Nehmen wir an, du musst innerhalb von 24 Stunden auswandern. Was wirst du in diesen 24 Stunden noch erledigen wollen?
Verkaufst du hektisch etwas? Oder kaufst du schnell noch ein paar Dinge?
Was würde sich ändern, wenn das Zeitfenster zur Vorbereitung nicht 24 Stunden wäre, sondern ein Monat? Oder, viel kürzer: eine einzige Stunde?
Du würdest wahrscheinlich Papiere mitnehmen. In den meisten zurechnungsfähigen Ländern dieser Welt ist es nicht von Vorteil, ohne Papiere einreisen zu wollen.
Du würdest Wertgegenstände mitnehmen, falls vorhanden. Dazu Geld. Etwas Bares und etwas auf Konten, die auch unterwegs zugänglich sind.
Du nimmst Medikamente mit, und auf jeden Fall genug saubere Unterwäsche.
Okay, verschärfen wir die Regeln!
Nehmen wir an, du hast ein vollständiges Jahr Zeit zur Vorbereitung, doch du verlierst allen Besitz.
Bis auf ein paar billige Anziehsachen und die Papiere, die deine Identität bestimmen, wirst du nichts mitnehmen können. Dein Haus, dein Auto, dein Geld, das wird alles fort sein, wenn du in genau einem Jahr gehen musst.
Würdest du aber in diesem Fall tatsächlich »nichts« mitnehmen?
Denkexperiment
Stellen wir uns vor, dass zwei verschiedene Gruppen auswandern, dass beide keinen Besitz mitnehmen konnten, und dass sie sich beide im selben neuen Land ansiedeln, zu vergleichbaren Startbedingungen und zunächst ohne Beziehungen vor Ort.
Nehmen wir an, dass beide Gruppen die neue Sprache gleich gut beherrschen, und dass sie auch beide gültige Abschlüsse und Diplome für dieselben Berufe vorlegen können.
Doch nehmen wir weiter an, dass nach zehn Jahren die beiden Gruppen wirtschaftlich und sozial sehr verschieden dastehen, trotz vergleichbarer Abschlüsse, Sprachkenntnisse und Startbedingungen. Und nach zwei Generationen befinden sie sich irreversibel in unterschiedlichen sozialen Schichten.
Woran könnte es gelegen haben?
Himmel und Hölle
Ein alter Scherz erzählt, der Himmel sei ein Ort, wo die Franzosen die Küchen betreiben, die Briten die Polizei, die Deutschen die Autowerkstätten, die Italiener den Damen als Liebhaber bereitstehen, und das alles von Schweizern organisiert wird.
Und die Hölle wäre der Ort, wo die Franzosen die Mechaniker sind, die Briten die Köche, die Schweizer an der Liebhaberei herumholzen, die Deutschen die Polizei stellen, und die Italiener sich an der Organisation versuchen.
Klar, man könnte einzelne Aspekte dieses Scherzes debattieren wollen.
Sei’s drum! Ich behandele hier als Beispiel die Behauptung, wonach es »himmlisch« wäre, wenn die Deutschen die Mechaniker stellen.
Wir Mechaniker
Nehmen wir an, dass dieser bekannte Scherz einen wahren Kern enthält, deutsche Mechaniker betreffend.
Welche Eigenschaften wären es, die deutsche Mechaniker so »himmlisch« machen?
Ich will zu sagen wagen, dass die erste der deutschen Mechanikertugenden mit »Treu und Redlichkeit« gut beschrieben wäre.
Sind deutsche Mechaniker stets treu und ehrlich? Nun, ich kenne genug von diesen, auch unter meinen Lesern, und ich weiß, dass sie heute »Mechatroniker« heißen, und die Mechatroniker, die ich kenne, sind himmlisch anständig.
Deutsche Mechaniker sind gründlich ausgebildet – dreieinhalb Jahre im dualen System – sie sind geprüft, sie bilden sich fort, sie arbeiten sorgfältig und schnell genug – sie sind im allerbesten Sinne »typisch deutsch«.
Für die guten deutschen Tugenden macht es keinen Unterschied, ob der Mechaniker »Schmidt« oder »Müller« heißt, oder ob er mit einem Akzent spricht wie einst Karel Gott, und ob sein Nachname sich liest wie die Testtafel beim Optiker.
Preußische – pardon: Deutsche Tugenden bleiben deutsche Tugenden.
Es ist ein Idealbild, klar, doch wonach sollen wir streben, wenn nicht nach einem Ideal?
Er nennt es nur anders
Ich hoffe, dass kein Deutscher so bald gegen seinen Willen aus Deutschland zu fliehen gezwungen ist, kein Schweizer aus der Schweiz, und überhaupt wäre es schön, wenn niemand gegen seinen Willen die Heimat aufgeben muss.
Rein hypothetisch also: Was würdest du mitnehmen, wenn du keinen Besitz mitnehmen könntest? Und was davon wäre ein echter Startvorteil?
Was macht die Deutschen im guten Sinne deutsch, die Schweizer im gute Sinne schweizerisch, die Österreicher österreichisch, und so weiter?
Einige unserer Werte und Tugenden sind so wertvoll, dass Bürger anderer Nationen sie »himmlisch« nennen. Mindestens diese Werte und Tugenden sind es, die wir bewahren sollten – selbst und gerade wenn wir nicht wegziehen.
Was hat Wert?
Was bleibt? Und dürfen wir stolz drauf sein?
Es bleibt, wovon wir wollen, dass es bleibt.
Und wenn wir tatsächlich solche Werte wie Fleiß und Gründlichkeit leben, dann dürfen wir auch jeden Tag stolz drauf sein.