28.11.2018

Faktische Realität vs. angenommene Realität – am Beispiel des Kopftuchs

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Chris Sabor
5159€ Entschädigung für Muslimin, die sich wegen Kopftuch diskriminiert fühlt. Es ist ein Beispiel für das »Zwei-Realitäten-Konstrukt«: in FAKTISCHER Realität bedeutet ein Kopftuch das eine, in ANGENOMMENER Realität der Richter wohl etwas anderes.
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Die Zwei-Reiche-Lehre des Protestantismus unterscheidet zwischen dem Reich Gottes und der Welt. Die Zwei-Welten-Lehre Platons unterscheidet zwischen den Ideen und den Gegenständen. Der Buchtitel »A Tale of Two Cities« (Charles Dickens) zeichnet einen weiteren Dualismus nach: es geht um eine Stadt, doch darin zwei Gruppen von Menschen.

Das Zwei-Realitäten-Konstrukt der Berliner Eliten unterscheidet zwischen der Realität-wie-sie-ist (»rechtspopulistisch«) und der Realität-wie-sie-sein-sollte (»linksprogressiv«) – die faktische Realität vs. die angenommene Realität.

Im eigenen Leben treffen Berliner Eliten die Entscheidungen oft gemäß der faktischen Realität (Kinder auf Privatschulen, Kontakt in die Schweiz oder nach USA für »die Karriere danach«, etc.), im öffentlichen Leben als Redaktionschef oder Politiker treffen sie aber Entscheidungen nach der angenommenen Realität.

Auch die Realität, die Bürger auf der Straße, in den Schulen und an anderen Orten der Begegnung erleben, ist von der faktischen Art, doch die Realität, über die sie reden sollen (wenn sie nicht Ärger bekommen wollen), ist von der angenommenen Art.

Im Bezug auf die islamische Tradition, Frauen sich verschleiern oder ihre Haare bedecken zu lassen, können wir im Westen das Zwei-Realitäten-Konstrukt erleben. Es gibt einmal die faktische Realität des Kopftuchs (gegen welche etwa Frauen im Iran protestieren), und dann gibt es die angenommene Realität (wenn etwa Clickbait-Magazine den Hijab als »feministisch« feiern).

Bäuerliche Arbeitsumgebung

Es gibt verschiedene Gründe, warum eine Frau eine Kopfbedeckung oder ein Kopftuch tragen könnte.

Das Kopftuch einer christlichen Nonne etwa wird allgemein verstanden als Zeichen ihrer Hingabe an Gott, und als Zeichen, dass sie Jesus dienen will, den sie gemäß Bibel in jedem Menschen sieht, dem sie begegnet, aber nicht als Zeichen der Ablehnung aller übrigen Menschen. Ich habe noch von keinem Christen gehört, auch nicht von einer Nonne, die sagte, dass man die Kopfbedeckung einer Nonne tragen müsste, um vollwertige Christin zu sein.

Ältere Damen in Europa trugen früher Kopftücher – und tun es im ländlichen Bereich bis heute – und der Grund war mehr eine Mischung aus Modetradition, der bäuerlichen Arbeitsumgebung und der schlichten Tatsache, dass dünne, weiße Haare schwerer in vorzeigbare Tagesform zu bringen sind als die Wallemähne einer Zwanzigjährigen. Ich habe noch nie von einer Bewegung gehört, die sagte, dass Frauen, die nicht ein Kopftuch nach Art einer Frau vom Land trugen, weniger »wert« – oder gar »Schlampen« seien.

Auch manche muslimische Frauen tragen eine Form von Kopfbedeckung, doch wird diese allgemein als mit einer anderen Bedeutung aufgeladen verstanden, etwa: »ich bin gläubig – tue also Allahs Willen – und du nicht«, oder, um es mit der nah am Antisemitismus gebauten Linda Sarsour zu sagen, einem Darling der Linken (siehe z.B. nytimes.com, 7.8.2015), der Israel- und der Trumphasser und des »Womans’s March«: »When I wasn’t wearing a hijab I was just some ordinary white girl from New York City. Wearing hijab made you know that I was Muslim« »als ich keinen Hijab trug, war ich nur ein weiteres weißes Mädchen aus New York City. Einen Hijab zu tragen, ließ die Leute wissen, dass ich Muslim bin«– siehe Hijab-Infomercial von Vox auf YouTube.

Nur Lügner und Linke werden bestreiten, dass innerhalb der muslimischen Community weltweit ein gewisser Druck auf Frauen ausgeübt wird, mindestens den Hijab zu tragen. In Ländern wie Iran werden Frauen ohne Kopftuch sogar von der Religionspolizei aufgegabelt, in Ländern wie Deutschland kommt der Druck aus der Community selbst – ich selbst habe gehört, wie Frauen ohne Kopftuch beiläufig eben dafür als »Schlampe« beschimpft wurden.

Reisenden in muslimische Länder – und muslimische Stadtteile Deutschlands – wird geraten, das Kopftuch anzulegen, da die lokale Männlichkeit sie sonst als »Freiwild« und »Stück Fleisch« betrachten könnte – auch da sitzt das Etikett »freiwillig« eher lose.

Zwei Realitäten

In der deutschen öffentlichen Debatte um das muslimische Kopftuch können wir das Zwei-Realitäten-Konstrukt der Berliner Eliten sehr deutlich nachzeichnen.

Die faktische Realität würde annehmen, dass das Kopftuch ein Zeichen der Unterdrückung der Frau ist (dass einzelne Frauen erklären, es freiwillig zu tun, widerspricht dieser Aussage nicht) und dass es eine desintegrierende Abtrennung von allen Frauen, die es nicht tragen, ist – und sein will.

Die angenommene Realität der Linken und Lügner würde annehmen, dass das Kopftuch ausschließlich in die Debatte persönlicher Religionsfreiheit fällt, (und/oder) dass es de facto nur ein Mode-Accessoir ist und grundsätzlich als Zeichen weiblicher Emanzipation betrachtet werden kann.

Wenn meine Beschreibung der zwei Realitäten stimmt, dann könnte man sagen, dass selten die faktische und die angenommene Realität so weit auseinander fallen wie bei der Debatte ums muslimische Kopftuch.

Neues Kopftuch-Urteil

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat dieser Tage geurteilt, dass der Berliner Senat eine muslimische Bewerberin entschädigen soll, die sich geweigert hatte, für den Unterricht etwa an Grundschulen den Hijab abzulegen (bild.de, 27.11.2018).

Das Berliner Neutralitätsgesetz fordert zwar genau das, nämlich die religiöse Neutralität öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, doch das stört die Richter wohl wenig – es ist nicht das erste Urteil dieser Art.

Wir erleben in solchen Urteilen das Aufeinandertreffen von faktischer und angenommener Realität. Von der gebotenen Neutralität einmal abgesehen – es krümelt doch auch so schon längst – ließe sich das pädagogische Ergebnis diskutieren, wenn eine Lehrerin vor der Klasse steht, die via Kleidung deutlich macht, dass sie die Welt in Gläubige und Ungläubige (»Kuffar«) aufteilt – und spätestens wenn Schülerinnen ebenfalls in Hijab ankommen und dann die eventuell in der Minderheit befindlichen Nicht-Muslime abwertend behandeln, dann wird deutlich, wie frech die Aussagen von Leuten wie Peinlichminister Maas sind, wenn sie sagen oder implizieren, eine Islamisierung fände nicht statt (siehe z.B. spiegel.de, 4.6.2015).

Die Debatte klären

Eine in der Praxis des Geistes zu oft zu wenig geprüfte Eigenschaft von Theorien ist ihre Nützlichkeit, ihre Anwendbarkeit, ihre Bewährung im Kampf um die Linderung des Leides – und mangelnde Genauigkeit unseres Denkens ist ein Leiden auch dann, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind – vielleicht gerade dann.

Aus der so simplen wie praktischen Theorie vom Zwei-Realitäten-Konstrukt lässt sich (mindestens) eine praktische Regel für die tägliche Debatte ableiten: Bevor man über ein politisches Thema diskutiert, sollten beide Seiten sich bewusst machen und explizit erklären, von welcher Realität geredet wird: von der faktischen Realität oder von der angenommenen Realität?

Ontologischer Status

Während Dickens‘ Zwei Städte beide real sind, haben die Zwei Welten des Platon und die Zwei Reiche der Lutheraner das, was Philosophen unterschiedlichen ontologischen Status nennen: drei Äpfel existieren auf eine andere Art als die Zahl Drei als abstrakte Idee existiert.

Man könnte fragen, wie es jeweils um den ontologischen Status innerhalb unseres Zwei-Realitäten-Konstrukts steht, doch dass wir die eine Realität faktisch nennen und die andere angenommen, nimmt ontologische Eigenschaften vorweg; es ist aber nicht trivial, nicht nur theoretisch!

Die großen deutschen und europäisch-amerikanischen Krisen der letzten Jahre, inklusive der fortwährenden und weiter wachsenden Migrationskrise, wurden verursacht oder zumindest befeuert durch eine Verwechslung der ontologischen Status von faktischer und angenommener Realität.

In der angenommenen Realität linksgrüner Kreise tragen Diesel-Autos, weiße Männer, bewährte Energiequellen und Islamkritiker die Schuld an allem Übel der Welt – in der faktischen Welt sind es weiße Männer, welche ihr Leben für den Frieden opfern, und Diesel-Autos, welche die weißen Männer zur Arbeit und das Essen in den Supermarkt bringen.

Wenn Politiker in der faktischen Realität mit Erkenntnissen aus der angenommenen Realität handeln, das ist wie wenn man mit einer Landkarte Russlands durch die USA navigieren wollte – es wird im Meer enden, in Kanada oder in Mexiko, nur garantiert nicht in Moskau.

Die praktische Nützlichkeit (hier: vor Debatten stets prüfen, um welche Realität es geht) ist die eine Art, eine Theorie stark zu machen; eine weitere ist, zu prüfen, ob sie aktuelle Phänomene erklärt. Also…

Haben Sie auch den Eindruck, dass die Berliner Elite durch die Geschichte navigiert mit der völlig falschen Landkarte? Nun, jetzt wissen Sie, warum!

Weiterschreiben, Dushan!

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