06.03.2025

Die Mittelschicht versteht den Verrat nicht

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Bild: »Das Rätsel der Mittelschicht«
Die Armen und die Reichen verstehen, was Verrat ist. Die einen erlebten ihn, die anderen kennen ihn. Das Problem ist die Mittelschicht, die sich den »großen Verrat« nicht vorstellen kann (selbst wenn der Kanzler sofort nach der Wahl sein Wort bricht).
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Der Lebende vermag nicht sich vorzustellen, wie es ist, tot zu sein. (Übrigens: Zum Kunstwerk »Die physische Unmöglichkeit des Todes in der Vorstellung eines Lebenden« – auch als »Der Hai« bekannt – siehe den Essay »Lot Dilemma« aus dem Jahr 2020.)

Die Frage, ob Gott einen Stein heben kann, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht heben kann, ist »beantwortet«: Die Frage ist widersprüchlich; sie beschreibt im ersten Teilsatz einen anderen Gott als im zweiten. Es ist wie zu fragen, ob man es bewerkstelligen kann, dass aus »p ist wahr« irgendwie »p ist nicht wahr« folgt.

Ähnlich verhält es sich mit der Vorstellungskraft und dem eigenen Tod. »Ich denke, also bin ich« gilt auch umgekehrt: »Ich bin, also kann ich denken«. Zu denken setzt zu sein voraus, und nicht zu sein kann also nicht gedacht werden.

Ganz ähnlich wie mit der Unvorstellbarkeit des Todes im Geist der Lebenden verhält es sich mit der Unvorstellbarkeit es großen Verrats im Geist der Mittelschicht, sprich: derer, die zu vertrauen gelernt haben.

(Als verwandtes Thema: Jacques Ellul. Ich schrieb darüber etwa im Essay »Misstraut den Gebildeten!«, stellte fest, dass gerade die sogenannten Gebildeten für Propaganda anfällig sind.)

Die Mittelschicht hat ihren relativen Wohlstand und ihre gefühlte Sicherheit dem Schicksal nur selten durch härteste Arbeit, durch Verzicht und unter hohem Risiko abgerungen. Die Allermeisten – seien wir stets ehrlich! – wurden in den Wohlstand hineingeboren, sie hatten vertrauenswürdige Eltern, sie vertrauten sich der Schule und dann der Ausbildung an, sie vertrauten den Institutionen und den empfohlenen Berufswegen, und ihr Vertrauen wurde durch relative Sicherheit belohnt.

Man darf sagen: Dieser im relativen Wohlstand geformten Mittelschicht ist Vertrauen ins System derart tief eingeprägt, dass für sie ein »großer Verrat« schlicht unvorstellbar ist.

Das ist der Grund, warum es die Armen und die Reichen sind, die heute vom großen Verrat sprechen. Die Armen, weil sie vom Leben wieder und wieder verraten wurden, weil sie lernen mussten, dass »Ich wurde verraten« immer wieder die plausibelste Erklärung war. Die Reichen, weil Verrat ihnen Geschäftsrisiko ist (und wenn es nicht anders geht, auch Geschäftspraxis).

Die deutsche Mittelschicht wählte sich einen Kanzler, der buchstäblich nur Tage nach der Wahl seine Wahlversprechen bricht und das Land noch schneller in Richtung Abgrund treibt –und die Mittelschicht starrt auf das Geschehen wie das Schaf aufs Schlachtermesser, arg- und ahnungslos, was als Nächstes geschehen wird.

Es ist Deutschlands Untergang, dass es der Mittelschicht unmöglich ist, zu sehen und realistisch zu deuten, was vor und mit ihnen passiert. Und es wäre Deutschlands Rettung, eine Vorstellbarkeit des großen Verrats im Geist der Mittelschicht zu etablieren.

Lasst uns weiter aufs Wunder hoffen – und dann auch gleich einen Physiotherapeuten für Gott bestellen. Ich höre, der Allgütige hat sich den Rücken verhoben, an einem außergewöhnlich schweren Stein.

Weiterschreiben, Wegner!

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