Der US-Manager Jack Welch stellte sich bezüglich seiner Angestellten immer wieder dieselbe Frage, sagt er: Wenn dieser Mitarbeiter nicht schon angestellt wäre, würde ich ihn heute neu anstellen? – Wenn die Antwort „Nein“ lautete, dann entließ er ihn (wahrscheinlich). – Was hatte der Angestellte falsch gemacht? Unter Umständen nichts, unter Umständen hatte der Mitarbeiter sogar einiges richtig gemacht. Jack Welch hätte ihn zu dem Zeitpunkt nicht neu eingestellt, das war alles.
Diese Denkweise war konsequent (oder, soll man „radikal“ sagen?), und sie mag auf den ersten Blick schockieren. Die Welch-Frage verärgert Leute aus mehreren Gründen. Die Frage scheint den Mitarbeiter zu einer austauschbaren Funktionseinheit zu degradieren. (Ein Gegenargument wäre die Frage, ob man als Unternehmer wirklich versuchen sollte, sich Freunde einzustellen?) Die Frage scheint auch die moralische Verpflichtung gegenüber dem Mitarbeiter auszublenden, welcher ja in der Vergangenheit dem Unternehmen wohl nutzte, und welcher seine Zukunft in und mit diesem Unternehmen geplant hatte. (Ein Gegenargument wäre die Verantwortung für das Unternehmen selbst und die übrigen Mitarbeiter. Das Unternehmen wird durch einen überflüssigen Lohnempfänger geschwächt, während die übrigen Mitarbeiter ihn mittragen müssen und durch sein Bezahltwerden unter Umständen sogar ihre Arbeitsplatzsicherheit verringern.)
Wie auch immer man zur täglichen Nützlichkeitsfrage des Jack Welch’ steht, es ist ein interessantes Denk-Experiment: Was wären unsere nächsten Schritte, wenn die Vergangenheit keine Rolle spielte und wir die Optimierung zukünftiger Möglichkeit zu unserem ersten Imperativ erklärten?
Ich will wagen, dieses Denk-Experiment einleitend auch für Nationen und deren Ethik einzusetzen: Wie würde Deutschland handeln, wenn es keine Geschichte hätte – oder eine ganz andere? Was wäre das Richtige, basierend nur auf dem Jetzt und auf der möglichen Zukunft?
Es scheint sich als Erfolgsprinzip der USA bewährt zu haben, dass sie ihre Entscheidungen immer wieder neu und immer wieder pragmatisch aus der Gegenwart heraus, mit einigermaßen realistischem Blick in die Zukunft treffen und mit einem klugen Blick in die menschliche Psyche (z.B. Pursuit of Happiness vs. Gutmenschen).
Welchen Einfluss hat der Vietnamkrieg auf die politischen Entscheidungen von Trump? Eher keinen. Welchen Einfluss hatte er auf konkrete Entscheidungen von Obama, Bush oder Clinton? Ich kenne keinen. Ich meine dabei nicht kleinere Symbolhandlungen, sondern ernsthafte wirtschafts- oder sicherheitspolitische Entscheidungen zum Nachteil der USA, allein aus der Schuld heraus – es scheint kaum vorstellbar.
Wir hören das „Schuldkult“-Geschwätz gewisser Politiker. Deutschlands Schuld aus der NS-Zeit sei „aufgearbeitet“ sagen einige – und sie verwenden „aufgearbeitet“ so, wie man „erledigt“ oder „getilgt“ sagen würde. Was soll denn der Gradmesser sein für eine solche „Aufarbeitung“? Kann Schuld dieser Dimension jemals „aufgearbeitet“ sein? Mängel an einer Urlaubsreise verjähren nach zwei Jahren, Mängel am Bau verjähren nach fünf, wann soll denn dieser Versuch verjähren, das Volk der Bibel auszulöschen? Nein, solange die Millionen Toten tot sind, verjährt unsere Schuld nicht, und sollte der Maschiach wiederkommen und die Toten aus ihren Gräbern holen, dann mag dieser entscheiden, wie es mit der Schuld weitergeht – bis dahin aber trägt Deutschland weiter Schuld und die Deutschen sind weiter in der Pflicht, kluge und angemessene Konsequenz aus ihrer Schuld zu ziehen.
Das „Problem“ mit der Schuld ist ein anderes. Das Problem ist, dass jenes Schreckliche als Universalprämisse, aus der sich Beliebiges ableiten lässt, missbraucht wird. Ein Satz, der mit „Gerade wir Deutschen“ beginnt, kann beliebig enden (bis hin zur absurdesten „Israelkritik“) – er wird immer panisch-bedächtiges Kopfnicken ernten. Was mit einer Anspielung auf jene Schuld beginnt, dessen Konklusion zu hinterfragen, ist das nicht schon Leugnung der Schuld?
Joschka Fischer etwa begründete seinerzeit den Einstieg Deutschlands in den Kosovo-Krieg mit diesen Worten:
Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.
– spiegel.de, 13.05.1999
Ex Auschwitz quodlibet? Aus den Verbrechen des Dritten Reiches lässt sich wohl alles und sein Gegenteil ableiten, wenn man nur unscharf genug hinschaut, zum Beispiel dass Deutschland nie wieder irgendwo einmarschieren darf, oder eben dass es einzumarschieren geradezu verpflichtet ist. Einmarschieren, nicht einmarschieren, wie es gerade passt.
Die Politik scheint sich bezüglich Merkels Welteinladung durchaus dieses Dilemmas bewusst zu sein. Einerseits wäre es in einem verdrehten Sinne durchaus „nützlich“, so zu argumentieren – andererseits würden selbst einige der strammsten Haltungjournalisten die Augen aufreißen ob eines solchen Vergleichs. Also beschreitet man einen Weg, der noch deutlich zweifelhafter ist. Man scheint alte Überlebende den Vergleich ziehen zu lassen, den man hören möchte. Man inszeniert es thematisch nebeneinander, wie etwa beim Holocaust-Gedenktag 2016 im Bundestag. Oder man erwähnt es zumindest, als Parallele, wie 2018 im Bundestag – oder wie die Grünen, ebenfalls in diesem Jahr.
Broder schreibt:
Man kann es einer 94 Jahre alten Holocaust-Überlebenden nicht übelnehmen, wenn sie, vom Rampenlicht geblendet, Unsinn redet. Man muss es aber den Grünen verübeln, dass sie ein Opfer der Nazis instrumentalisieren und missbrauchen, um die absurde These zu belegen, die „Flüchtlinge“ seien die Juden von heute.
– achgut.com, 3.2.2018
Es brauchte den in Frankreich lebenden, prominenten und inzwischen ebenfalls alten Karl Lagerfeld, um das Offensichtliche laut genug auszusprechen, jene simple Wahrheit, die all die Instrumentalisierung und unangemessenen Vergleiche ins passende Licht rückt. Er spitzte es zu. Im lauten Zirkus der Meinungsclowns muss man die ganz große Trommel schlagen, um gehört zu werden.
Wir können nicht, selbst wenn Jahrzehnte zwischen den beiden Ereignissen liegen, Millionen Juden töten und Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land holen.
– Karl Lagerfeld, via: welt.de, 13.11.2017
Die üblichen Meinungsmacherlein, welche die billige Empörung dem Argumentieren vorziehen und die Kritik am Detail dem Verstehen des Ganzen (siehe auch: „Millennials: Wer Zusammenhänge nicht versteht, der kann noch immer Details kritisieren!“), empörten sich und kolumnierten ganz doll, und was sie sonst noch tun. Der Gutmensch aus Deutschland ist ein Meister der kognitiven Dissonanz; er kann gleichzeitig geschockt darüber sein, dass Europas Juden wieder in Angst leben – und dann noch mehr geschockt darüber, wenn, dass und wie jemand es ausspricht, warum sie wieder in Angst leben.
Was wäre, wenn nicht?
Es ist eine gelehrige Übung, Spekulationen darüber anzustellen, wie die Welt heute aussähe, wenn Schlüsselereignisse in der Vergangenheit anders verlaufen wären. Wie sähe Europa aus, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte – und hätten sich die Nazis evtl. an der Macht halten können, auch wenn Stauffenberg nicht gescheitert wäre? Et cetera.
Ich möchte eine verwandte Frage stellen: Wie würde deutsche Politik aussehen, wenn Deutschland nicht diese Schuld trüge? Wie weit öffnet sich das Delta zwischen dem theoretischen Handeln ohne Schuld und dem tatsächlichen Handeln mit ihr? Mein Verdacht ist, dass es sich nicht zu weit öffnet, wie die „Schuldkult“-Fraktion postuliert, sondern zu wenig?
Was, wenn Lagerfeld vollständig Recht hat und wir eine dermaßen falsche Reaktion auf unsere eigene Schuld praktizieren, dass also de facto Merkel auf schräge Weise schon umgesetzt hätte, was die Rechtsaußen nur fordern? Verlogenes Schuldtheater statt echter, kluger Verantwortung? Wenn Lagerfeld auch nur ein wenig Recht hat, dann häuft Merkeldeutschland auf die alte Schuld eine neue – ein schrecklicher Gedanke.
Die „Schuldkult“-Debatte jener Rechtsaußen und die wabernde Bedarfs-Instrumentalisierung durch den Meinungskomplex, sie könnten zu exakt demselben Ergebnis führen. Zynische Machtpolitiker holen die Verantwortung vor der Geschichte nur dann heraus, wenn es wieder den extragroßen moralischen Holzhammer braucht. Die anderen wollen die Schuld gleich ganz begraben, zu den Toten dazu. Beides ist unwürdig, beides ist falsch.
Deutschland trägt Schuld und Verantwortung, und es sollte Rechenschaft darüber ablegen, was es aus dieser Verantwortung heraus tut. Es sollte offengelegt werden. Mir scheint, dass eine Überprüfung dessen, was Deutschland vor dem Hintergrund seiner Schuld tut, zu Ergebnissen führen würde, die einige Meinungsprofis verunsichern könnten. Vielleicht so: Wir tun zu wenig, und wir tun das Falsche. – Wenn aber jene, die wir zu unseren Herrschern erkoren haben, tatsächlich das Falsche tun, sollten wir sie feuern wie Jack Welch unnütze Mitarbeiter feuerte. Und dann müssen wir die nächste Frage stellen: Was wäre das Richtige, was ist die richtige Handlung und was ist die Pflicht, für uns, ja, gerade als Deutsche, gerade vor unserer besonderen Verantwortung?