Dushan-Wegner

18.02.2018

Ordne deine Kreise! Der Rest ergibt sich.

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild: Giovan Battista Langetti, »Die Tötung des Archimedes«
Dies ist ein Text über Anpassung und Ordnung, über die Harald-Schmidt-Show, Leonard Zelig und die Abschaffung des Fernsehens.
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Ich passe mich ja an, ich passe mich sowas von an, man nennt mich den böhmischen Zelig. Rede ich mit Juristen, dann ist jeder zweite Satz von mir: Es kommt drauf an! Bin ich mit Journalisten in einem Raum gefangen, etwa im Flugzeug, wo man sich besser nicht noch vor der Landung unbeliebt macht, und ist in diesem Flugzeug dann wieder mal der Kaviar zu salzig oder der Champagner nicht prickelnd genug, dann schimpfe ich laut auf Rechtspopulisten und Trump! Gelegentlich verwirre ich meine Kinder damit, dass ich laut den Fuß aufstampfe und vom verunsicherten Nachwuchs nachdrücklich eine nachträglich nachhaltige Erhöhung meines Taschengelds nachfordere. Be the ball, Danny!

Heutzutage zitieren ja Wohlfahrtskonzerne und Politiker gern die Bibel, und stets so, dass der Sohn des ewigen Gottes zufälligerweise ihre aktuellen Gewinnpläne und/oder das aktuelle Parteiprogramm zu bestätigen scheint (selbst wenn die Parteilinie im Widerspruch zur Parteilinie von vor ein paar Jahren steht, God is on our side, no matter what our side is today).

Zitieren wir zur Abwechslung einmal einen Text, der unser verfilztes Fell gegen den Strich bürstet! Wer die Bibel nur liest, um seine Meinung bestätigt zu bekommen, der liest sie falsch.

Wenn deine Hand dich zur Sünde verführt, dann hau sie ab! Es ist besser für dich, mit nur einer Hand ewig bei Gott zu leben, als mit beiden Händen in die Hölle zu kommen, in das Feuer, das nie ausgeht. Und wenn dein Fuß dich zur Sünde verführt, dann hau ihn ab! Es ist besser für dich, mit nur einem Fuß ewig bei Gott zu leben, als mit beiden Füßen in die Hölle geworfen zu werden. Und wenn dein Auge dich zur Sünde verführt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, mit nur einem Auge in die neue Welt Gottes zu kommen, als mit beiden Augen in die Hölle geworfen zu werden, wo die Qual nicht aufhört und das Feuer nicht ausgeht.«
Markus 9:43-38

Ein alter Pfarrer erzählte mir einmal, dass er in den Bergdörfern einer gewissen Region tatsächlich Menschen getroffen habe, denen ein Auge oder eine Hand fehlten, aus einem bestimmten, fast schon gruseligen Grund. Sie hatten sich selbst verstümmelt. Sie hatten den Vers wörtlich genommen.

Es ist natürlich eine Metapher, doch wofür steht diese Metapher?

Ich will Ihnen zeigen, wie ich sie deute, und zwar an einem konkreten, realen Beispiel.

Ich habe, noch vor meinem Philosophie-Studium, fürs TV gearbeitet. Ich gehörte zur ersten Generation in Deutschland ausgebildeter Videojournalisten. Nach meinem Volontariat bildete ich selbst wieder Nachwuchs aus, eine Zeit lang. Ich schrieb ein Buch darüber (»Der Videojournalist«, 2004). Im Buch beschrieb ich unter anderem, wie man Menschen »dranhält«. (Ein möglicher Trick von mehreren: Schneide den Film so kurz/schnell, dass der Zuschauer gar nicht dazu kommt, genau zu erkennen, was er sieht, also weniger als 3-4 Sekunden pro Szene. So bleibt sein Hirn im Alarm-Modus und er schaut die ganze Nacht, obwohl er keine Freude daran hat.)

Noch vor der Smartphone-Revolution und der heutigen Debatte um Dopamin und Technik-Abhängigkeit wurde (auch) mir bewusst, dass Medientechnologien drogenähnliche Wirkung haben können. Ich war wahrlich nicht der erste damit, TV als Gegenstand von Abhängigkeit wurde oft genug untersucht. Ein schnelles Googeln ergibt etwa ein Paper aus 1981 mit entsprechenden Thesen aus 1963, oder einen Artikel des bekannten Autors und Forschers Daniel Goleman in der New York Times von 1990: »How Viewers Grow Addicted To Television« – Nein, ich war nicht der Erste mit dieser Erkenntnis, nur der Erste in meinem Freundeskreis. Ich hatte sowieso gescherzt, dass wenn sie die Harald-Schmidt-Show einstellen sollten, ich den Fernseher abschaffen würde. Als die Schmidt-Show in Sat 1 im Dezember 2003 eingestellt wurde, schaffte ich tatsächlich den Fernseher ab. Seitdem habe ich keinen Fernsehanschluss mehr. Bis heute. Wir haben Tablets, E-Reader und ein Skoobe-Abo, einige PCs sowieso. Wenn ich mich gruseln will, schaue ich Talkshows im Internet. Aber ein TV-Anschluss kommt nicht ins Haus – und Fußball schaue ich mit Nachbarn in der Eckkneipe. (Nachtrag: Anfang 2004 habe ich Manuel Andrack in der Kölner S-Bahn getroffen, vom Neumarkt aus in Richtung Severinsbrücke. Ich erzählte ihm, dass ich den Fernseher abgeschafft hatte nach dem Ende der Show. Er deutete an, dass ich wohl einen neuen Fernseher würde anschaffen müssen. Später begriff ich, was er meinte, ich tat es aber dennoch nicht. Schmidt in der ARD fühlte sich falsch an. Man muss wissen, wenn Dinge vorbei sind – selbst wenn sie noch jahrelang weiterlaufen. Ich bin froh, ein paar mal Schmidt live in Mülheim gesehen zu haben. It will never be like this again, das war mir 2004 klar. Die Show lief noch bis 2014.)

Zurück zum TV und den ausgerissenen Beinen: Weil ich glaubte, dass das Medium Fernsehen schon in der Technik angelegt abhängig machen kann, ähnlich wie später die Smartphones, habe ich es konsequent abgeschafft. Um es mit dem Jesus des Markus-Evangeliums zu sagen: Ich habe das Auge ausgerissen, das mich verführen konnte.

Natürlich beschweren sich meine Kinder darüber, dass sie kein TV haben. Wenn sie quengeln, sage ich ihnen: Geht schwimmen mit Freunden. Oder lesen, allein. Oder spielt Lego. Wir haben viel Lego. Aber Fernsehen, nein – das ist das zur Sünde verführende Bein, das wir abgehackt haben. (Es hat auch alles seine Schattenseiten: Die Kinder können jetzt wahlweise auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Tschechisch und bald auch Chinesisch darüber fluchen, dass der altmodische Vater ihnen keinen Fernseher kauft. Ich werde es verkraften.)

Wer an der Gesellschaft teilhaben möchte, gebend und nehmend, der wird sich auch anpassen müssen. Er wird sich waschen müssen und ein Deo benutzen. Er wird Danke und Bitte sagen müssen. Er wird einer täglichen Tätigkeit nachgehen müssen, die seine Mitmenschen ausreichend schätzen, dass sie ihm Geld dafür geben. (Kein Mädchen träumt davon, später Prostituierte zu werden. Kein Junge plant, als Zensur-Aktivist um Fördergelder zu betteln. Kinder wollen Ärztin, Feuerwehrmann oder Künstler werden. Es ist dem Menschen angeboren, der Menschheit insgesamt dienen zu wollen – nur manchmal läuft halt etwas schief. – Anmerkung: Elli wies mich beim Gegenlesen dieses Textes darauf hin, dass Prostituierte durchaus wichtige Dienstleistungen innerhalb der Gesellschaft erbringen, es also eine maßlose Ungerechtigkeit sei, sie mit Zensur-Aktivisten gleichzusetzen.)

Was sollen die Grenzen der Anpassung sein? Wo endet Kooperation und wo beginnt das Verbiegen?

»Zelig« ist ein Film von Woody Allen aus dem Jahr 1983. (Links: Amazon, Wikipedia) – Es ist eine Mockumentary, kommt also wie eine Dokumentation daher, erzählt aber eine erfundene, witzige Geschichte. Die Figur Leonard Zelig lebt im Amerika und Europa des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er besitzt, wider Willen, die bemerkenswerte Eigenschaft, sich den Menschen seiner Umgebung auch äußerlich vollkommen anzupassen. Ist er mit dicken Männern zusammen, bläht er selbst auf. Ist er mit Asiaten zusammen, entwickelt er selbst asiatische Gesichtszüge.

»Zelig, eine kleine leise tragikomische Gestalt, der ein Nichts ist, weil er alles sein möchte«, schrieb Hellmuth Karasek im Spiegel von 1983. Natürlich sind Sie und ich auch ein wenig Zelig. Wir wollen uns anpassen, wir wollen dazugehören. Wir sind hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, dazuzugehören, und dem Trieb, ganz wir selbst zu sein. Und geradezu panisch werden wir, wenn wir zugleich feststellen, dass niemand wirklich ganz dazugehört – und dass wir wenig Ahnung haben, was wir mit »ganz wir selbst sein« eigentlich meinen. Von dieser Spannung, diesem Seiltanz überm Nichts, lebt die halbe westliche Industrie, von Turnschuhen bis zum Schnaps, von Schönheitscremes bis Sportautos.

Was ist die Grenze der Anpassung? Wir könnten uns, wie immer mit schmunzelnder Ernsthaftigkeit, ja an jenem Ausspruch orientieren, der Archimedes zugeschrieben wird: »Störe meine Kreise nicht!«

Die Ordnung meiner Kreise zieht die Grenze meiner Anpassungsfähigkeit. (Bezüglich der Kreise, auch »relevante Strukturen« genannt, sei natürlich mein Buch dieses Titels empfohlen.)

Wenn ich weiß, was meine Kreise sind, und wenn ich mir dessen sicher bin, dass sie mir wichtig sind, und wenn ich eine Vorstellung davon habe, wie ich sie ordnen will, dann ist es im Folgenden wenig mehr als Durchführung und Formalität, störende Beine – metaphorisch! – abzuhacken und das zur Unordnung verführende Auge – metaphorisch! – auszureißen. Zugleich, im Gegenzug: Wenn ich mir bewusst gemacht habe, welche Strukturen mir wirklich relevant sind, kann ich mich auch entspannt anpassen in den Dingen, die mir eben nicht ganz so wichtig sind.

Nun haben wir diese Gedanken verfolgt, vom Zelig über die Bibel über Fernsehen bis hin zu Zelig zurück und schließlich Archimedes. Wo sind wir angekommen, was war unser Ziel? Vielleicht dies: Ordne deine Kreise! Der Rest ergibt sich.

Weiterschreiben, Wegner!

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