Dushan-Wegner

05.08.2021

Lasst die Reling los, gebt den Balkon verloren!

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Martin Zangerl
Ich höre heute Warnungen, die Willkür der Regierung beschädige das Vertrauen in den Rechtsstaat, und ich frage mich: Auf welchem Planeten haben die Leute, die HEUTE davor warnen, die letzten 10 Jahre gelebt?!
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»Trau dich und lass los, bevor es dich in den Abgrund zieht!« – Ach, wir denken an mehr als eine Situation, in der einem Menschen solches zugerufen wird.

Einer, der sich an die Reling eines sinkenden Schiffes klammert.

Einer, der nicht vom Balkon des brennenden Hauses springen will.

Und dann all jene, die sich metaphorisch an etwas klammern, das nicht zu retten ist – womit wir wohl bei den Meldungen zum Tage wären!

Unfröhlich amüsiert

Es ist nicht fröhlich, das Amusement, mit welchem ich dieser Tage die ein oder andere Mahnung lese, das Handeln der Merkelbande (meine Wortwahl) wirke doch allmählich willkürlich (deren Wortwahl), und wenn es so weitergehe, sei Deutschland auf dem Weg zum autoritären Staat (meine wie auch deren Wortwahl).

In seinem aktuellen Kommentar zur angedachten Schleierfahndung nach Ungeimpften mahnt der WeLT-Chef mit ernster Stimme:

Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um mit immer größerem Misstrauen auf fallende Tabus zu blicken, die allesamt in einem autoritären Staatsapparat kulminieren. (Ulf Poschardt in welt.de, 4.8.2021(€))

Der Rest des Kommentars zählt dann Widersprüche und wenig demokratische Entwicklungen auf, deren Erwähnung man eher bei den Freien Denkern als vom Konzernmedium erwartet.

Der Text steigt mit der Verwunderung ein, warum 2015 angeblich die Grenzen nicht geschützt werden konnten, und jetzt wohl plötzlich doch. Wir müssen gar nicht erst erwähnen, dass diese 2015-Lüge schon früher als solche belegt wurde, etwa zum G20-Fototermin (bundespolizei.de, 13.6.2017), wir wollen so oder so den sonst gewiss sehr gut informierten Herren hier fragen: »Das merken Sie erst jetzt?!«

Der Kommentar notiert die nach politischer Ausrichtung erteilten Demo-Verbote in Berlin (so weit, den auffallend brutalen Einsatz der Polizei und den Tod eines Regierungskritikers zu erwähnen, geht er dann doch nicht). Die inhaltliche Quintessenz aber hat er an den Anfang gestellt (beeinflusst der für Bezahlschranken nützliche Köder hier den Stil und Textaufbau?), und sie lautet:

Gebrochenes Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit heilt nur schwer. Das Misstrauen bleibt. (Ulf Poschardt in welt.de, 4.8.2021(€))

Meine Kinder würden hier sarkastisch replizieren: »You don’t say, bro!« (In unserer damaligen Jugendsprache etwa: »Sach‘ nich’, Alter!«)

Weiße Knöchel

Wir meinen sie durch jede der Zeilen jenes Kommentars sehen zu können, die weißen Knöchel an den Händen, mit denen sich so mancher Mainstreamer an die Illusion krallt, das Schiff der Demokratie sei nur etwas ins Trudeln geraten, das würde sich schon irgendwie gerade ausrichten, vielleicht nach dem Wechsel des Kapitäns und des ersten Offiziers.

Oder, um die andere Festklammer-Metapher einzusetzen: Das Haus alter Gewissheiten steht in Flammen, giftiger Qualm verätzt die Atemwege, doch der brave Journalist will es einfach nicht wahrhaben. Er klammert sich ans Balkongeländer, und ruft ins lodernde Feuer: »Wenn wir nicht bald zu löschen beginnen, könnte das Vertrauen in die Stabilität des Hauses verloren gehen, und gebrochenes Vertrauen heilt nur schwer!«

So tragisch normal

Nein, der von mir hier gelesene Kommentar des WeLT-Chefs ist nicht besonders – er ist heute nicht einmal besonders mutig (da hat sein Kollege Reichelt früher und härter vorgelegt, siehe bild.de, 2.8.2021: »Diese Willkür ist gefährlich«). Ich lese den Poschardt-Text hier aber, gerade weil er so tragisch normal ist!

Man möchte dem Autor zurufen: »Das Schiff deiner Illusionen, es sinkt! Das Haus etablierter Gewissheiten, es steht in Flammen! Was klammerst du dich fest? Trau dich und spring!«

Bettelnde Hoffnung

In jenem Kommentar wird eine Art von Hoffnung transportiert, die mir täglich weniger behagt. Es ist ein passive Hoffnung, ein harrende, duldende, um glückliche Schlenker des Schicksals bettelnde Hoffnung, die mir heute unerträglich ist.

Die Es-wird-schon-werden-Hoffnung, sie ist keine Hoffnung, sie ist eine schiefe Mathematik, die sich nicht an die Rechenaufgabe traut, also ihr Wunschergebnis ins Ergebnis schreibt.

Die Es-wird-schon-werden-Hoffnung der schwätzenden Klassen, sie bedient eine unreife Kindlichkeit, eine Phase unseres Lebens, in der die Eltern alle bösen Konsequenzen abfederten. Mancher deutsche Wähler wie auch ein guter Teil der Journaille wurden im Bällebad vergessen (nicht erst seit 2016).

Der Tenor heutiger Warnungen ist ja: »Wenn wir nicht aufpassen, wird es noch schlimm werden.«

Man möchte antworten: »Es wird werden, wie es wird, weil ihr nicht aufgepasst habt (sondern wie blöd der Merkel zugejubelt habt), und jetzt spielt es keine praktische Rolle mehr, ob ihr aufpasst.«

Zum Werkzeug

Ich wage zu warnen: Misstraut den Gestalten, die viel Geld damit kassieren, euch zum Dulden und Verharren zu bewegen!

Wollt ihr Hoffnung? Ich glaube an die Hoffnung, die aus dem Handeln kommt. Und ich glaube, wie schon der Buddha, an die Freiheit, die aus dem Loslassen kommt.

Lasst die Illusionen los, wie gemütlich sie euch auch wirken mögen. Handelt, bevor andere an eurer Stelle handeln – und euch zu ihrem Werkzeug reduzieren.

Oder, wie wir es doch dem anderen zurufen wollten, so können wir zuerst uns selbst Mut zusprechen: Trau dich und lass los, bevor es dich in den Abgrund zieht!

Weiterschreiben, Wegner!

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