Liebe Kinder, gleich welchen Alters, ich will euch ein gar verrücktes Märchen erzählen. Ihr werdet es kaum glauben, doch die Märchen sind, anders als die Nachrichten, nicht dafür da, geglaubt zu werden.
Es war einmal ein Königreich, da waren die Menschen noch nicht alle so klug und vernünftig wie wir heute klug und vernünftig sind.
Damals wanderten Zirkustruppen durchs Land, und sie unterhielten die Menschen, mit Tricks und mit Gaukeleien. Mancher Gaukler war etwas ganz anderes, als er zu sein vorgab, aber das war seine persönliche Freiheit.
In jener märchenhaften Welt, da gab es auch eine Zirkustruppe, die war landauf, landab dafür bekannt, ihre Gefühle für Fakten zu halten. Die richtigen Fakten aber, also die Ereignisse, das, was wirklich passierte, das zu sagen, das galt als sehr böse.
In dieser Zirkustruppe, liebe Kinder, da gab es eine Artistin, die konnte die Wahrheit selbst mit Mühe nicht von der Lüge unterscheiden – oder so schien es.
Sie war eine Artistin, die mächtige Männer für sich gewinnen konnte. Sie flog geradezu durch die Manege, mal hierhin, mal dorthin, doch man versicherte uns, dass sie keine Marionette war, obgleich sie zuweilen wie eine solche redete.
Nein, eine Marionette war sie nicht, diese Artistin mit Artikulationsproblemen. Und sie war gewiss keine Holzpuppe, was man daran erkannte, dass ihr beim Lügen die Nase nicht länger wuchs.
Etwa, wenn sie Lügen darüber erzählte, was sie im Leben alles so gemacht hatte. Oder wenn sie zu notieren vergaß, wer die Dinge wirklich geschrieben hatte, die im Buch standen, von dem sie sagte, sie hätte es geschrieben.
Diese Artistin, von der wir erzählen, sie fürchtete sehr die Unfälle mit der Pferdekutsche. Ein Priester hatte ihr versichert, dass wer eine Christophorus-Plakette an seine Pferdekutsche anbringt, gegen Unfälle geschützt sei.
Vor dem Gespräch mit dem Priester wusste die Artistin ja gar nicht, dass sie solche Angst vor Unfällen mit der Pferdekutsche hatte. Umso dankbarer war die Artistin, als der Priester nicht nur die Angst in ihr weckte, sondern ihr auch noch gleich die Plakette verkaufte.
Die Artistin kaufte Plaketten. Nicht eine, nicht zwei, nicht drei – nein! Die Artistin, die keine Marionette war, sie nagelte gleich vier magische Plaketten an ihre Kutsche. Ja, sie insistierte sogar beim König, er möge ein königliches Dekret erlassen. Ein jeder Bürger solle gezwungen werden, vier magische Plaketten auf seine Kutsche zu hämmern.
Und doch, wie das Schicksal es so will, trotz der vier Plaketten geriet die Artistin in einen schlimmen Pferdekutschen-Unfall. Danach lag sie zwei Wochen flach, so berichtete sie später. Der Unfall habe sie echt niedergestreckt, trotz vier Christophorus-Plaketten. Selbst einen Monat nach dem Unfall hatte sie Mühe, die Treppe hinauf zu steigen. (Die Chefin ihrer Zirkustruppe hatte dieselbe Mühe, so gifteten böse Zungen, aber das hatte wohl andere Gründe.)
Noch nicht einmal als ihr Freund, der Schweinebauer, trotz Christophorus-Plakette in einen Unfall verwickelt wurde, wollte die Artistin von ihrem Glauben ablassen.
Das, liebe Kinder, ist wahrer Glaube.
»Ohne die Christophorus-Plaketten wäre es noch viel schlimmer gekommen«, so musste man damals sagen, wollte man nicht den Zorn der Priester auf sich ziehen, nachdem man einen Unfall hatte.
Und wehe, man hätte öffentlich den Verdacht ausgesprochen, dass der Glanz der Plaketten die Kutscher ablenkte. Vielleicht trugen die Plaketten ja auf solche Weise erst zu den Unfällen bei? Je mehr Plaketten, desto gefährlicher? – Nein, auf keinen Fall!
Genau dieser Gedanke war gefährlicher als Plaketten und Unfälle zusammen. Deshalb wurde der Gedanke verboten. Das Denken war überhaupt verdächtig. Das Motto jener Zeit: Plaketten kleben und Klappe halten.
Wenn eine Kutsche mit Plakette einen Unfall hatte mit einer anderen Kutsche, die ebenfalls eine Plakette trug, dann erklärten die Priester, dass andere Kutschen ohne Plakette daran schuld waren – warum auch immer.
Die Plaketten zu kritisieren hätte dazu führen können, dass die Menschen keine Plaketten mehr kauften, und das hätte das Geschäft der Priester kaputtgemacht – Pardon! – ich meine: Zweifel an den Plaketten hätten mehr Menschen dazu bewegt, sich gar keine zu kaufen, was zweifellos die Unfallzahlen hätte steigen lassen, und deshalb verboten werden musste.
Die Plaketten-Priester hatten, so munkelte man, manche der Zirkustruppen bestochen, gut über die Plaketten zu reden. Jedoch, man nannte die Bestechung eine Spende. Zu spenden, das war nicht verboten. Aber darüber zu reden, das galt als unfein.
Spätere Zeiten, so weiß das Märchen zu berichten, würden feststellen, dass damals erstaunlich viel Macht in den Händen der Priester lag, welche die Christophorus-Plaketten verkauften.
Liebe Kinder, so war das damals! Früher waren die Menschen nicht alle so klug und vernünftig wie wir heute. Und doch, sie hielten sie sich für die Klügsten und die Moralischsten. Es waren wahrlich verrückte Zeiten. Gut, dass nichts davon wahr ist und alles frei erfunden.
Die Moral von Geschicht’: eine Moral, die gibt es nicht. Schlaft gut, liebe Kinder. Und kauft Christophorus-Plaketten. Jeden Monat eine. Oder zwei. Oder drei.
Statt abends die Schäfchen mit Nummern zu versehen, könnt ihr zum Einschlafen ja eure Christophorus-Plaketten zählen.
Wer seine magischen Plaketten nur stolz genug zählt, der schläft davon ein – garantiert.