Ein Mitmensch schreibt mir via Twitter, und ich will es unkorrigiert zitieren, weil das Rohe hier wichtige Emotion offenlegt: »Fast alle meine bekannte Geimpften sind glücklich & ohne psychische Schaden; lassen wirklich ohne hinterfragen weitere Impfungen, ihr größtes Problem ist Maske, auch ihre Kinder sind in besserer Situation. Fast alle Ungeimpfte total genervt & unglücklich.« (@throeng, 8.2.2022)
Glauben Sie mir mal, dass auch meine Reaktion ein reflexhaftes »Ja, aber!« war. Ich glaube es aber, was der Leser sagt, wenn ich auch aus meinem Umfeld berichten kann, dass die Ungeimpften lange Zeit zweifelsohne genervt waren, grübelnd, zweifelnd und zeitweise sogar verängstigt, aber nicht unglücklich – doch ich kann sehr gut nachvollziehen, wenn und dass es im Umfeld dieses Lesers so war.
Er schreibt weiter: »Zwischen Ungeimpften gibt es Menschen mit beiden C.- und Impfe-Angst. Ihre Kinder dürfen kaum Sport und Kultur, ungeimpfte Mütter mit Kindern U1 sind total isoliert, da Mamis-Treffen in 2G-Orten stattfinden. – Glauben Sie wirklich, dass Geimpfte dumm sind? Und wenn ja, ob Glück nicht wichtiger ist?« (@throeng, 9.2.2022)
Der Leser fragt, ob Glück nicht »wichtiger« sei. Was für eine wichtige Frage! Ist es nicht eine der zentralsten Fragen dieser Zeit?
Eine Rückfrage nur sei erlaubt: Wichtiger als was genau? Wichtiger als »nicht-dumm« zu sein kann er doch nicht meinen, oder?
Ich wage diese Deutung: »Die Impfung ist mir etwas suspekt, doch Glück ist mir wichtiger« – es ist ein Satz, den man heute in Variationen millionenfach hören (und ahnen) kann.
Ich fühle ja mit jedem einzelnen Menschen mit, der sich diese Frage stellt. Es ist ja eine geradezu paradigmatische Verhandlung »relevanter Strukturen«! Wir Menschen sind Dazwischenwesen, immerzu zerrissen zwischen Werten und Wichtigkeiten. Meine erste Reaktion ist also: Ja, ich fühle diese Zerrissenheit!
Meine zweite Reaktion aber, auf einer anderen Ebene, ist Neugier.
»Die Impfung ist mir etwas suspekt, doch Glück ist mir wichtiger« – es wäre doch spannend, die einzelnen Begriffe der Schlussfolgerung (»Glück ist wichtiger«) zu verstehen – und mutig auch die Lücken zu markieren!
»Das Glück ist wichtiger«, oder als Frage formuliert: »Ist das Glück nicht wichtiger?« – Dieser Satz enthält zwei sichtbare Komponenten und eine unsichtbare.
Die sichtbaren Bestandteile sind »Glück« und »wichtiger«. Der unsichtbare Baustein dieses Satzes, die »Lücke« also, ist hier dasjenige, was weniger wichtig als das Glück sein soll.
»wichtiger«
Die Bedeutung von »wichtiger« anzugeben fällt mir zumindest einfach. Ich deute »wichtiger« hier im Sinne der »relevanten Strukturen«: Ich beschließe und/oder stelle fest, dass mir die Struktur X wichtiger (oder: »relevanter«) als Struktur Y ist.
Es ist ja eine tägliche Entscheidung: Wenn mein Kind sich ein Bein brechen sollte, dann würde ich ein Essen im Restaurant absagen, denn mich um ihn zu kümmern, wäre mir wichtiger. Die Bedeutung von »wichtiger« ist hier noch relativ klar.
»was«
»Ist Glück nicht wichtiger?«, so fragt man. Die Frage wäre doch schon halb beantwortet, wenn man in sich hineinhören würde, um präzise anzugeben, was genau es ist, wogegen man das Glück aufwiegt.
Ist Glück wichtiger als einem »Pikser« zu entgehen? Sicherlich würde ein jeder die Frage bejahen – wenn es wirklich nur um einen »Pikser« ginge!
Ist Glück wichtiger als sich einem Impfrisiko auszusetzen? Nun, es kommt wohl darauf an, worin dieses Impfrisiko besteht und wie hoch es ist!
Spätestens hier aber wird das Feld möglicher Antworten etwas neblig: Einerseits kennt ein jeder von uns gewiss eine reiche Zahl an Geimpften, die ohne gesundheitliche Komplikationen außer vielleicht etwas Übelkeit am nächsten Tag durchgekommen sind.
Einige von uns haben aber auch Menschen verloren, die bald nach der Impfung »plötzlich und unerwartet« verstarben oder »nur« an Herzproblemen litten, während sie ihr Leben lang zuvor kerngesund gewesen waren.
Mein persönliches Vertrauen in die offiziellen Statistiken in dieser Sache ist erodiert; zu viele Berichte habe ich von Lesern gehört, wonach impfende Ärzte auf die bloße Erwähnung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Impfung und plötzlichen Herzproblemen mit Blockade und Wut reagieren.
Wenn wir also fragen, ob Glück wichtiger als die Impfrisiken sei, müssten wir natürlich fragen, welche Risiken wir überhaupt meinen!
»Glück«
Das Wort »Glück« kann mehrere Dinge bedeuten, die nicht nur unterschiedlich sind, sondern sich auch in ihren realen Zusammenhängen praktisch ausschließen.
»Glück« kann für einen günstigen Zufall stehen, wobei erstens nachweislich Lottogewinner zehn Jahre später selten glücklicher sind, und zweitens dieses Art von »Glück« hier wohl auch nicht gemeint ist.
»Glück« kann für die Unbeschwertheit des Moments stehen, wie wenn einer in der Kneipe mit Freunden glücklich ist.
»Glück« kann aber auch für jenes rückblickende gute Lebensgefühl stehen, wenn man dereinst auf deine Errungenschaften und Entscheidungen zurückblickt, wenn man »seine Kreise in Ordnung gebracht« hat, um schließlich zufrieden, »alt und lebenssatt« wie Abraham (1. Mose 25:8) auf sein Leben zurückzublicken.
Wir vermischen in unserem Sprachgebrauch häufig das »Glück« als »schöne Momente« und »Glück« als »Zufriedenheit ob der Ordnung seines Lebens«.
Welches »Glück« ist es, das diese Frage meint?
Es kommt drauf an
Wir riskieren gern, wie ein Advokat zu klingen, wenn wir die Frage, ob Glück nicht »wichtiger« sei, ganz allgemein nicht-beantworten: »Es kommt drauf an!«
Erlauben Sie mir, die Frage anhand zweier verschiedener Deutungswege zu präzisieren – die Antworten werden sich dann von selbst ergeben.
- Sind ein paar lustige Momente in der Kneipe wichtiger als dereinst die zufriedene Gewissheit, auch gegen Widerstände selbst der Herr über sein eigenes Leben und seinen eigenen Körper gewesen zu sein?
- Ist der kindliche Trotz, seinen Kopf durchgesetzt zu haben, wirklich wichtiger als die Chance, mithilfe modernster Wissenschaft sich und seine Familie bestmöglich geschützt zu haben?
Ach, es geht doch längst nicht mehr um eine »Impfung«. Es geht inzwischen sogar um Identität und Konzepte des Selbst. Man will in Ruhe gelassen werden, und wenn der Staat einen zum Wohl der Pharmakonzerne erpresst, dann gibt man eben der Erpressung nach – oder man will seine Identität als Impfverweigerer nicht aufgeben, und hat man sich erst einmal in diese Ecke manövriert, muss man entweder stur beharren, oder unter Druck nachgeben und sich ein Leben lang dafür schämen.
(Hinweis: Wenn Sie die Hälfte der obigen Ausführungen teilen, die andere Hälfte aber vehement ablehnen, welche Hälfte das auch jeweils sein mag, dann liegt das vielleicht daran, dass ich immer auch die Gegenseite argumentativ stark machen möchte. Zuerst die Menschen verstehen, die Meinung kann etwas warten!)
»Ist das Glück nicht wichtiger?«, so fragt heute mancher, und dieser Essay diente bislang dazu als Begründung, warum es durchaus gerechtfertigt ist, auch darauf zu antworten: »Erkenne dich selbst!«
Der Mensch ist ein Dazwischenwesen, das Dazwischensein ist unser Wesen, immer wieder und immerzu zerrissen zwischen Werten und Wichtigkeiten.
Dieses Zerrissensein wird vorbeigehen – und neues Zerrissensein wird uns auferlegt werden.
Ja, frage dich, ob Glück wichtiger ist – und lege dafür fest, was du überhaupt mit »Glück« meinst.
Wisse, dass das große, echte Glück erfahrungsgemäß mit Widerstand und Überwindung zu tun hat, mit dem Erreichen großer Werte, dem Kämpfen gegen große Stürme für scheinbar kleine Dinge.
Wenn von der Covid-Krise bliebe, dass Sie und ich besser verstehen, was für uns jeweils »Glück« bedeutet, dann war all diese Panik tatsächlich nicht vollständig vergeblich.