Dushan-Wegner

12.01.2018

Wer half mir wider der Titanen Übermut?

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Bild: Peter Paul Rubens, »Der Sturz der Titanen« (1637/38)
Was ist noch schmerzhafter als einen Künstler sterben zu sehen? Selbst zu sterben, wissend, dass jener Kunst schaffen wird, die ich nie sehen werde.
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Das erste längere Gedicht, das meine Tochter auswendig lernte, war der Prometheus des Goethe. Elli übte es mit ihr ein und wir sprachen mit ihr über die Bedeutung. Die Tochter fragte ihre Grundschullehrerin, ob sie zur Weihnachtsfeier ein Gedicht vortragen dürfte. Sie durfte.

So kam es, dass unsere kleine Tochter zu jener Feier, bei welcher der Geburt des Gottessohnes gedacht wird, Goethes genialische Entthronung gleich des gesamten Götterhimmels vortrug. Alle anwesenden Eltern waren gerührt und die Lehrerin sowieso – good times.

»Bedecke deinen Himmel, Zeus!«, deklamierte unser Töchterlein.

Sogar etwas geschauspielerte Wut gelang ihr, als sie ausrief: »Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn’, als euch, Götter!«

Mit großer Würde und noch größerer Erleichterung, unfallfrei am Ende dieser Hymne angekommen zu sein, schloss sie: »Hier sitz’ ich, forme Menschen nach meinem Bilde; ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, und dein nicht zu achten – wie ich!«

Großer Applaus – hach, wie weihnachtlich!

Bekanntlich sagt der Optimist, das Glas sei halb voll, der Pessimist sagt, es sei halb leer und der Paranoide sagt, das Wasser sei bestimmt vergiftet. Ich sage: Schön und gut – aber was ist mit all den anderen Gläsern im Regal, wer soll die füllen? Was, wenn sie für immer ungefüllt bleiben?

Die Aufgabe der Kunst ist es, eine Sprache zu finden, für das, wofür wir mit Bordmitteln keine Sprache haben. »Der Luftangriff auf Guernica brachte viel Leid« – ein solcher Satz bleibt kühl und trocken. Wenn aber Pablo Picasso es malt, lassen uns die verzerrten Gesichter von Mensch und Tier, die harten Kontraste und die scharf aufeinander treffenden Linien mehr und viel tiefer vom Leid erfahren. Picassos kubistische Darstellung von Guernica ist präziser als ein Text es sein kann, tragender als nur das Foto einer einzigen Szene oder einer rauchenden Ruine.

Goethe hätte auch mathematisch-analytisch beschreiben können, wie mancher Mensch zerrissen ist zwischen einerseits Stolz und Ratio, die ihm gemeinsam auch nur die mögliche Existenz eines Gottes zu verbieten scheinen – und dem »Herzen« (was auch immer das ist), welches ihn merkwürdigerweise eben doch zu »den Göttern« hochzieht, wie kümmerlich sie sich auch nähren mögen. Der Mensch ist hingezogen zu einer Entität, die sein Verstand ihm ausreden will – er ist wie ein Schwerverliebter, der sich heimlich in die letzte Sitzbank schleicht und aufs Ausgeschlossene hoffend der Trauung seiner Angebeteten beiwohnt. Diese innere Gewalt zwischen Leere und Unmöglichkeit, wie ließe sich die wahrhaftiger beschreiben, als im Prometheus? Das Gedicht als Waffe gegen den und die Titanen.

Sicher, ich freue mich über all die Kunst, die früher entstanden ist. (Heute gibt es ja nur noch wenig, was sich zu nennen lohnte. Heute geehrt zu werden ist geradezu Disqualifikation.) Doch – um den Schrank voll leerer Gläser aufzugreifen – ist es nicht unendlich schmerzhaft, wenn man bedenkt, wie viel Kunst nicht entstanden ist? Vielleicht wurde der nicht-realisierte Künstler im falschen Land geboren, vielleicht in der falschen Zeit oder in der falschen Familie. Schlimm, ein Elend!

Doch, Sie würden irren, wenn Sie annähmen, dieser abstrakte, beinahe künstliche Missmut ob ausgebliebener Kunst sei nicht zu steigern!

Schlimmer noch als jenes theoretisch begründete Weh, ist eine andere Realität: In den letzten Jahren haben wir viele Künstler sterben sehen, und es tat jedes Mal weh. Was aber ist schlimmer, als einen Künstler sterben zu sehen? Zu wissen, dass er dich überleben wird, und Werke schaffen, die du nicht mehr sehen wirst.

Was der Einzelne von der Welt und ihrer Kunst sehen und aufnehmen kann, selbst wenn er den Tag vom Morgen bis zum Abend in Museen, Galerien und Bibliotheken verbringt, ist immer nur ein lächerlicher Bruchteil des Gesamten, des Möglichen. Und selbst wenn es ihm gelänge, alles aufzunehmen, was bis dahin wichtig und bemerkenswert war, so wird doch nach ihm, nach des Kunstgenießers Tod, weiter Kunst geschaffen werden, die er bestimmt gern gesehen und gelesen hätte.

Was also tun? – Wohl dies: Wertschätzen, was wir haben. Nie schlafen gehen, ohne am Tag zuvor zumindest einen schönen Satz gelesen oder ein schönes Bild betrachtet zu haben. Die Zeit nicht mit Wichtigem verplempern.

Ich will lieber mit von Goethe in spielerischem Unsinn ausrufen: »Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?«

Nein, hat es nicht – aber es schläft sich besser im Glauben, es habe. Das ist Kunst: eine Waffe im Kampf gegen der Titanen Übermut.

Weiterschreiben, Wegner!

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