Dushan-Wegner

12.10.2020

Wie viel Lockdown ertragen wir?

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Timothy Meinberg
Die Menschen leiden auch seelisch unter dem Lockdown. Natürlich müssen die Maßnahmen hinterfragt werden (besonders wenn Politiker sich selbst nicht dran halten). Doch es zeigt auch: Wir haben verlernt, die Stille zu ertragen.
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Manche von uns können nicht richtig Fahrrad fahren. Wessen Körper es aber hergibt, der erlernt schon als kleines Kind die Kunst, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wir nennen diese Kunst das Gehen.

»Mother says I was a dancer before I could walk«, so singen ABBA in Thank You for the Music (es ist auf YouTube), »she says I began to sing long before I could talk.« – zu Deutsch: »Mutter sagt, ich war eine Tänzerin, bevor ich gehen konnte; sie sagt ich begann zu singen, lange bevor ich sprechen konnte.«

An die Fahrradfahrer unter uns: Stellen Sie sich vor, Sie hätten zuerst das Fahrradfahren gelernt – und was Sie je überhaupt an Gehen lernten, das wäre fast gänzlich verkümmert!

Und nun stellen Sie sich bitte noch vor, eine böse Seuche hätte die Welt befallen, welche sich durchs Fahrradfahren übertrüge. Über Nacht wird das Fahrradfahren verboten – und die Drahteselbändiger sind ratlos! In den Straßen sieht man trockene Fahrradfahrer, unsicher wieder auf ihren eigenen Füßen wankend.

Mancher Fahrradfahrer bewegte sich seit Jahrzehnten nicht mehr zweibeinig voran. Unfreiwillig holen sie sich blutige Knie und Nasen.

Das Fahrradfahrverbot wirkt: Das Virus verbreitet sich nicht so schnell aus wie befürchtet (mancher sagt, das Virus sei ohnehin gar nicht so gefährlich gewesen, und die Politik sei nur gern drauf aufgesprungen, weil die Freiheit des Fahrradfahrens den Mächtigen und ihren Sponsoren ohnehin ein Dorn im Auge gewesen war).

Mancher ehemalige Fahrradfahrer aber, verunfallt beim Gehen, mit frisch operiertem Knie und Handgelenk in der Plastikschiene, fragt sich, ob die gesundheitlichen Folgen des Fahrradverbotes nicht weit übler sind als jene, welche das Virus realistisch gehabt hätte. Noch Jahre später werden Menschen humpeln, weil sie sich beim ungewohnten Gehen auf zwei Beinen eben diese brachen!

Nur den Begleitapparat

Man müsste schon unter dem sprichwörtlich-metaphorischen Feldstein gelebt haben (und niemals etwa via »Freie Denker« hinausgelugt haben), um nicht mitbekommen zu haben, dass unsere mythischen Lieblingsmächtigen das chinesische Virus zum Anlass nehmen, die Weltwirtschaft umzubauen, Stichwort: »Great Reset«.

Für die wirtschaftlichen Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen bieten sich nur noch Begriffe an, die sich bereits durch alle vorherigen Zerstörungshandlungen der deutschen Regierung abgenutzt haben, etwa »verheerend«, »irreparabel«, »längst nicht abzusehen«. (Ein kalter Zyniker könnte kalauern: »Wo der Spahn hobelt, da fallen die Wirte in die Pleite!«)

Doch, Geld ist eben doch ein Gedrucktes, ein Mittel zum Zweck, und der erste edle Zweck des Geldes wie des Wohlstands sollte es sein, das Glück der Menschen zu fördern. Mit dem Glück der Menschen in der Quarantäne ist es allerdings auch nicht gut bestellt – gar nicht gut.

Eine vom AXA-Konzern in Auftrag gegebene Studie hat untersucht, wie es um das mentale Wohl der Deutschen in der durch die Corona-Abwehrmaßnahmen verursachten Krise bestellt ist. Das Ergebnis ist: Es sieht nicht gut aus.

Aus den Schlussfolgerungen der Untersuchung (Quelle: axa.de, 6.10.2020):

  • »Psychische Belastungen nehmen in der Krise messbar zu.«
  • »Verantwortung für andere Personen führt zu größerem Optimismus und Resilienz.«
  • »Introvertierte Personen sind krisenfester als Extrovertierte.«

Jene Untersuchung ist aus der Perspektive moderner medizinischer Ansätze zur psychischen Gesundheit angelegt und geschrieben. Wer solche innere Schlachten kämpft, sollte sich an professionelle Hilfe wenden, kein Zweifel. Als Essayist schreibe ich mehr die Fußnoten zur Realität, nur den Begleitapparat, aber den immerhin doch. Die Realität ist die Realität, absolut und gesetzt, und wir Essayisten wären gern wie jene Gelehrten, welche die Kommentare in den Seitenspalten des Talmud schrieben. Doch, wenn ich nicht zu den Fragen des Glückes schriebe, wozu sollte ich denn dann schreiben?

Es scheint (und ich kenne niemanden, der es bestreiten wollte): Die Krise verschärfte nicht nur wirtschaftliche Schieflagen, sie verschärfte Unwuchten in Seelenleben und Lebensaufstellungen.

Die Reichen wurden in der Krise reicher, die Armen wurden ärmer – und mehr! Ich bezweifele, dass irgendwer in der Krise glücklicher wurde (außer vielleicht irgendwer, der im dringenden Mahnen seinen Lebenssinn gefunden haben sollte – oder der schlicht einen Reibach machte), doch mancher der ein klein wenig unglücklich war, wurde wohl mess- und spürbar unglücklicher.

Im stillen Raum

Wessen »innere Ordnung« darauf angewiesen war, sich immerzu soziale Bestätigung abzuholen (sprich: Schulterklopfen in Clubs und Cafés), die sogenannten »Extrovertierten«, die litten und leiden unter den Beschränkungen natürlich weit mehr als jene, welche sich ihre eigene »innere Ordnung« schaffen. (Konsequenterweise sind »linke« Städte wie Berlin auch Virus-Hotspots, denn »Linkssein« geht mit innerer Unordnung und ständiger Suche nach externer Bestätigung einher, weshalb die »Extrovertierten« lieber am Virus sterben werden, als sich die Partys verbieten und damit die externe Bestätigung nehmen zu lassen.)

Wir haben nicht gelernt, praktisch wie metaphorisch, im stillen Raum zu sitzen. Der Lockdown »macht uns fertig«. (Schnippisch gefragt: »fertig« wofür?!)

Bei der Stadtverwaltung

Die allermeisten Radfahrer müssen, um nicht vom Fahrrad zu fallen, immerzu in Bewegung bleiben. Einer aber, dessen Fahrradfahrt jäh unterbrochen wird, der sollte zu gehen in der Lage sein, um nicht in ganz andere Probleme zu geraten.

Wir sind in der Krise wie Radfahrer, denen das Fahrrad genommen wird, und die plötzlich feststellen, dass sie gar nicht mehr auf eigenen Beinen gehen können!

Wenn ich dazu rate, dass wir uns auf längere und immer wieder zurückkehrende, wenn nicht sogar ewige Grade und Variationen von »Lockdown« einstellen, dann schimpfen Leute gelegentlich mit mir, als ob ich es wäre, der das so beschlossen hätte.

Wenn ich dich darauf hinweise, dass du ab der nächsten Straßenecke vom Fahrrad absteigen und zu Fuß gehen musst, dann bin ich doch nicht Schuld daran (außer vielleicht, wenn ich bei der Stadtverwaltung arbeite, doch selbst die Stadtverwaltung weiß nicht von vornherein über jeden Kanal Bescheid, den etwa ein verrückter Herr Blaumilch durch die Stadt gräbt).

Traktate erbauender Natur

Schlagt nicht den Boten, wenn ihr die Nachricht meint! Weil sie die Boten schlechter Nachricht köpften, wurde aus der hellen Antike das finstre Mittelalter, wo sie dann jene verbrannten, welche ihnen eine gute Nachricht brachten.

»Die Stille ist ein Zaun um die Weisheit«, lehrt Akiba ben Joseph in den Pirkei Avot. Dass uns so schmerzhaft die Weisheit fehlt, und dass wir die Stille nur mit Schmerzen ertragen – es sind Kinder ein und derselben Mutter.

Wir lernen heute neu zu gehen. Das Gehen steht hier als Metapher für eine Tätigkeit, die (etwa vom Umherwandern der Peripathetiker abgesehen) spätestens seit der weiten Verbreitung schriftlicher Traktate erbauender Natur traditionell nicht selten im Sitzen ausgeübt wird: Das geordnete Denken und die ernsthafte Suche nach Weisheit.

Das Ordnen des Eigenen, die Pflege der Gedanken, das schöpferische Ertragen der Stille.

Weiterschreiben, Wegner!

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