In diesen Tagen, wo sich die Wolken über dem politischen Berlin immer weiter verdunkeln, wo sich Lage um Lage vor die Sonne der Hoffnung schiebt, schaut mancher neidvoll nach Wien.
Seit dem 18. Dezember 2017 heißt der Bundeskanzler der Republik Österreich Sebastian Kurz.
Kurz ist vielen in Deutschland bloß bekannt als der junge Mann mit den gegelten Haaren, der mutig Merkel widersprach, als diese ihre Welteinladung aussprach.
Wer sich über Kurz darüberhinaus informieren will, der wird in deutschen Leitmedien oft nur ein lächerlich verzerrtes Bild erhalten. Ich denke etwa an Sonia Mikich (WDR, Auszeichnungen u.a. Politik-Journalistin des Jahres, Deutscher Kritikerpreis und Bundesverdienstkreuz), die Sebastian Kurz mit einem Mitglied der Hitlerjugend verglich. Oder an die unsäglichen Interviews mit Kurz im deutschen Fernsehen, etwa die Unverschämtheiten der überforderten Sandra Maischberger.
Wer als Deutscher über Sebastian Kurz mitreden will, der muss nach anderen Informationsquellen suchen.
Diese Woche ist im Herder-Verlag die Sebastian-Kurz-Biographie des BILD-Chefreporters Paul Ronzheimer erschienen. Ich habe sie gelesen und ich kann sie Ihnen empfehlen – hier einige Notizen dazu.
Den Sowas-wie-ein-Schlüsselsatz finden wir auf Seite 178:
Sebastian Kurz ist so makellos und nahezu fehlerfrei in seinem Auftreten und seiner Kommunikation, dass man nur schwerlich sagen kann, wie und wer er wirklich ist.
– Ronzheimer über Kurz
Diesen Satz finden wir im Kapitel 6, „Die Zukunft – Wer ist Sebastian Kurz“. Es ist bezeichnend für eine neue Politikergarde, dass man ihre ganze Lebensgeschichte erzählen kann (was bei einem, der 1986 geboren ist, ja auch ein greifbares Vorhaben ist), dass man ihre Kämpfe und ihre Erfolge aufschreiben kann, dass man von ihrer Familie und ihrer sozialen Menschwerdung berichtet, so viel wie zu berichten ist, und sich dann noch immer die Frage stellt: Wer ist das überhaupt, von dem wir sprechen?
Ronzheimer skizziert das Familienhaus und die Jugendzeit des heutigen Herrn Kurz. Ronzheimer hat sich mit Kurz zur Recherche getroffen. Er hat die Berichte über Kurz gelesen und wohl auch seine Auftritte sorgfältiger verfolgt als Sie oder ich. Nur, seien wir realistisch: Das Bild, das Ronzheimer von Kurz zeichnet, ist wahrscheinlich recht ähnlich dem Bild, das Kurz von sich gezeichnet haben will. Das sollten wir im Hinterkopf behalten, und doch sehe ich es nicht als Malus.
Soziale Medien wie YouTube haben einen neuen Politiker-Typus notwendig gemacht. (Ronzheimer schreibt übrigens auf Seite 42, etwas flapsig: „Er wird in einer Zeit Politiker, in der es durch Facebook und Twitter so viel Hass gibt wie nie.“) Heutige Politiker können nicht mehr wie etwa Merkel einfach erklären, dass sie „sich nicht mehr erinnern könne, ob sie in der Jugendorganisation FDJ Sekretärin für Agitation und Propaganda gewesen sei“ (Zitat Jahn). Heute ist alles fein dokumentiert, heute muss es klinisch sauber sein – und mit sympathischer Sympathie für Bauernhöfe.
Sebastian Kurz kommt dreieinhalb Monate nach der Tschernobyl-Katastrophe auf die Welt. Die Familie wohnt in Meidling, damals noch mehr ein Arbeiterstadtteil als heute.
– Ronzheimer über Kurz, S. 21
Das Erwachsenwerden des Sebastian Kurz könnte aus dem Vorlagenheft für gut verkäufliche Politiker stammen. Sebastian geht zur Schule und treibt Sport. („Neben dem Bergsteigen ist er begeisterter Tennisspieler.“, S. 25) Gelegentlich tanzt er in der Diskothek. Er mag Bauernhöfe. Der Geografielehrer erinnert sich gern an den Schüler.
Ähnlich wie Buddha, Kohl oder Jesus (mein Vergleich, nicht der von Ronzheimer!) erkennt man auch bei Kurz schon früh einen selbstbewussten Anspruch auf die Spitzenposition. Der Vater, Josef Kurz, dessen zwischenzeitiger Jobverlust infolge von „Globalisierung“ den Jugendlichen prägt, wird zum frühen Charakter seines Sohnes zitiert:
»Beim Lego gab es dann ein Schiff oder eine Burg, die gebaut werden sollte. Er hatte dann Freunde dabei und da war er meistens schon der Chef und hat gesagt: Ich möchte das so und nicht so. Das ist dann alles sozusagen unter seiner Anleitung entstanden.«
– Ronzheimer über Kurz, S. 22
2003 wird Kurz Mitglied der „Jungen ÖVP“. Seine ersten politischen Schritte unternimmt er im 1. Bezirk, also ÖVP Innenstadt, nicht in seinem Heimatbezirk Meidling. Das führt dazu, dass man ihn schon früh als „Schnösel“ abstempelt. (siehe S. 34)
Ich muss gestehen, dass ich aus unklarem Grund bis zum Lesen dieser Biografie ebenfalls glaubte, Kurz sei reich-geboren wie etwa ein zu Guttenberg. Sein Gestus und sein glattes Aussehen lassen einen das annehmen. Ich bin damit aber nicht allein. Im Buch finden wir diese charmante Passage:
Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier schreibt in den »Salzburger Nachrichten«: »Er ist fürchterlich uncharismatisch, kommt überheblich und borniert rüber. Kurz ist der Typus des mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsenen Hietzingers.«
Hietzing – das ist der Luxus-Stadtteil von Wien. Dass Kurz in Wahrheit in Meidling aufgewachsen ist und dort auch noch lebt, hat der Jugendforscher zu diesem Zeitpunkt noch nicht mitbekommen. Und er schreibt noch weiter: »Reiten, Gold, Prosecco und Opernball wohnt seinem Habitus inne. Solche Personen aus der Oberschicht lösen Ressentiments aus. Er vertritt von seinem Erscheinungsbild nicht die Jugend.«
– Ronzheimer über Kurz, S. 58
Der Aufstieg des Sebastian Kurz erinnert in mancher grellen Aktion etwas an den jungen Westerwelle (siehe auch S. 49). Einiges war erfolgreich, anderes weniger. 2011 wird er Integrationsstaatssekretär im Rahmen einer Kabinettsumbildung – und gilt bereits als „kontrovers“. 2013 wird er mit 27 Jahren jüngster Außenminister der österreichischen Geschichte – just in der Zeit, in der Merkel die Grenzen öffnete, was für den „kleinen Nachbarn“ im Süden natürlich erhebliche Konsequenzen hatte.
Es ist (etwas Stilkritik: die Formulierung „es ist“ kommt im Buch 87 mal vor, dazu noch Varianten wie „es sind“), es ist kaum möglich, über irgendeinen europäischen Politiker im einundzwanzigsten Jahrhundert zu reden, ohne seine Position zu Merkels Welteinladung abzufragen. In der Person Kurz allerdings finden wir einen der Akteure vor, die den Mut hatten, sich von Anfang an gegen Merkel zu stellen.
Paul Ronzheimer schreibt über 2015/2016:
Eine Krise, die die Politiker in Europa an ihre Grenzen bringt und aus dem aufstrebenden Sebastian Kurz endgültig den Mann machen wird, der später die Wahl in Österreich gewinnt.
Seine Kritiker sagen: Er hat seine Karriere auf Kosten von Flüchtlingen gemacht. Seine Befürworter sagen: Er ist ein Spitzenpolitiker, der gezeigt hat, dass es auch einen Kurs jenseits von Merkels »Alternativlosigkeit« gibt.
– Ronzheimer über Kurz, S. 93
Ein wesentlicher Teil des Buches beschäftigt sich auch, vernünftigerweise, mit Kurzens Handeln in der „Flüchtlingskrise“. Der Autor Ronzheimer bringt sich auch selbst in den Bericht, etwa wenn er von eigenen Stunden auf einem Flüchtlingsboot berichtet (S. 116) oder wenn er (z.B. S. 112) den von ihm begleiteten Flüchtling Feras als Figur auftreten lässt. Das ist interessant und legitim, schließlich war die BILD-Zeitung ja bei der Begleitung der Krise kein ganz unwichtiger Player. (Dass Ronzheimer die Refugees-Welcome-Kampagne der BILD-Zeitung nicht einmal erwähnt – verständlich und geschenkt.)
Es spricht nicht der „Privatmensch Sebastian Kurz“, sondern der Politiker, der gerade erst Kanzler Österreichs wurde. Es spricht nicht der „Privatmensch Paul Ronzheimer“, sondern der BILD-Chefreporter. Es ist keine „Enthüllungsgeschichte“. Es ist ein professionelles, entspanntes, gut lesbares Buch. Es ist ein Buch, das man gelesen haben sollte, um einen Überblick davon zu haben, was über Sebastian Kurz gesagt werden kann.
Es gibt allerdings noch einen je nach Perspektive kleineren oder größeren Grund, ein Buch über Sebastian Kurz zu lesen: Es gibt Hoffnung, dass sich manchmal Vernunft und Selbstbewahrung gegen Ideologie und Selbstzerstörung durchsetzen können.
Und so bleibt nach dem Buch die Frage: Wird es einen deutschen Sebastian Kurz geben? Kann es einen deutschen Sebastian Kurz geben?
Sebastian Kurz: Die Biografie von Paul Ronzheimer; 192 Seiten, erschienen 5.2.2018 bei Herder; Gebundene Ausgabe 24,00 Euro, auch als E-Book und Audio verfügbar