Dushan-Wegner

10.05.2022

Auf Sylt ist weniger Stress

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Vlad Kutepov
In der Ukraine ist Krieg, aber Frau Lambrecht fliegt mal eben in Richtung Sylt. Im Luftwaffe-Heli, klar. Kann man verstehen! Wenn unsereins Verteidigungsministerin wäre, würden wir auch lieber in Urlaub fliegen – Krieg ist viel zu stressig!
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Ich vermisse die Zeit, als ich am Bahnhof eine Zeitschrift kaufte und mich ganz in ein Thema vertiefte. Heute sind alle Information mit nur einem Klick da – doch mit einem Klick sind sie auch wieder weg, samt meiner Aufmerksamkeit.

Ich bin abgelenkt. Ich lass mich ablenken. Ich lenke mich selbst ab. Vertun wir uns nicht: Ich weiß kaum noch, wie ein Leben ohne Ablenkung wirklich aussieht. Ganz natürliche Konzentration auf ein Thema, und zwar über längere Strecken? Ein Traum!

Gibt schöne Fotos

Wenn jemand belegen wollte, dass Demokratie eben nicht die Politiker in die Macht bringt, die man an der Macht sehen möchte, könnte er in Deutschland seit einigen Jahren etwa das Justiz-, das Familien-, das Außen- oder das Verteidigungsministerium erwähnen – und dazu wohl auch das Gesundheitsministerium, wenn er das Thema »Lobbyisten in der deutschen Politik« anreißen wollen sollte.

Wenn es der politischen Klasse ein echtes Anliegen wäre, Diktaturen wie China oder Russland zu stärken, indem sie die Demokratie lächerlich machen, würden sie genau die Leute an die Spitze dieser Ministerien setzen, die sie dort an die Spitze gesetzt haben.

Derzeit steht an der Spitze des Verteidigungsministeriums eine Frau Lambrecht. Diese war vorher Justiz- und Familienministerin. Und sie hat sich als genau die dreifache Fehlbesetzung erwiesen, die man in diesen schrägen Zeiten erwarten würde.

Verteidigungsministerin Lambrecht ist jeute in den Schlagzeilen, weil sie mit der Regierungsmaschine in Richtung Sylt geflogen ist, kurz vor Ostern, während in der Ukraine ein Krieg ausgefochten wird.

bild.de, 10.5.2022 fragt: »Hatte sich die Ministerin extra einen Truppenbesuch kurz vor Sylt ausgesucht, um dann dort ihren Familien-Inselurlaub zu verbringen? Und das mitten in der Ukraine-Krise?«

Wenn sie mit Regierungsmaschinen herumfliegt, nimmt Frau Lambrecht gern ihren Sohn mit, und das hat sie auch hier getan. Der feine Herr Sohn postete ein schickes Selfie von sich auf Instagram.

Was gewissen Instagram-Damen der blanke Hintern ist, mit dem sie sich interessant machen, das ist dem Alexander Lambrecht anscheinend der Regierungsflieger. Gut, dass wir Steuern zahlen. Und gut, dass die Verteidigungsministerin ihre Prioritäten sauber sortiert hat!

Die sehr moralische Frau Lambrecht ließ sich streng genommen nicht nach Sylt fliegen, sondern zunächst nach Nordfriesland. Dort besuchte sie das »Bataillon Elektronische Kampfführung 911«. Und nachdem sie schon diese gewiss gerade in Zeiten des Ukraine-Krieges besonders wichtige Pflicht erledigt hatte, ließ sie sich breitschlagen und blieb gleich zum Osterurlaub auf Sylt, was ja gleich in der Nähe ist.

Gut, dass der schicke Sohn rein zufälligerweise dabei war. Gewiss hat Frau Lambrecht den ach-so-wichtigen Termin nicht extra so gelegt, dass es zum Osterurlaub passte.

Auf Sylt traf sich die Ministerin übrigens mit ihrer Genossin Bärbel Bas, mit welcher sie im Restaurant »Gosch am Kliff« gesichtet wurde (so bild.de, 10.5.2022). Politik ist Stress, da muss man sich auch mal erholen. Wenn ich Verteidigungsministerin wäre und gerade nebenan der Krieg ausbräche, da würde ich mich auch erstmal verkrümeln, und hoffen, dass die Hektik bald wieder vorbei ist.

Eine Kritik auf tripadvisor.com nennt das Essen in jenem Etablissement »durchschnittlich, aber überteuert«. Ich bin sicher, dass es den feinen Damen Politikerinnen dennoch gemundet hat. In Gedanken waren sie aber bestimmt beim Schicksal der Menschen im restlichen Deutschland, und natürlich in Sorge um die Geschehnisse in der Ukraine. (Und gewiss haben sie vorm Sohn Alexander keine Dienstgeheimnisse ausgeplaudert, ob sie nun Austern oder Lachspizza schmausten.)

Schon als Justizministerin ließ die Genossin den Steuerzahler für ihre, äh, gewiss sehr gut begründeten Entscheidungen blechen. Damals kritisierte die FDP sie noch lautstark, siehe handelsblatt.com, 1.7.2019 – heute koaliert die FDP mit der SPD-Bande. Pack kritisiert sich, Pack koaliert sich.

Ja, ich rege mich über das gruselige Kabinett auf, das Deutschland regiert. Doch noch während ich mich aufrege, warne ich mich selbst: Das ist nur Ablenkung.

Ich sage nicht, dass die mich ablenken wollen! Ich bin mir relativ sicher, dass  denen dreckegal ist, was ich von denen halte. Solange der Propaganda-Apparat dafür sorgt, dass echte Opposition nicht in die Nähe der Macht gelangt und jede Kritik am politischen Wahnsinn der Etablierten via Moralpanik ins Abseits gestellt wird, solange ist es den Scholzens, Lambrechts und Steinmeiers erfrischend egal, ob ich mich empöre.

Meine Empörung ist nicht deren Problem – meine Empörung ist mein Problem.

Ich habe hier also meine hilflose Wut in Worte gefasst.

Ich sammle mich wieder.

»Psst, ruhig sein!«

Ich weiß noch, als man in Bibliotheken saß, weil es dort so schön ruhig war. Man schaute in verschiedene Bücher. Las man sich in einem Buch fest, konnte man es mitnehmen. Ich las neueste Zeitungen und Zeitschriften. Die Bibliothek am Kölner Neumarkt war, wo ich mich über das Weltgeschehen auf dem Laufenden hielt.

Dann kamen Notebooks und das Internet. Mit der Elektronik kamen die ersten Möglichkeiten auf, sogar in der heiligen Bibliothek abgelenkt zu sein.

Dann passierten die Handys – und mit ihnen hilflose Handyverbote. Das Zischen, wenn man gegen alle Verbote ans Handy geht, weil sein Telefonat bestimmt mindestens so wichtig und dringend ist wie der Nordfriesland-Besucher der Frau Lambrecht: »Psst, ruhig sein, wir sind hier in der Bibliothek!«

Ja, ich vermisse die Zeit, als ich mich wirklich in ein Thema einarbeiten konnte, allein des Themas wegen. Nicht nur zwei oder drei Stunden lang, sondern über Tage hinweg, manchmal wie beim Modellbau, erlebte ich einen ganzen Sommer voller »Flow«.

Elektronik und Internet sind natürlich nicht allein an meinem heutigen Zustand ständiger Ablenkung schuld. – Meine Ablenkung liegt ja auch und ganz wesentlich an mir selbst, an meinen Entscheidungen und Handlungen. Ich bin es, der sich ablenken lässt.

Manche »Ablenkungen« will ich ja gar nicht ganz lassen, etwa die Verantwortung für meine Familie. Diese »Ablenkung« läuft immerzu als Hintergrundakkord mit. Auch das war früher, in seligen Bibliothekszeiten, nicht so.

Andere Ablenkungen scheinen kontraproduktiv und zugleich unnötig zu sein. Meine Aufregung über Frau Lambrecht ist überflüssig. Was nutzt sie mir? Nichts nutzt sie mir.

Ich will nicht in die Politik gehen. Was hülfe es dem Menschen, wenn er mit der Luftwaffe durch die ganze Welt flöge, und nähme doch Schaden an seiner Seele?

Klatsch und Tratsch

Ich will meine Pflichten auch nicht ganz loslassen! Und ich will sicher nicht die neuen Möglichkeiten missen. Es war ja nicht unbedingt besser, dass man zum Nachschlagen einer Information erst einmal in die Stadt fahren musste, in die Bibliothek, bangend und hoffend, dass die Enzyklopädie den betreffenden Eintrag enthält und das relevante Buch nicht verliehen ist.

Und doch, und doch, und doch. Ich will dringend, ganz dringend wieder neu lernen, mich zu konzentrieren. Ein Thema länger als die Länge eines Essays samt seines begleitenden Tweets zu bedenken. Mich in eine Materie tiefer als nur ein bis zwei Essays lang einzuarbeiten. Den Mut aufbringen, eine nicht zu beantwortende Frage ein Buch lang eben doch zu beantworten zu versuchen.

Ich stand vorhin im Supermarkt am Regal mit den Zeitschriften. Die Magazine, an die ich mich von früher erinnern konnte, werden nicht mehr geführt – das ist wenig überraschend.

Ich hätte ja gern aus Nostalgie ein Modellbaumagazin gekauft. Sie hatten keines davon, nicht ein einziges. Sie hatten fast nur Klatsch und Tratsch. Die BILD hatten sie, und auch das Magazin, für das Herr Relotius geschrieben hat – beides lese ich, wenn überhaupt, lieber online. Print-Nachrichten: Heute die Agenturmeldungen lesen, die gestern im Internet standen.

Neu aufraffen

Ich habe es noch nicht aufgegeben, mich in ein Thema einarbeiten zu »dürfen« allein weil es ein interessantes Thema ist. Ich will mein Recht auf selbstgewählte Aufmerksamkeit zurück!

Es ist nicht (nur) Nostalgie. Natürlich werde ich die neuen Möglichkeiten nutzen. Ich will mich neu aufraffen, länger als einen Essay lang an einem Thema dranzubleiben.

Das Leben ist, philosophisch betrachtet, die Summe der bewussten Momente. Aufmerksamkeit ist Leben, Ablenkung ist tödlich – und der Tod ist dann irgendwann die ultimative Ablenkung.

Ich habe mich genug aufgeregt über die Gestalten, die Deutschland regieren. Ich seufze, und ich sage mir: Sollen die doch mit der Luftwaffe in den Urlaub fliegen und lecker am Strand essen gehen. So richten diese Zugvögel zumindest (hoffentlich) weniger Schaden an.

Diese Gestalten werden nicht Verantwortung übernehmen. Für nichts, auch nicht dafür, dass ich mich von denen ablenken ließ, die Dinge zu tun, die mir wirklich wichtig waren.

Einfache Klammer

Es liegt an mir. Ich will tun, was ich wirklich tun will.

Und vielleicht finde ich irgendwo ein Modellbaumagazin, wie früher. Ich werde darin blättern, mich zurückerinnern. Nostalgie als die einfache Klammer über die Jahrzehnte des eigenen Lebens hinweg.

Die Zeit, dann auch wirklich ein Modell zu bauen, so wie früher, die werde ich wohl heute nicht mehr finden, so oder so, das sollte ich wohl loslassen. Ich arbeite da gerade an etwas anderem …

Weiterschreiben, Wegner!

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