Dushan-Wegner

11.12.2017

Die Formeln der Peinlichkeit

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Thomas Kelley
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Peinlichkeit. Spätestens seit Peinlichkeit eine politische Maßeinheit wurde, sollten wir darüber reden, was »peinlich« ist!
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

Was isst du da, Adam?«, fragte es aus dem Donnergrollen.

»Ich?«

»Es sind genau zwei Leute da unten, und nur einer davon heißt ›Adam‹ – wen werde ich also meinen?«

»Richtig,« sagte Adam »mich.«

»Adam?«

»Ja?«

»WAS?! ISST?! DU?!«

»Das, äh, glaube ich, ist ein Apfel!«

»Und woher hast du diesen Apfel, Adam?«

»Das, also – das ist jetzt etwas peinlich

(Ich habe diese Begebenheit aus dem Gedächtnis zitiert. Schlagen Sie zur Sicherheit bitte nochmal im Original nach, oder von mir aus in der Vulgata, bevor Sie mich wieder in Ihrer nächsten Enzyklika zitieren.)

Altes Holz

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Peinlichkeit.

Ich will, um das Gerüst für »Peinlichkeit« zu bauen, auf die Erklärung der Beleidigung aus Relevante Strukturen zurückgreifen:

»Einen Menschen zu beleidigen, bedeutet, die Formel, die er von sich selbst hat, (also sein ›Selbstbild‹,) zu destabilisieren.«
Relevante Strukturen, Kapitel »Die Formel Selbstbild«

Im Buch ist »Selbstbild« ausführlicher erklärt, aber für jetzt soll uns das Alltagsverständnis des Wortes genügen. Ein Mensch fühlt sich beleidigt (oder: verletzt, entehrt etc.), wenn sein Selbstbild von außen beschädigt wurde.

(Während die Beleidigung, zum Beispiel als »Ehrverletzung«, viele Jahrtausende alt ist, hat sich in der Post-Wirtschaftswunder-Gesellschaft der letzten Jahrzehnte eine neue Form des Beleidigtseins etabliert: das Beleidigtsein an Stelle Dritter, bekannt als »Political Correctness« oder »Social Justice Warriors«. Solche »Aktivisten« fühlen sich »beleidigt«, weil ein Selbstbild angegriffen wird, das sie Dritten zuschreiben – und lassen sich auch von diesen Dritten selbst nicht davon abbringen.)

Neue Leisten

Ich will versuchen, fürs Peinliche eine ähnliche Handkeildefinition zu formulieren wie für die Beleidigung. Hier mein Versuch:

Eine Situation ist ›peinlich‹, wenn sie das präsentierte Selbstbild einer Person destabilisiert, diese Person aber sich selbst die Schuld zuschreibt (Selbstwahrnehmung) bzw. zuzuschreiben hat (Außenwahrnehmung).

Unser Ansatz zur Peinlichkeit gleicht darin dem Ansatz zur Beleidigung, dass der Schmerz aus der Destabilisierung des Selbstbildes rührt.

Zwei Aspekte allerdings unterscheiden die Peinlichkeit von der Beleidigung:

  1. Bei der Peinlichkeit wird das präsentierte Selbstbild destabilisiert, bei der Beleidigung das tatsächliche. Die können deckungsgleich sein (das trägt dann zur empfundenen Authentizität bei), überschneiden sich meistens aber nur in Aspekten.
  2. Bei der Beleidigung gibt der Destabilisierte dem Beleidiger die Schuld, bei der Peinlichkeit gibt er die Schuld sich selbst. (Daher kann man sich nicht selbst beleidigen – eine Selbst-Beleidigung ist automatisch so etwas wie »peinlich vor mir selbst«.)

Peinlich vs. Fremdschämen

Wir müssen unterscheiden zwischen dem eigenen Peinlichkeitsgefühl und dem stellvertretenden Peinlichkeitsgefühl, in Deutschland als »Fremdschämen« bekannt.

Manchmal ist eine Situation dem Betreffenden gar nicht peinlich, weil er den Mangel nicht in sein Selbstbild eingebaut hat – aber den Zuschauern ist sie via »Fremdschämen« peinlich, weil diese meinen, dass er sie in sein sonst präsentiertes Selbstbild eingebaut haben sollte!

Peinlichkeit und Beleidigung sind Schwestern

Der große Unterschied zwischen Beleidigung und Peinlichkeit ist, dass beim Beleidigten sein tatsächliches Selbstbild geschwächt wird (zum Stärken/Schwächen siehe etwa das Kapitel »Formeln stabiler machen« in Relevante Strukturen) – bei der Peinlichkeit aber wird »nur« das präsentierte Selbstbild beschädigt – und das Opfer die Schuld bei sich selbst sucht (oder: suchen sollte – siehe Adam).

  1. Verletzung des eigenen Selbstbildes durch ein Gegenüber: Beleidigung
  2. Verletzung des Selbstbildes, das ich einem Dritten zuschreibe : Verstoß gegen Politische Korrektheit
  3. Verletzung des eigenen präsentierten Selbstbildes, woran ich mir selbst Schuld gebe: Peinlichkeit
  4. Verletzung des (oft: zugeschriebenen) präsentierten Selbstbildes eines Dritten: Fremdschämen (englisch in der Praxis: »cringe« – laut Wörterbuchschreibern aber: »vicarious embarrassment«)

Peinlichkeit braucht Publikum

Die Beleidigung braucht einen Beleidiger, einen Beleidigten und ein destabilisiertes Selbstbild. (Der Jurist mag zumindest für die Strafbarkeit der Beleidigung weitere Ansprüche stellen, etwa Vorsatz oder dass es nicht nur ein echtes Selbstgespräch war, das der Beleidigte aus Versehen mitbekommt.)

Auch die Peinlichkeit braucht das Publikum, vor der das präsentierte Selbstbild bröckelt, aber das Publikum kann auch ich selbst sein.

Es gibt Menschen, die betrachten sich immer wieder selbst, sind sich also selbst Peinlichkeitsaufdecker und –publikum. Das sind die, die mitten im Gespräch erröten und zu stammeln beginnen, und keiner weiß, was sie »jetzt schon wieder haben«.

»Dem ist nichts peinlich!«

Es gibt Menschen, denen »ist nichts peinlich«. Ich wage eine Ad-Hoc-Kategorisierung in 2 Gruppen:

  1. Menschen, deren präsentiertes Selbstbild wenig von dem enthält, was man »gemeinhin erwartet«.
  2. Menschen, deren natürliche »Peinlichkeits-Funktion« pathologisch gestört ist.

Die Vetreter den zweiten Gruppe sind die traurigen Fälle, die wir gelegentlich in den Straßen und Gassen umherirren sehen. Sie brauchen Hilfe.

Die erste Gruppe ist aber ein anderer Fall. Letztens fragte eine Bekannte meine Gattin, etwas peinlich (»fremdschämig«?) berührt, warum ich tagelang dasselbe Longsleeve-Shirt trage. Meine Frau erklärte ihr, dass ich viele genau gleiche Shirts habe. Es ist nicht Teil meines Selbstbildes, jeden Tag anders aussehen zu müssen – es ist mir zumindest nicht peinlich, jeden Tag gleich auszusehen.

Es soll ja weit extremere Fälle als mich geben! Man denke an einen Klischee-Mathematiker, der mit Kaffeeflecken auf dem Hemd seine Vorlesung hält – aber in eine Lebenskrise gerät, wenn ihm öffentlich ein Fehler in seinem Beweis unterläuft – und dem gegenüber einen Schönling, dessen Mathematikkenntnisse schon mit seinen Protein-Shake-Abmischungen und Trainings-Einheiten an ihre Grenzen geraten, der aber in Krisenmodus schaltet, wenn der Nachmittagskaffee in der Innenstadt sich in die Länge zieht und er nach 18 Uhr noch braune Schuhe trägt. (Hinweis: Falls das absurd ist, setzen Sie hier bitte selbst ein, worüber Schönlinge wirklich in Lebenskrisen geraten.)

Wenn wir sagen, »dem ist nichts peinlich«, äußern wir damit eher so etwas wie ein Fremdschämen. Man fragt sich allerdings: Ist das Fremdschämen noch immer »Fremdschämen«, wenn jene Person weiß, was der Fall ist, es ihr aber nicht peinlich ist, da sie es nicht im präsentierten Selbstbild trägt – und im privaten Selbstbild sowieso nicht?

Notiz: Die Namen der Peinlichkeit

Im Peinlichkeits-Universum schwirren viele Namen und Begriffe umeinander. Das deutsche »Fremdschämen« ließe sich mit dem US-Begriff »cringe« vergleichen. Dieses »cringe« allerdings bedeutet auch etwa »zusammenzucken« – und das ist kein Widerspruch, nur eben eine zusätzliche Bedeutung, die »fremdschämen« nicht enthält. Selbstbilder und die Reaktionen auf Realität-Selbstbild-Dissonanz unterscheiden sich zwischen Kulturen, Zeiten und sozialen Schichten. Ich meine, mich auf »Peinlichkeit« und »Fremdschämen« beschränken und die verwandten Begriffe als Spielarten davon ableiten zu können.

Testen wir!

Gehen wir doch einige Situationen durch, die uns als »typisch peinlich« einfallen!

  • Ein Mann hält eine Rede vor Publikum und stellt am Ende fest, dass sein Hosenstall unverschlossen war.
  • Minuten vorm ersten romantischen Dinner wächst Ihnen ein Pickel mitten auf der Stirn.
  • Der Name eines wichtigen Kunden oder Kollegen fällt Ihnen nicht ein.
  • Der Chef erwischt seinen Angestellten beim Social-Media-Surfen während der Arbeitszeit.
  • Die eigene Stimme zum ersten Mal auf einer Tonaufnahme hören.
  • Auf dem Weihnachtsmarkt den eigenen Chef treffen, wie er mit einer jungen Dame, die nicht seine Gattin ist, allzu freundlich ist – aber es ist zu spät, zu tun, als habe man einander nicht gesehen.
  • In einer »Talentshow« den Menschen zusehen, die meinen sie hätten Talent – aber eben doch keines haben.

Wenn wir diese Liste durchgehen, stellen wir fest, dass es mal um das eigene präsentierte Selbstbild geht, mal um ein zugeschriebenes/erwartetes präsentiertes Selbstbild – und mal um beides.

Beim häufigen Beispiel des »offenen Hosenstalls« etwa sind es das erwartete und das eigene präsentierte Selbstbild, die destabilisiert werden.

Wenn wir zum ersten Mal die Aufnahme unserer eigenen Stimme hören, muss es peinlich sein, denn die Stimme, die wir bis dahin »im Kopf« hörten, ist eine ganz andere, als die, die man außerhalb hört.

Bei der TV-Talentshow (und von Schauspielern dargestellt in amerikanischer »Cringe-Comedy«) fällt das vom Talent präsentierte Selbstbild (also das, was er zu präsentieren meint, z.B. sich als »Sänger«) und das, was der Zuschauer erlebt (z.B. Äquivalent einer quietschenden Tür), im »besten Fall« brutal auseinander. Dieses öffentliche Kollabieren eines Selbstbildes, vom Träger unbemerkt, »schmerzt auf angenehme Weise«, wie ein Horrorfilm oder eine scharfe Soße.

Beim Geld sagt man: Leih dir Hunderttausend, und du hast ein Problem – leih dir hundert Millionen, und die Bank hat ein Problem.

Ähnlich gilt: Ein wenig peinlich, das ist Alltag – so richtig peinlich, das ist Unterhaltung.

Politik

Man könnte meinen, Peinlichkeit sei nur eine private Angelegenheit, doch alles, was wir kleinen Leute machen, das machen unsere Größten und Edelsten auch, nur viel größer und edler – auch die Peinlichkeit.

Herr Dr. Kissler vom Cicero brachte kürzlich die Probleme eines weiteren deutschen Vorzeigeprojekts auf den Punkt:

Deutschland: peinlich, aber nachhaltig.
– @drkissler, 10.12.2017

Worum ging es? Eine Schnellfahrstrecke wurde eröffnet. Der ICE soll von München nach Berlin in unter 4 Stunden fahren – und dann wieder zurück. Klappte es? Teilweise. Frau Merkels Raute saß.

Das Image des »Made in Germany«, doch etwas ramponiert seit BER, Dieselskandal und Milli Vanilli, dieses dennoch noch immer stolz getragene Selbstbild, es wurde weiter destabilisiert. Die Destabilisierung eines präsentierten Selbstbilds ist – wie wir postulieren wollen – »peinlich«. Nicht nur seit dem täglich aufs neue schmerzhaft widerlegten »Wir schaffen das!« ist Peinlichkeit eine Maßeinheit deutscher Politik.

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Arbeit (inzwischen 2,030 Essays) ist nur mit Ihrer Unterstützung möglich.

Wählen Sie bitte selbst:

Jahresbeitrag(entspr. 1€ pro Woche) 52€

Augen zu … und auf!

Auf /liste/ finden Sie alle Essays, oder lesen Sie einen zufälligen Essay:

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Wegner als Buch

alle Bücher /buecher/ →

Die Formeln der Peinlichkeit

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)