Brian Thompson, CEO der Krankenversicherungs-Abteilung des US-Konzerns American Health (bild.de, 4.12.2024), wurde in New York getötet. Anders als andere Morde wurde dieser nicht von der Öffentlichkeit ignoriert oder erschrocken zur Kenntnis genommen – dieser Mord wird von Tausenden gefeiert. Was läuft da schief?
Man liest, dass das Attentat »offenbar hochprofessionell geplant« war, »eiskalt« natürlich. Die deutsche Wikipedia fasst aktuell nüchtern zusammen: »Thompson wurde am 4. Dezember 2024 um 6:45 Uhr morgens erschossen, als er auf der West 54th Street von seinem Marriott-Hotel Richtung Hilton-Midtown-Hotel lief, wo er an einem Treffen von Investoren teilnehmen wollte. Der maskierte Täter erschoss Thompson von hinten mit einer schallgedämpften Pistole. Daraufhin floh er mit einem Fahrrad zum Central Park, wo er zum letzten Mal von Zeugen gesehen wurde.«
Während ich dies schreibe, ist der Täter noch nicht gefasst. Er setzte sich wohl mit einem Greyhound-Bus ab, wie auch Täter in Hollywood-Filmen es schon mal tun.
Die Reaktionen
Die Reaktionen in den sozialen Medien unterscheiden sich erschreckend deutlich von der Gleichgültigkeit bis Abscheu (vor allem Gleichgültigkeit), mit der die US-Öffentlichkeit sonst auf Morde in den Straßen der Großstädte reagiert.
In den sozialen Medien, vor allem in den USA, wird der Mörder tausendfach als »Held« gefeiert.
Amerikanische Medien berichten davon, wie »wenig Sympathie« dem Ermordeten in den sozialen Medien entgegengebracht wird (rollingstone.com, 4.12.2024).
Verbitterte Amerikaner zitieren zynisch die Erstattungsablehnungen, die US-Krankenversicherungen ihren Kunden schicken. Und sie passen diese Ablehnungsfloskeln auf den aktuellen Mordfall an (eu.usatoday.com, 07.12.2024); sinngemäß etwa: »Leider fällt meine Anteilnahme nicht unter die abgedeckten Versicherungsleistungen.«
Deny, defend, depose
Der Täter selbst hatte sich ja diese Deutung seiner Tat gewünscht. Auf den drei Patronenhülsen, die aus der Waffen sprangen und am Tatort blieben, steht (eu.usatoday.com, 07.12.2024): »deny«, »defend« und »depose«. Das bedeutet etwa: ablehnen, abwehren und abheften. Es bezieht sich auf ein Buch über die Praktiken von US-Versicherern und beschreibt auch Schlagwörter ebendieser Praktiken.
Zu den Reaktionen auf den Mord gehören Tausende von Berichten von US-Amerikanern, denen eine der profitorientiertesten privaten Krankenversicherungen die Erstattung medizinischer Leistungen abgelehnt hatte – und sogar CNN berichtet davon (edition.cnn.com, 06.12.2024).
Wenn etwa die Krankenversicherung einer Frau die Erstattung der Kosten für eine Brustkrebsbehandlung ablehnt, weil dies ja kein »Notfall« sei, und wenn man weiß, dass dies ein Fall von vielen ist, dann fällt es schwer, großes Mitgefühl für den verantwortlichen Funktionär zu entwickeln.
Brian Thompson war für die Krankenversicherung von über 49 Millionen Amerikanern verantwortlich. Vor allem aber war er für den Profit seiner Abteilung zuständig. Je mehr Versicherungsleistungen er ablehnte, desto höher wurde sein Profit.
Aktuell kursieren Statistiken, wonach »United Healthcare« mit 32 % die höchste Ablehnungsquote aller US-Krankenversicherer hat. (Siehe valuepenguin.com, Stand 7.12.2024; deutlicher ist allerdings die archivierte Version, da US-Behörden die Änderung der Seite erwirkten.)
Nicht nur hat UHC offenbar die höchste Ablehnungsquote aller US-Krankenversicherer, der ermordete Chef soll auch daran gearbeitet haben, die Ablehnung durch den Einsatz künstlicher Intelligenz noch zu optimieren (foxbusiness.com, 6.12.2024).
Die Bloggerin Taylor Lorenz formuliert es deutlich: »Wenn du gesehen hast, wie ein geliebter Mensch wegen der Ablehnung von Versicherungsleistungen leidet und stirbt, dann ist es normal zu wünschen, dass die Verantwortlichen ein ähnliches Schicksal erleiden« (usermag.co, 5.12.2024; meine Übersetzung).
(Der Vollständigkeit halber: Neben der naheliegendsten Deutung, dass der Mord eine Art von Rache für versagte Erstattung war, kursieren diverse Verschwörungstheorien, zum Beispiel auf Rumble, im Kontext aktueller Untersuchungen zum Insiderhandel.)
Der Mord
Wer die Relevanten Strukturen studierte, kann auch diesen Mordfall und die Reaktionen darauf ohne große Mühe eben als relevante Strukturen beschreiben. Ja, es klingt geradezu vulgärmarxistisch, dass solche Konzerne für ihre Profite das Leid und womöglich den unnötigen Tod ihrer Kunden in Kauf nehmen – wahr bleibt es dennoch.
US-Krankenversicherer sind zuallererst profitorientierte Konzerne. Der Aktienkurs der UnitedHealth Group, also der Mutterkonzern des Versicherers, stand vor einem Jahr bei 550 US-Dollar. Kurz vor diesem Mord stand die Aktie bei 610 US-Dollar – und ist seitdem wieder zurück auf den Stand von vor einem Jahr gefallen; 10 % Verlust in 3 Tagen.
Nur Geld, das man nicht ausgegeben hat, hat man verdient. Das gilt für den Freiberufler wie auch für den Großkonzern. Je mehr teure Behandlungen abgelehnt werden, desto profitabler ist die Krankenversicherung.
Theoretisch kann ein Abgelehnter auch einen neuen Antrag stellen, und darauf weisen die PR-Bullshitter der US-Krankenversicherer auch hin. Der Patient kann sogar klagen! Doch es ist nicht immer einfach, dafür die Kraft aufzubringen, während der Krebs deinen Körper frisst.
Erst Bankrott, oder gleich Tod
In den USA existiert ein etablierter Fachbegriff für die finanziellen Härtelagen durch schwere Erkrankungen, die »financial toxicity« (siehe cancer.gov). 42 % aller mit Krebs diagnostizierten Amerikaner haben innerhalb von 2 Jahren sämtliche Ersparnisse aufgebraucht.
Wer den Krebs überlebt, unterliegt noch immer einem 2,5fachen Bankrottrisiko. Die Zahlen sind allerdings auf mehrere Weisen verzerrt. Junge Menschen ohne Ersparnisse etwa sind nach einer Krebsdiagnose oft praktisch pleite, während ältere Menschen unter Umständen etwas länger von Haus und Ersparnissen »leben« können.
Das Geschäftsmodell von US-Krankenversicherungen baut auch darauf, dass Erkrankte nach einer Ablehnung von Versicherungsleistungen resigniert selbst zahlen, resigniert in den Tod gehen oder zumindest so lange von der Bürokratie aufgerieben werden, bis sich das Problem »von selbst erledigt hat«.
Euer Urteil
Die UnitedHealth Group hat 2023 einen Gewinn von 22 Milliarden Dollar eingefahren (forbes.com, 12.1.2024). 22 Milliarden Gewinn! Gestalten wie der Ermordete haben für Profit das Leid und womöglich den Tod von Menschen in Kauf genommen. Damit rede ich nicht schlecht über einen Toten – damit beschreibe ich schlicht den Job, den er gewählt hatte.
Als Brian Thompson ermordet wurde, war er zu einer UnitedHealthcare-Investorenkonferenz unterwegs. Mit Aktienoptionen und sonstigen Einnahmen lag das jährliche Einkommen des Ermordeten zuletzt bei über 10 Millionen US-Dollar (newsweek.com, 4.12.2024).
Er war ja unterwegs zur Investorenkonferenz, wo man sich bestimmt über den spektakulären Profit freute.
Ich weiß nicht, ob angesichts der Milliardengewinne eine Erhöhung seines Bonus beschlossen werden sollte, ich vermute es aber.
Es wird nicht dazu kommen.
Ein Mensch zu sein
Nein, es ist nicht gut. Es ist weder zulässig noch hier diskutabel, einen Menschen zu töten. Wenn aber viele Tausend Menschen offen die Ermordung einer Person feiern, die in ihrer professionellen Geldgier vieltausendfaches Leid und womöglich manchen Tod in Kauf nahm, kann man verstehen, dass bei den Opfern des Ermordeten nicht das Mitgefühl an erster Stelle steht.
Wir sind verpflichtet, uns an Gesetze zu halten und uns darum zu kümmern, wofür wir Verantwortung tragen. Es existiert aber keine Pflicht zum Mitgefühl.
Meine Befürchtung ist, dass gerade einige Dinge gewaltig in Schieflage geraten. Denn die Lehre, welche manche Psychopathen in CEO-Posten aus diesem Mord ziehen werden, wird nicht sein, dass man Menschen vielleicht besser nicht für Profit leiden und sterben lassen sollte.
Die werden daraus lernen, dass man einfach nur soziale Medien zensieren und mehr Security für CEOs abstellen muss.
Den Menschen ein Mensch zu sein, ist in manchen Branchen nicht gut für den Aktienkurs.
Den Menschen ein Mensch zu sein, ist aber gut für die Seele – so man denn eine Seele hat.