Dushan-Wegner

30.03.2018

Was ich meine, wenn ich »wir« sage

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Jim Kalligas
Der Mensch braucht ein Wir, doch das Wörtchen »wir« wurde zuletzt missbraucht und entleert. Ich werde das Wir nicht aufgeben. Im Gegenteil! Ich will es nachziehen und angeben, was ich meine.
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

Nehmt ein Büschel Ysop und taucht es in das Blut und bestreicht damit den Türsturz und die beiden Pfosten. Keiner von euch gehe aus seiner Haustür heraus bis zum Morgen. Denn der Herr wird umhergehen und die Ägypter schlagen. Wenn er aber das Blut sehen wird am Türsturz und an den beiden Pfosten, wird er an eurer Tür vorübergehen und den Verderber nicht in eure Häuser kommen lassen, um euch zu schlagen.

Gewiss haben Sie diese Passage erkannt. Diese Aufforderung ist aus dem Prätext zur Zehnten Plage (2. Mose 12:22-23). Die Israeliten werden aufgefordert, mittels eines Zeichens an der Tür zu unterscheiden zwischen Wir und Die. Anschließend wird der »Todesengel« durch Ägypten gehen und die Erstgeborenen des Landes töten – selbst beim Vieh und dem Sohn des Pharaos – und dann erst wird der Pharaoh das Volk ziehen lassen.

Beim jüdischen Pessach-Fest wird der Sklaverei der Israeliten in Ägypten und der Umstände ihres Auszugs aus der ägyptischen Sklaverei gedacht. Eine humorige jüdische Redensart fasst alle jüdischen Feste so zusammen: Sie wollten uns umbringen, wir haben überlebt, lasst uns essen!

Das missbrauchte Wort

Kaum ein Wort wurde in den letzten Jahren so missbraucht wie das kleine Wörtchen »wir«.

Dass das Wort für das Konzept Wir in vielen Sprachen recht kurz und einfach auszusprechen ist, oft sogar nur aus einer einzigen Silbe besteht, zeigt uns bereits an, dass Wir ein sehr basales Konzept ist, also ein Konzept, das Menschen brauchten und brauchen, um sich zu verständigen und zu überleben. (Laut Duden ist es in der Liste der häufigsten Wörter in deutschsprachigen Texten an 39. Stelle.)

Wenn ein deutscher Politiker heute einen Satz mit »wir« beginnt, ahnen wir schon, dass eine Lüge folgt – halt, nein: die Lüge folgt nicht; das »wir« im Mund des Politikers ist bereits eine Lüge. Sein Wir schließt ja nur selten ihn ein, denn er hat Security und Super-Einkommen, er kann nach letztem Dienstende verlustfrei in Russland, in der Schweiz oder sonstwo unterkommen. Das Wir des Politikers ist allzu oft eine Lüge, denn es meint: ihr, die ihr mein Gehalt zahlt. Wir haben Pflichten, aber wehe, wir reden von unseren Rechten. Wir tragen Schuld (etwa an der Entwicklung Afrikas, auf ewig, wegen des Kolonialismus), wir haben zu schweigen, wir haben zu zahlen. Wir sollen die versorgen und aushalten und integrieren, aber wenn wir »die« sagen, wird uns über den Mund gefahren – sogar wenn wir »uns« sagen.

Im Streichelzoo der kleinen Wörter ist »wir« das kleine Hündlein, das, von bösen Typen geschlagen wurde und nun zerzaust und verschüchtert in der Ecke sitzt und wartet, bis wieder normale Kinder vorbeikommen.

Ein Recht auf Wir

Ich bin nicht bereit, das Wort »wir« oder das Konzept »wir« aufzugeben. Ich bin nicht nur nicht bereit – ich halte es für gefährlich.

Schauen wir doch für einen Augenblick an, wer es ist, der uns das Wir ausreden möchte!

Sagen wir es direkt: Es sind sehr häufig juristische Personen (also: Vereine, Stiftungen, Behörden), die in den Krieg gegen das »kleine Wir« ziehen. Juristische Personen ließen sich als ein »juristisch bewaffnetes Wir« bezeichnen. Wenn etwa ein von Steuergeldern finanzierter Verein (also ein organisiertes Wir, bezahlt vom Wir-mit-Polizei) dem Individuum (welches beide genannten Wirs unterhält) es uns ausreden will, vom Wir zu reden, wird der Einzelne schutzlos den organisierten Wirs ausgeliefert.

»Du sollst keinen Gott haben außer mir«, sagte der Alte Gott auf dem Berg. »Du sollst kein Wir haben außer dem, das die Meinungs-Designer dir geben«, sagen die Meinungs-Stiftungen in den Hauptstädten.

Ich verweigere mich. Ich will nicht. Ich verweigere mich der organisierten Wir-Vernichtung. Ich will nicht deren Wir-Angebote annehmen. Soll ich am alten Wir festhalten? Ist das überhaupt möglich? Vielleicht so: Ich suche ein neues Wir, das mit dem alten Wir so deckungsgleich wie irgend möglich ist.

Das Wir definieren

Zum einen halte ich nach wie vor an »alten« Wir-Begriffen fest. Ich bin Teil jenes Wir, das aus Mittelalter, Aufklärung und zwei schrecklichen Weltkriegen hervorgegangen ist. Ich bin Teil jenes Wir, das etwa Goethe, Luther, Kant, Carnap, Frege, Kafka, Mann, Brecht und Wittgenstein hervorbrachte. (Ja, mir ist bewusst, dass in dieser Beispiel-Liste ein Tscheche und zwei Österreicher enthalten sind – dennoch.) Ich bin Teil jenes Wir, das Deutsch spricht und aus religiöser Perspektive wohl am ehesten als »säkularisiertes Christentum, geprägt von jüdischer Denkschule« beschrieben wäre.

Doch, es gibt ein weiteres Wir, das sich in diesen Tagen und Jahren bildet, ein Wir, bedingt durch neue Erfahrungen und auch neu-entdeckte gemeinsame Werte.

Die Entstehung eines Wir kann begleitet und gefördert werden durch ein Erlebnis des Angegriffenwerdens. Jedes Mal, wenn Denunzianten, Totalitäre und GEZ-Finanzierte ihren Hass auf uns Ideologie-Verweigerer auskippen und ihren Mob auf uns losschicken, digital oder via Antifa auch militant, um uns Andersdenkende und Regierungskritiker zu verunglimpfen, dann entsteht daraus ein Gefühl des neuen Wir.

Als die Kauft-nicht-beim-Broder-Kampagne losging (initiiert vom damaligen Angestellten einer Agentur, die später – ohne Zusammenhang – einen dicken PR-Auftrag von der Regierung erhielt), standen wir (!) an Broders Seite, oder nicht? Wer nun ist dieses Wir?

Die wollen Andersdenkende (ökonomisch) vernichten, wir sind die Anders-, Selbst- und Zu-Ende-Denkenden. Wir waren Einzelne, und als sie uns angriffen, halfen sie uns dabei ein Stück weit, uns eines neuen Wir bewusst zu werden. Sie hassen uns, doch ihr Hass hilft uns, unser Uns zu definieren, ein- und abzugrenzen.

Angegriffen zu werden ist mir längst nicht genug, um ein neues Wir zu definieren. Da muss mehr sein, und da ist auch mehr.

Ich habe letztens ein Gespräch mitbekommen – und Sie haben mein Wort, dass ich nicht übertreibe – das erst mit Argumenten begann. Dann, als der einen, »linken« Partei die Argumente ausgingen, begann diese, über ihre »Intuition« zu sprechen, sie wisse dieses oder jenes eben »intuitiv«, und überhaupt, und dann verließ sie das Zimmer. – Mir wurde klar, dass dieser Mensch nicht von meinem neuen »Wir« eingeschlossen ist – noch nicht.

Mein Wir schließt die Menschen ein, die zu Ende denken, auch wenn sie sich damit mittelbar in Gefahr begeben. Mein neues Wir schließt die aus, die Emotion für Argumentation halten. Mein Wir schließt die Menschen ein, die eine Wahrheit aussprechen, auch wenn sie schrecklich ist (etwa: das alte Europa ist realistischerweise vorbei) – und mein Wir schließt die aus, die den Akt des Wahrheit-Aussprechens als »Hatespeech« umlabeln und verbieten wollen.

Ja, Wir sind im Kampf der Worte und Argumente gegen die. Deren Häuptlinge wollen unsere Existenz vernichten und unsere Stimmen zum Verstummen bringen, doch dieser praktische Hass ist asymmetrisch. Ich will »die« nicht vernichten, sie sind nicht meine »Feinde«, selbst wenn sie mich hassen. Ich will die höchstens etwas aus der Deutungsmacht zurückdrängen. Ich will die, einen nach dem anderen, zu uns machen: Ja, ich denke die Welt wäre ein deutlich besserer Ort, wenn Menschen mehr Mut zum Zu-Ende-Denken und zum Sagen-was-ist hätten, wenn Menschen reflektieren würden, wie sie zu ihren ethischen Urteilen kommen; in genau dieser einen Hinsicht dürfen sie mich gern »missionarisch« nennen.

Ja, Nein, Traditionshase

Ich begann diese unsere Gedanken mit einer Passage aus dem Zweiten Buch Mose, das nach eben dieser Begebenheit insgesamt »Exodus« genannt wird.

Ich möchte diesen kurzen Text schließen mit einem Ausspruch Jesu, der zugleich uns als Leitspruch dienen könnte:

Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.
– Matthäus 5:37

In diesem Sinne wünsche ich allen jüdischen Freunden ein segensreiches Pessachfest, allen christlichen Freunden ein besinnliches Osterfest, allen Atheisten ein fröhliches Knabbern am schokoladigen Traditionshasen! Den Mut aber, den Verstand täglich neu zu gebrauchen, den wünsche ich uns und denen und überhaupt allen, zu Ostern und im Rest des Jahres.

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Arbeit (inzwischen 2,034 Essays) ist nur mit Ihrer Unterstützung möglich.

Wählen Sie bitte selbst:

Jahresbeitrag(entspr. 1€ pro Woche) 52€

Augen zu … und auf!

Auf /liste/ finden Sie alle Essays, oder lesen Sie einen zufälligen Essay:

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Wegner als Buch

alle Bücher /buecher/ →

Was ich meine, wenn ich „wir“ sage

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)