wodurch eine Handlung »nach der Art eines Gentlemans« ist – ohne in der Erläuterung auf Beispiele zurückzugreifen?

Es ist ein beliebter Trick der Welterklärer und sonstigen intellektuellen Taschenspieler, einen wolkigen Begriff durch einen anderen wolkigen Begriff erklären zu wollen, das Problem also gewissermaßen von einer Schublade in eine andere zu räumen, und ausnahmsweise wollen wir dies auch hier tun, und unsere wolkige Krücke soll die »Ästhetik« sein. Ähnlich wie die Ethik als die Ästhetik der Handlungen bezeichnet wurde, ähnlich wie Sun Tzu die Ästhetik der Kriegsführung beschreibt – welche, Pazifisten und Menschen wird es freuen, den Kampf zu vermeiden sucht, bevor er überhaupt einsetzt – ähnlich ließe sich gentlemanlike als die Ästhetik des Mannseins umschreiben. (Sicher, man wird mir hier vorwerfen, dass es unanständig sei, Männern eine auch nur potentielle und in harter Arbeit zu erwerbende Eigenschaft zuzugestehen, da heute Männer, zumal tendenziell weiße, ausschließlich als böse darzustellen seien – weit mehr träfe mich der Vorwurf, schlicht die Erklärungslast verschoben zu haben, doch… siehe oben.)

Zu sagen, dass eine Handlung ästhetischen Wert habe, sagt noch nichts über ihren ethischen Wert aus. (Es gibt ein paar wunderbare Hollywood-Filme über Heilige und viel mehr über Bösewichte und Brutalität – oder wollten Sie bestreiten, dass Tarantino schöne Filme macht?)

Wenn ich sage, dass Erdoğan ein Gentleman ist, dass er also gentlemanlike vorgeht, habe ich mich dann mit seinen Handlungen gemein gemacht? Sage ich, dass er ethisch gut sei? Nein, ich will nicht dumm und debil sein wie jene linke Denkweise, welche Fakten und die Zuschreibung von Eigenschaften vom moralischen Bauchgefühl abhängig macht. 

Erdoğan behandelt Merkel wie ein wahrer Gentleman – er stößt sie nicht (außer manchmal rhetorisch, aber keine Metapher ist vollkommen), doch manchmal wirkt es auf uns, als helfe er ihr beim Fallen. Eine wankende Merkel nutzt Erdoğan mehr als eine hingefallene. Unser Problem ist, dass an Merkel und ihren Schemelhaltern das Land mit dranhängt. Erdoğan hilft Merkel beim Fallen – und Deutschland fällt mit. Er wird sie wohl wieder auffangen, da habe ich wenig Zweifel, bevor sie endgültig hinfällt, um sie später dann wieder fallen zu lassen, und wieder, und wieder, bis es aus diesem oder jenen Grund vorbei ist – oder für Erdoğan nicht mehr interessant. 

Ertragen und lächeln

Ein Gentleman zu sein ist eine Art zu denken und zu handeln, keine ethische Bewertung. Zum gentlemanlike gehört das harmonische Verhältnis von innerer Unabhängigkeit und der hinter attraktiver Indirektheit versteckten Effektivität beim Anstreben seiner Ziele. Der Gentleman kann böse oder gut sein – meist ist er etwas dazwischen, die Welt ist komplexer, als linke Dummheit es sich träumen lässt – und es ist kein Widerspruch, auch kein moralischer Widerspruch, dass auch wir selbst anzustreben wollen sollten, mehr gentlemanlike zu sein.

Sting singt:

If „manners maketh man“ as someone said
He’s the hero of the day
It takes a man to suffer ignorance and smile
Be yourself no matter what they say
(Sting, Englishman in New York)

Übertragen: »Wenn Manieren den Mann ausmachen, wie jemand sagt, dann ist er der Held des Tages. Es erfordert einen Mann, die Dummheit zu ertragen und zu lächeln. Sei du selbst, was auch immer sie sagen.«

Ja, der Gentleman kann (und wird) seinen Mitmenschen »beim Fallen helfen«, wenn es seinen Zielen nutzt. Doch, er kann und wird auch vermeiden wollen, dass andere Menschen ihn zu Fall bringen. »Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben«, so sagt schon Jesus (Matthäus 10:16b).

Dummheit zu ertragen und doch zu lächeln, das braucht wahrlich Stärke, doch es braucht soviel Erfahrung wie Weisheit, um zu verstehen und zu fühlen, was gemeint ist, wenn Sting singt: Sei du selbst, was auch immer sie sagen!

Weiterschreiben, Dushan!

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