Haben Sie auch von davon gehört? In Thüringen sollen Linksextreme stolze 100 Kilo an Sprengstoff-Chemikalien gehortet haben! Bodo Ramelow, der Ministerpräsident von der SED-Nachfolgepartei hat deren Verein gefördert und ausgezeichnet! Waren die Sprengstoff-Zutaten womöglich aus Steuermitteln gekauft! Es wurde berichtet, vor allem in Zeitungen, die linkem Treiben eher kritisch gegenüberstehen.
Nun, die Meldung ist nicht ganz falsch. Sie ist wahrscheinlich nicht nicht richtig. (Kein Schreibfehler.)
Und doch, es gibt immer mehrere Seiten der Geschichte.
Die Thüringer Allgemeine hat nun eine Variante derselben Begebenheit erzählt, die mich aufhorchen ließ. (thueringer-allgemeine.de, 10.5.2018)
Sagen wir es gleich: Wenn ich die Variante der Geschichte, wie sie in der Thüringer Allgemeine erschien, nacherzähle, dann geht es mir explizit nicht darum, ob sie in diesem konkreten Fall tatsächlich so stimmt. Mir ist sehr wohl bewusst, dass interessierte Kräfte motiviert sein könnten, hier auf die berühmte »Tränendrüse« zu drücken. Ich will für meine Argumentation davon ausgehen, dass es so stimmt, wie es da stand, weil ich Ähnliches mehr als einmal selbst und unmittelbar bei suchenden Menschen erlebt habe – nicht mit dem Sprengstoff, nein (um Himmels Willen!), aber mit den psychischen Vorgängen, die jenen Jan R. in die (links-) politisierte Szene geraten ließen.
Mensch Jan R.
Der Text berichtet von einem der beiden im Kontext des Sprengstoff-Zutaten-Fundes verdächtigen Männer. Der Mensch, der Text nennt ihn »Jan R.«, ist kein kräftiger Antifa-Schläger. Er ist kein reicher Sohn aus dem Mittelstand, der sich aus Lebenslangeweile und Selbsthass im Straßenterror versucht. Er ist kein Ideologe, der sich von Fanatismus zerfressen, eine erneute Bombardierung Dresdens wünscht.
Jan R. ist behindert und sitzt im Rollstuhl. Er wurde vor Jahren wegen eines Hirntumors operiert. (So berichtet jene Zeitung im Mai. Im März wurde anderswo berichtet, es sei die Folge eines Unfalls.)
Jan R. war viele Jahre lang arbeitslos.
Jan R. suchte, wenn ich den Text richtig deute, nach Freunden, nach Anschluss, nach Gemeinschaft.
In die rechte Szene passte er nicht, also versuchte er sich in der linken. Er flirtete mit den Piraten, wie es viele von uns eine Zeit lang taten. Er wurde aktiv im »Bündnis für Zivilcourage und Menschenrechte«.
Und dann fanden sie Materialien bei ihm, vor allem Dünger, die zum Bau von Sprengstoff verwendet werden können – und wohl auch wurden.
Er behauptet, dass es nur Böller waren, die er mit Freunden baute und auf einem Feld zündete.
Wer der linken Szene nicht gewogen ist, sieht darin den Beleg dafür, dass die Ramelow-Regierung indirekt linken Terror fördert. Wer Jan R. (und Bodo Ramelow) verteidigt, sieht zwei Aspekte im Leben des Jan R., die zunächst mal nicht verknüpft sind. Eines der Highlights im Leben des Jan R. war die Verleihung eines Demokratiepreises durch die Landesregierung. Das alles hatte nichts mit seinen Experimenten im Bau von Böllern zu tun, sagt er.
Ich will einmal annehmen, dass es so stimmt. Mir fällt an der Geschichte des Jan R. etwas anderes auf.
Warum war Jan R. in der linken Szene?
Freunde
Ich habe selbst, vor vielen Jahren, im Osten Deutschlands bei der Sozialarbeit mitgeholfen. (Das war während meiner Jahre als Theologiestudent.) Ein Teil der Jugendlichen identifizierte sich selbst als »Nazis«. Ich fragte, warum sie das taten. Was hätten sie denn gegen mich, den Migranten und Ausländer? Einige sagten es in schlichter Offenheit: Nazis sind die einzigen Freunde, die man hier haben kann.
Jan R. hatte immerhin eine weitere Möglichkeit: linke Aktivisten.
Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn sich Menschen, die mehr oder weniger verzweifelt nach Freunden suchen, nur zwischen linken und rechten »Politikfans« entscheiden können?
Hyperpolitik
Wir erleben (wieder) eine Hyperpolitisierung der Gesellschaft. Es ist keine »gute« Politisierung. Es ist nicht so, dass die Menschen sich in größeren Zahlen für gesellschaftliche Zusammenhänge interessieren und über politische Theorien lernen. Im Gegenteil: heutige Linke – besonders die extra lauten – wissen oft ebenso wenig über klassisch linke Theorien, wie Politiker, die sich auf Jesus berufen, über die Bibel wissen. Wenn wir »Politisierung« sagen, meinen wir hier Lagerbildung.
Die Politisierung in Form von Polarisierung und den Zerfall in politische Lager zieht sich allmählich in eigentlich unpolitische gesellschaftliche Bereiche. Vor wenigen Jahren war es noch vollständig egal, welche im Parlament vertretene Partei etwa das Personal eines Krankenhauses wählte. Was macht es für einen Unterschied, ob die Krankenschwester, der Pfleger oder die Chefärztin dieser oder jener Partei nahesteht? Die Spritzen wird jeder gleich setzen, die Bettpfannen gleich wechseln. – Das ist heute sehr anders. Je nach politischem Mikroklima könnte es heute für einen Arzt höchst karriereabträglich sein, sich zu »dieser einen« Partei zu bekennen. In der postdemokratischen und zugleich politisierten Gesellschaft gilt: Keinem Patienten sollte zugemutet werden, von einem Arzt den Blinddarm herausgenommen zu bekommen, der privat Kritik an Kanzlerin M. übt!
Für die Regierung oder gegen sie
Wie ist es gekommen, dass so viele Menschen so politisch erregt sind? Klagten wir nicht bis vor kurzem über das politische Desinteresse der Bürger?
»Politisiert« könnte bedeuten, am Gemeinwohl interessiert zu sein, gern in der Doppelbedeutung von »interessiert« als »Informationen erbittend« und »gutes Gelingen erhoffend«. Politisierung kann aber auch einiges anderes bedeuten. Politisierung kann die Durchdringung aller zivilen Lebensbereiche mit Partei-Funktionären sein, wie es totalitären Regimen eigen ist. Politisierung kann die Politik-der-ersten-Person sein («Das Private ist politisch!«), welche ja mehr eine Subjektivierung der Politik war, etwa indem sie heute selbstverständliche »Frauenthemen« (wie etwa die Ablehnung der Unterordnung unter Männer) in die Politik einbrachte, und dann eben doch zurückwirkte als Politisierung des Privaten.
In der Ära der »postdemokratischen« Kanzlerin M. und dem offenen Kampf regierungsnaher Medien ist Politisierung zuerst ein Meinungskampf gegen die Opposition und polarisierter Lagerkampf. Wie auch in totalitären Regimen wird jeder einzelne Bürger gedrängt, eine politische Rolle einzunehmen: Für die Regierung oder gegen sie.
Regierungsnahe Vereine und die Parteien selbst rufen zu Demonstrationen zur Unterstützung von Regierung und Bürokratie auf. Die neue Politisierung geht mit »Hypermoral«, aber großen Lücken in demokratischer Bildung einher. Es fällt gar nicht mehr auf, dass das Verschwimmen der Grenzen zwischen Wahlkampf und Regierungshandeln, zwischen Machterhalt der regierenden M. und dem Wohl des Volkes, einen Angriff auf demokratische Prinzipien darstellt.
Mutti baut Mist
Es war einst gar nicht die Absicht der Regierung M., politisches Denken und Fühlen neu zu entfachen – im Gegenteil! Frau M. ist bekannt für ihre Strategie der »Demobilisierung«. Ihre Rhetorik reduziert sich bis heute auf den einen Trick, jedes politische Thema auf ein Reden über die beim Anblick entstehenden Gefühle zu reduzieren. (»Viele Menschen sind erschüttert und ich verstehe das.«) Sie redete dem Volk ein (und mancher Journalist bei ARD und ZDF glaubt es noch heute), alles was sie tue, sei »alternativlos«. Man sollte die Politik ihr überlassen, und schön weiter mit seinen Smartphones und diesem Internet-Neuland rumspielen. Mutti kümmert sich schon. Doch dann stellten wir fest, das Mutti ganz schön Mist baut.
Angebliche Alternativlosigkeit wäre ja ein Spiel, das man gern mitspielt, solange es funktioniert. Als M. sichtbar begann, dem Land konkreten Schaden zuzufügen, Geld an Banken zu verschenken und die Völker der Welt ungeprüft und unbegrenzt in deutsche Sozialsysteme, Schulen und Straßen einzuladen, akzeptierten immer mehr Bürger diese »Alternativlosigkeit« nicht mehr. Eine Gruppe schloss sich explizit unter dem Schlagwort der »Alternative« zu einer Partei zusammen.
Die neue Politisierung der Gesellschaft fand in 3 Phasen statt:
1. Aufbegehren als Reaktion auf Politik, die aktiv Deutschland schadete, und damit »Selbst-Politisierung« einer Gruppe von Bürgern, die eigentlich nur »leben wollten«
2. Konzertierte Polit-PR regierungsnaher Medien und z.B. vom Familienministerium finanzierte Polit-PR-Maßnahmen gegen Kritik an der Regierung – kollektive Dämonisierung jedes Widerspruchs
3. Verfestigte Lager, bis in die Firmen, Schulen und Sportvereine hinein. Wer die Regierung kritisiert, flüstert besser. Man misstraut einander, denn wer die Regierung kritisiert, kann verpetzt werden und mindestens in staatsnahen und vom Staat abhängigen Betrieben seine Stelle verlieren.
Kurz: Als Reaktion auf das Aufbegehren einiger, wurden von Propaganda und M.-treuen Zirkeln alle in Lagerdenken und politisiertes Denken gezwungen. Selbst Veranstaltungen, die in der Grund-Idee unpolitisch, ja, anti-politisch sein sollten, werden im Kampf gegen die Opposition politisiert. Kein Musikevent ohne Bekenntnis zur Regierung und gegen den verhassten Widerspruch. Jeder Kirchentag eine Wahlkampfveranstaltung ohne Wahl, mit Politpromis statt Pfarrern als Tonangebern. Keine Talkshow, keine Satire und kein literarischer Zirkel ohne den Verweis darauf, wie schlimm die Opposition doch sei.
Selbst wer sich redlich mühte, unpolitisch zu bleiben, würde früher oder später auf eine von beiden Seiten geschlagen.
Diese Situation, diese wie überdehnte Gummibänder zum Reißen gespannte Hyperpolitisierung der Gesellschaft, wie stabil kann sie sein?
Politisierung aller Gesellschaftsbereiche
Politik (und Demokratie) ist auch und wesentlich das Verhandeln von Gesellschaftsordnung. Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, in dem alle Angestellten ununterbrochen die Verträge des Unternehmens aushandelten. Eine solche Firma wäre ein kafkaesker Albtraum – und wenig produktiv dazu! Nicht einmal Anwaltsfirmen, die dafür bezahlt werden, Verträge zu verhandeln, verhandeln ununterbrochen in eigener Sache.
Die neue Politisierung aller Gesellschaftsbereiche bewirkt, dass ununterbrochen der im- wie explizite Gesellschaftsvertrag neu ausgehandelt wird – und damit zu keinem Zeitpunkt feststeht. Es ist ein Gefühl dauernder Unsicherheit und bröckelnder Planbarkeit. Wer investiert denn noch (gern) seine Zeit, sein Geld und seine Hoffnungen in ein Land, in dem täglich immer weniger klar ist, was morgen sein wird?
Selbstverständlich ist es gut, wenn der Bürger sich für Demokratie und für die Ordnung seiner gesellschaftlichen Kreise einsetzt. Das ist jedoch etwas anderes, als durch Verzweiflung, Angst oder Polit-PR gezwungen zu sein, politische Positionen einzunehmen. Zudem: Während der Oppositionelle in Deutschland heute zwar bedrängt und bedroht wird, so ist seine Entscheidung, der Regierung zu widersprechen, eben darin ein Beweis für die innere Freiheit – und ein Fanal für die äußere. Der Unpolitische dagegen, der wenig reflektiert in die Rolle des Hurra-Untertans rutscht, wie frei ist sein Handeln wirklich?
Recht auf Leben
Das Konzept »goldene Mitte« als Maßstab richtigen Handelns hat seine Tücken, doch an dieser Stelle scheint es mir durchaus hilfreich. Der Bürger in der Demokratie sollte sich in seinem Verhältnis zum Politischen in einer goldenen Mitte aufhalten: nicht vollständig politisch, aber auch nicht vollständig apolitisch; nicht apathisch, doch ebenso nicht fanatisiert.
Politik ist (in dieser Hinsicht) wie ein Auto: Wenn ich gar nicht an die Wartung denke, wird es kaputtgehen, wenn ich aber ununterbrochen an seine Wartung denke, dann ist es wahrscheinlich bereits kaputt.
Womit wir wieder beim Fall Jan R. aus Thüringen wären. Ich nehme – mindestens für diese Argumentation – auch weiterhin an, dass er tatsächlich die Sprengstoff-Chemikalien nur für den Bau von Böllern verwendet und geplant hat. Es gibt tatsächlich eine ganze Szene, die illegal Böller baut. Das ist gefährlich und dumm. Die Hobbyisten landen regelmäßig auf Intensivstationen. Es ist, wie gesagt, illegal, aber allein für sich wohl noch kein Fall für den Staatsschutz.
Die andere Tätigkeit des Jan R. aber, die ist für mich bezeichnend. Es scheint mir, dass das Politische für ihn der einzige Weg war, Anschluss zu finden. Von außen betrachtet scheint es mir, dass beides, seine politische Tätigkeit wie seine Böller-Experimente, die Suche nach Freunden waren. Wer nicht einsam sein will, der nimmt auch politische Ideologie und Sprengstoffbau in Kauf – so scheint es.
Es ist keine gute, nachhaltige Entwicklung, dass wer Freunde finden (oder seine Arbeitsstelle nicht verlieren) will, sich zu politischen Richtungen bekennen muss. Es gibt ein Recht auf politische Distanz.
Wir können nicht alle Bauern sein, selbst wenn wir alle gerne essen. Wir können nicht alle Automechaniker sein, selbst wenn die meisten von uns Auto fahren. Wenn alle im Land sich als Bauern betätigen müssen, dann herrscht wahrscheinlich Hungersnot. Ich kenne noch die Ostblock-Länder, wo jeder Familienvater auch Hobby-Automechaniker in eigener Sache war – wir können leicht schlussfolgern, was das über die Qualität der dortigen Autos besagt. Wir können nicht alle politische Aktivisten sein, selbst wenn wir alle von Politik betroffen sind. Wenn alle Bürger sich genötigt sehen, politisch Partei zu ergreifen, dann herrscht politische Not im Land.
Ich wünsche Herrn Jan R., dass sein Leben wieder in geordnete Bahnen zurückfindet. Und, ganz wichtig: Ich wünsche ihm Freunde jenseits der Politik.
Der heutige Zustand der dauernden Angespanntheit wird nicht ewig andauern, da er schlicht nicht anhalten kann. Menschen brauchen auch Ruhephasen. Ich fürchte mich ein wenig davor, was passieren könnte, wenn die metaphorischen Gummibänder reißen und zurückschnellen. Besser wäre, viel besser, wenn es gelänge die Gummibänder wieder zu entspannen.
Ich wünsche mir weniger politische Zeiten zurück. Wer ein gutes Essen genießt, der denkt nicht die ganze Zeit ununterbrochen an das Essen. Nur zwischendurch, und am Ende, beim Trinkgeld. Ich wünsche mir eine gute Politik, die uns wieder die Freiheit gibt, nicht allezeit an die Politik denken zu müssen.