Dushan-Wegner

01.02.2018

Politische Korrektheit als Machtmittel – eine praktische Anleitung

von Dushan Wegner, Lesezeit 14 Minuten, Bild: Gustave Caillebotte (1876)
Möchten Sie sich, als Abkürzung zur Deutungsmacht quasi, der Politischen Korrektheit bedienen? Hier erkläre ich Ihnen ausführlich (und auch ernstgemeint lesbar), wie es geht und worauf Sie achten müssen.
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Die Schere zwischen Kompetenz in der Sache und zugestandener Deutungsmacht öffnet sich bei gewissen Journalisten und Politikern in besorgniserregendem Winkel. Journalisten, die selbst unter Folter eine Meinung nicht von einem Bericht unterscheiden könnten. Politiker, die genau Bescheid wissen, wie Strom im Stromnetz gespeichert wird. Wie erlangen solche Leute solche Debattenmacht? Ich halte es für wichtig, ihre Tricks zu verstehen. Dieser Text ist eine fürs Web überarbeitete Version des Kapitels »Effekt: Politische Korrektheit« meines Buches von 2015, Talking Points. Sich über die Psychotricks von Moralisten und Journalisten aufzuregen ist nur der erste (wenn auch wichtige) Schritt. Ich halte es für wichtig, die innere Mechanik ihres nicht immer sauberen Kampfes um Deutungshoheit zu verstehen und so – hoffentlich – auch widerlegen zu können.

Jeder Mensch, jede Familie und jede Gesellschaft haben ihre Tabus. Das Tabu ist ein Unaussprechbares, das zu berühren den Unbefugten unrein macht – wenn nicht eine höhere Autorität ihn zum Berühren des Tabus beauftragt hat. Wer die Tabus kontrolliert, kontrolliert das Denken der Gesellschaft. Es gibt nicht nur negative, sondern immer wieder auch positive Tabus. Ein positives Tabu ist die Pflicht, von einem Wunschzustand sprechen zu müssen, als ob er schon Realität wäre. Diesen moralischen Zwang, bestimmte Sachverhalte zu behaupten, während man andere nachdrücklich ignoriert, nennen wir »politische Korrektheit«.

Beispiel

Karl Skorecki fiel etwas auf. Karl Skorecki war nämlich ein Kohen, ein Mann vom Stamm des israelischen Priesterstammes, der Kohanim. Im jüdischen Ritus wird bei jedem Gottesdienst eine Passage aus der Tora, den Christen bekannt als die Fünf Bücher Mose, gelesen. Diese Lesung heißt im Hebräischen »Aliyah«, wörtlich: »Aufstieg«. (Ein anderer Gebrauch des Wortes Aliyah ist für die Emigration von Juden aus Europa und anderen Teilen der Welt nach Israel, aber das ist ein anderes Thema.)

Bei der Lesung der Tora im jüdischen Gottesdienst, gilt die Ehre der ersten Lesung einem Kohen. (Die zweite Lesung darf ein Levi leisten, also ein Jude aus dem Stamm der Leviten, deren Unterstamm die Kohanim sind.) Wenn kein Kohen anwesend ist, macht oft ein Levi die erste Lesung, und nur wenn weder noch anwesend sind, macht ein in Tora-Sachen gebildetes Gemeindemitglied die erste Lesung.

Was Karl Skorecki auffiel: Der zur ersten Aliyah Aufgerufene war, logischerweise, ein Kohen genauso wie Skorecki selbst. Damit stammten sie beide von »Aaron HaCohen« ab, dem ersten Hohepriester und Bruder des biblischen Moses. – Der zur Aliyah aufgerufene Kohen und Skorecki selbst sahen aber optisch recht verschieden aus! Der eine hatte nordafrikanische, dunkle Haut, der andere war eher osteuropäisch bleich, auch die Haare und die Augenfarbe waren ganz verschieden – und doch hatte kein Rabbi einen Zweifel, dass sie beide Kohanim waren.

Karl Skorecki ist von Haus Professor für Nephrologie (Nierenkunde) an der Universität Haifa und hat Zugang zu diversen DNA-Forschungseinrichtungen. Er setzte an, zu untersuchen, ob es eine wissenschaftlich belegbare Gemeinsamkeit aller Kohanim gebe.

Während das Jude-sein religiös über die Mutter vererbt wird (außer bei Konvertiten, klar), wird das Kohen-sein über den Vater vererbt. Demnach, schloss Skorecki, müsste es einen genetischen Marker geben, den alle Kohanim gemeinsam haben.

Skorecki ging seine Frage wissenschaftlich an. Er ließ Mundschleimhautabstriche von Kohanim aus verschiedenen Weltregionen erstellen, wertete die enthaltene DNA aus und stellte fest, dass Kohanim überdurchschnittlich häufig das »Cohen Modal Haplotype« aufwiesen, einen Satz von Y-Chromosom-Markern. Die jüdische Presse war begeistert, die nicht-jüdische Presse war mehr als vorsichtig, und einzelne Firmen boten bald entsprechende DNA-Tests für jedermann an.

Außerhalb der jüdischen Welt fanden diese Meldungen nur wenig Echo. Erstens ist es nun einmal ein für Nichtjuden nur beschränkt interessantes Thema. Zweitens (und vor allem) ist es keine gute Idee, über Genetik und Judentum in irgendeinem Zusammenhang zu reden, besonders in Deutschland und schon gar nicht als Deutscher. – Um das Thema ist ein »moralischer Schutzzaun« gezogen, aus sehr gutem Grund!

Als sein Bestseller »Deutschland schafft sich ab« erscheinen sollte, gab der damalige Noch-Bundesbanker Thilo Sarrazin einige Interviews, in denen er einige disparate Faktoide nebeneinander stellte. Einerseits stellte Sarrazin (neu) fest, dass Intelligenz auch ein Stück weit vererbbar ist. Dann stellte er in den Raum, dass Menschen jüdischer Abstammung genetische Merkmale teilen. Und stellte das wieder neben die These, dass jüdische Einwanderer aus Russland gebildeter und erfolgreicher seien als Einwanderer aus muslimischen Ländern. – Um einen späteren Thilo Sarrazin zu zitieren: »ein Riesenunfug«.

Man mag debattieren, ob das Tabu um diese Thematik existiert, um die Gefühle deutscher Juden zu schützen, oder es die Deutschen bewahren soll, ihrer eigenen Geschichte und Taten erinnert zu werden. Doch dass ein Tabu existiert, das Genetik und Judentum gemeinsam zu erwähnen verbietet, daran besteht spätestens seit der »Episode Sarrazin« wenig Zweifel.

Das »Cohen-Gen« hat in der außerreligiösen Praxis keine praktische Bedeutung. Während es zuerst einmal eine nachzählbare Tatsache ist, dass die Patentanmeldungsquote israelischer Firmen über dem internationalen Durchschnitt liegt, so wird auch kein Jude das auf irgendwelche genetischen Faktoren zurückführen, sondern eher vielleicht auf eine seit Tausenden von Jahren fortwährende Kultur des Lernens, oder ganz andere externe Faktoren. – Anmerkung: Ein Schüler, wie er in Deutschland als »Streber« oder zunehmend auch in den USA als »Nerd« verspottet wird, wird in der Yeshiwah, der jüdischen Religions- und Lebensschule, als potentieller Gelehrter respektiert und gewürdigt.

Das Sarrazin-Phänomen lässt sich auf zwei Verstöße gegen die Politische Korrektheit zurückführen:

  1. Sarrazin erwähnte in seinem Buch das Wort »Gene« – außerhalb eines Biologie-Seminars immer problematisch.
  2. Sarrazin bringt in Interviews ohne Not »Gene« und »Juden« zusammen. (Und es half nicht, dass er die Skorecki-Story in den falschen Hals bekam und behauptete, alle Juden würden ein gemeinsames Gen teilen. Nein, nur die Kohanim, und davon auch nur überdurchschnittlich viele, aber nicht alle.)

Die Masse wütete, ganz besonders natürlich jene Masse, welche damals im französischen Parlament links des Sprechers gesessen hätte, weiter weg von den Aristokraten, welche man schon damals ähnlich sah wie der heute nach ihnen benannte üble Witz.

Das sah dann so aus: Mely Kiyak war die Wütendste der Wütenden, sie nannte den (infolge einer Tumor-OP im Gesicht etwas asymmetrischen Sarrazin) in der »Frankfurter Rundschau« eine »lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur«. – Und ihre Kollegen reagierten, aber eben nicht ablehnend: »34 namhafte Vertreter aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Medien« »mobilisierte[n] sogar die Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir und Mehmet Kilic, mitinitiiert von der designierten Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters Shermin Langhoff.«

Sie alle stellten sich wie eine schützende Wand um die Journalistin Kiyak – um sie gegen die Kritik angeblicher Menschenrechtler in Schutz zu nehmen, die hinter dem Menschenhass einfach nur Menschenhass sahen. – Kiyak war im politisch korrekten Recht: Wer die eine politisch korrekte Wahrheit hinterfragt, könnte man meinen, hat für jene, die sich im Recht wähnen, vorübergehend die menschliche Würde nach Artikel Eins des Grundgesetzes verspielt. – Und während Herr Sarrazin heute nur noch selten eine Kolumne publiziert, äußert sich Frau Kiyak alle paar Tage in der Zeit-Online-Kolumne Deutschstunde.

Die damalige Genereralsekretärin der SPD, Andrea Nahles, bewertet: »Sarrazins genetische Definition der Juden ist inakzeptabel.« (Tagesschau 29.08.2010) – Im ARD Sommerinterview (gedreht an ihrem Geburtstag) legte Merkel fest: »Die Äußerungen sind vollkommen inakzeptabel von Herrn Sarrazin. Sie sind auch ausgrenzend in einer Art und Weise, sie machen ganze Gruppen in der Gesellschaft verächtlich – und, was, für mich das schlimmste, ist, vermeintlich beschäftigt sich Herr Sarrazin mit dem Thema aber er erschwert die Auseinandersetzung mit diesem Thema.«

Die mächtigste Frau der Welt beließ es nicht bei einer der schärfsten Kritiken, die es im deutschen politischen Betrieb so gibt (»nicht hilfreich«), sie setzte fort: »Die Bundesbank ist unabhängig – und insofern kann ich nur sagen, dass ich mir ganz sicher bin, dass man auch in der Bundesbank darüber sprechen wird, dass es da ja nicht nur um Geld- und Finanzprobleme geht, sondern dass die Bank für uns alle, für unser ganzes Land ein Aushängeschild ist, nach innen wichtig aber auch nach außen wichtig, und ich denke, dass man das in der Bundesbank auch diskutieren wird.« Zehn Tage nach Ausstrahlung dieses Interviews willigte Sarrazin ein, um Entlassung zu bitten. Regierungssprecher Steffen Seibert schob dem Gegangenen hinterher, es sei gut, »dass es diese einvernehmliche Regelung jetzt gibt«, da nun die Bundesbank in Ruhe weiterarbeiten könne. (Er sagte nicht, wer der Bank denn »Unruhe« bereitet hatte.)

In der zweiten Auflage seines Bestsellers »Deutschland schafft sich ab« strich Sarrazin seine strittigen Passagen heraus. Er widerrief öffentlich alle Genetik-Aussagen. Doch es half ihm nicht. Sarrazins Malus als Ausgestoßener aus der politisch korrekten Klasse hatten ihm Politik und JournalistInnen wohl für alle Zeiten eingebrannt.

So funktioniert es

Einige der ursprünglichen Anliegen der »Politischen Korrektheit« sind unbestreitbar edel!

Worte »entfalten« sich in unserem Kopf immer zu komplexen Bildern. Wenn wir das Wort »Tisch« hören, denken wir nicht nur an ein Trägermöbel, also eine Funktion, sondern auch an eine Holzplatte mit vier Beinen.

Dieses »Auch-Gedachte« ist eines der Probleme, die politische Korrektheit lösen möchte. Es gibt Wörter, bei denen das Auch-Gedachte (die Konnotation) sehr verletzend ist. Das bekannteste dieser Worte ist jenes, welches man auch im Deutschen inzwischen mit »N-Wort« umschreibt, »Neger«.

Das Problem des Wortes »Neger« ist, dass es sich unter anderem in vielen Kinderbüchern wirklich nur auf Menschen mit schwarzer Hautfarbe bezieht (wobei etwa bei Mark Twain der edle, treue, kluge Jim als bewusster Kontrast zum damals vorherrschenden Bild des Schwarzen geschrieben wird, während Astrid Lindgren schwarze Südseebewohner eher von oben herab, verkindlichend beschreibt) – zugleich aber wird es in Hetzschriften verwandt, die in ähnlicher Zeit erschienen sind wie eben diese Kinderbücher. Das »N-Wort« enthält ein eindeutig negatives Auch-Gedachtes: »Neger« bezeichnet vielfach nicht nur einen bestimmten Melanin-Status, sondern auch eine Herabwürdigung der gesamten Menschengruppe samt ihrer einzelnen Mitglieder. Der politisch korrekte Mensch sagt nun: »Ich möchte nicht, dass dieses Wort überhaupt verwendet wird, auch nicht in vermeintlich neutralem Kontext.«

So will die politische Korrektheit zwei Ziele erreichen: Erstens sollen seelische Verletzungen vermieden werden, etwa die eines schwarzen Menschen, der »Neger« hört – sei es von Ottfried Preußler oder Christine Nöstlinger oder sonst einem Unbedenklichen, oder in einem weniger harmlosen Kontext – und dabei etwa »Sklaverei« mitdenken muss.

Der zweite Zweck politischer Korrektheit ist die Einleitung einer Denkveränderung. Gemäß des Wittgensteinschen Spruchs, die Grenzen meiner Sprache seien die Grenzen meiner (Denk-)Welt, will man durch das Einziehen neuer Grenzen in die Sprache zu einer Veränderung der Denkweise gelangen. Wenn Menschen nicht mehr jenes Wort verwenden, das eben auch »Sklave« konnotiert, dann werden auch die letzten Nachzügler, so die Hoffnung, bald ihre schwarzen Mitmenschen nicht mehr »von oben herab« betrachten.

Hat sich die erwünschte Denkart einmal etabliert, so hofft man weiter, werden auch passende Handlungen folgen. Man hofft, dass der Buddha Recht hat, wenn er sagt: Das Handeln des Menschen folgt seinem Denken wie der Karren dem Ochsen folgt.

So weit, so gutgemeint.

Politische Korrektheit kann zur psychologischen Waffe werden. Waffen aber sind auch nur Werkzeuge, und politische Korrektheit ist eben ein Werkzeug öffentlicher Debatte. Werkzeuge sind immer erst einmal wertfrei. So wie eine Kalashnikov eingesetzt werden kann, um moralisch einwandfrei ein Volk von seinem durch nichts als Wahlen legitimierten Regime zu befreien oder um auf verwerfliche Weise ein friedliches, traditionelles Königshaus zu stürzen, so kann man politische Korrektheit zum Guten wie zum Bösen scharf schalten.

In der Kindergeschichte »Des Kaisers neue Kleider« hat sich ein Kaiser neue Kleider weben lassen, so meint er zumindest, doch in Wahrheit ist er nackt und niemand traut sich, es ihm zu sagen. Am 11.06.2015 debattierte der Deutsche Bundestag wieder einmal die Öffnung der Ehe auch für Menschen beider Geschlechter. In die Debatte um die rechtliche Gleichbehandlung von Hetero- und Homosexuellen hat die CDU einen Strafrechts-Anwalt geschickt. Der CDU-Mann sucht von der Bundestags-Kanzel aus nach einer Definition für »Ehe«. Er stellt es in den Raum, »dass die klassische Ehe von Mann und Frau, wenn auch nicht immer – leider –, in der Regel dazu führt, dass man sich fortpflanzt.« – implizit scheint er also allen Partnerschaften, die von vornherein gar nicht auf Fortpflanzung angelegt sind, den vollen Ehe-Status abzusprechen. Da ruft ein SPD-Staatsminister, der selbst in eingetragener Partnerschaft lebt, dazwischen: »Und was ist mit der Bundeskanzlerin?« – Empörung! Doch die Christdemokraten empören sich nicht über ihren eigenen Parteikollegen, der implizit den Ehe-Status der eigenen Chefin und aller kinderlosen Paare in Deutschland hinterfragt zu haben scheint, sie empören sich über den SPD-Mann, der seinen praktischen Lapsus aufzeigte. Die Medien betiteln den Skandal: »Staatsminister thematisiert Merkels Kinderlosigkeit« – die Thematisierung ist der Skandal. Wenn Leben und Lehre sich widersprechen, macht man es eben politisch unkorrekt, den Widerspruch aufzuzeigen. Noch am selben Abend bittet der SPD-Mann um Entschuldigung. Die CDU gewährt, die Sache »auf sich beruhen [zu] lassen«. Es gibt übrigens verschiedene Fassungen der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern – in einigen Versionen wird das Kind, das die Wahrheit ausspricht, dafür reich belohnt, in anderen ist es ein Rossknecht, der das Offensichtliche ausspricht, dann aber dafür übel bestraft und verjagt wird.

Politische Korrektheit ist natürlich nicht nur ein Schutz der Mächtigen vor der unangenehmen Wahrheit. Zuerst sollte politische Korrektheit immer ein Sprachschutzwall um gewisse Rechte der Schwachen sein. Doch während es ursprünglich ein Anliegen der Politischen Korrektheit war, Sprache einzuschränken um Betroffene vor verletzenden Konnotationen zu schützen, haben einige Polit-PR-Profis entdeckt, dass man auch »stellvertretend« verletzt sein kann und gar nicht selbst betroffen sein muss, um sich verletzt zu fühlen. – Während also, im Vergleich, das deutsche Strafrecht vorsieht, dass bei Beleidigungsdelikten der Beleidigte selbst anzeigt und selbst betroffen ist, ist die Rollenverteilung bei Verstößen gegen politische Korrektheit weit weniger klar. Im Gericht politischer Korrektheit sind Kläger und Richter identisch, der Anwalt mitverdächtig und das Opfer nicht selten von nur hypothetischer Seinsart.

Wer über den Hebel der emotionalen Vertretung in Abwesenheit einmal Zugriff und Macht über den Diskurs und die darin verankerten Handlungen errungen hat, der kann Diskurs und Handlungen zu seinem politischen und gelegentlich auch finanziellen Vorteil steuern.

Warnung

Drei Warnungen:

  1. Achten Sie beim Einsatz der Politischen Korrektheit darauf, nicht selbst als »politisch inkorrekt« gestempelt zu werden. Das können Sie etwa sicherstellen, indem Sie die Macht der bestehenden Deutungshoheit-Besitzer nicht angreifen, sondern höchstens »kritische Fußnoten« anfügen. Noch günstiger ist es etwa, wenn Sie sich der Sympathie der aktuellen Deutungsmacht sicher sind. Wenn nicht, müssen Sie höllisch aufpassen. – Als der Grüne Jörg Rupp den Wahlerfolg einer FDP-Politikerin auf ihre Sekundärmerkmale zurückführte, entzündete sich in den sozialen Medien ein Shitstorm, der erstaunlicherweise außerhalb der etablierten Presse blieb. Der Tagesspiegel beschrieb das so: »Er hatte dabei noch Glück, den Vertrauensbonus eines Grünen zu genießen, denn ein FDP-Mann, sagen wir: Rainer Brüderle, wäre für diese Äußerung gegenüber, sagen wir: Claudia Roth, ohne Umschweife geteert und gefedert worden. Bei Jörg Rupp scheint sich die mediale Öffentlichkeit darauf verständigt zu haben, das als Ausrutscher abzuheften – aber Ärger hatte er trotzdem reichlich.«
  2. Auch die schärfste Waffe wird stumpf, wenn man sie zu häufig benutzt. Zudem lernt der Gegner irgendwann, sie zu parieren. Stellen Sie sicher, dass der angegriffene moralische Misstand 1. auch ein solcher ist, und 2. immer wieder zumindest in einer Detaileigenschaft neu ist.
  3. Achten Sie darauf, dass Ihr Vorwurf nicht von der Realität überholt wird.
    Beispiel: Am 15.01.2015 erstattete der Bundestags-Abgeordnete Volker Beck (Grüne, 55 Jahre, Studium Kunstgeschichte ohne Abschluss) eine Anzeige gegen die Dresdner Polizei, wegen von ihm via Zeitungsberichten diagnostizierter Ermittlungsfehler. Aus seiner Anzeige: »Medienberichten habe ich entnommen, dass am Dienstagmorgen dieser Woche Kahlen Iris Bahrai […] tot aufgefunden wurde. Er starb infolge von Messerstichen. Obwohl die Leiche blutüberströmt gewesen sein soll, haben es die zuständigen Polizeibeamt*innen und ggf. die zuständigen Staatsanwält*innen offenbar nicht für erforderlich gehalten, den Tatort unverzüglich zu sichern.« – In der TAZ kommentierte die Leiterin des »Ressort Meinung«, Ines Kappert: »Diese Ignoranz ist kein Zufall, sondern Teil von Alltagsrassismus. Der Zwanzigjährige ist möglicherweise ermordet worden, weil er keine weiße Haut hatte.« – Einige Tage später wurde der Mitbewohner des Ermordeten verhaftet. Er gestand den Mord, nachdem die Polizei die Tatwaffe samt DNA fand. – Herr Beck hielt seine Anzeige aufrecht, der Ermittlungserfolg beweise gar nichts. Und doch hatte Becks Standing als moralische Autorität zumindest kurzfristig gelitten, und er stürzte sich in den Kölner Straßenkarneval.

Schlussgedanke

Politische Korrektheit ist eine Waffe, eine gefährliche Waffe. In einer Gesellschaft, in der alle Politiker die Macht der Medien fürchten, ist politische Korrektheit oft die Macht der Schwachen. Und die Schwachen gebrauchen sie, um stark zu sein. – Aber dass jemand schwach ist, macht seine Handlungen, wenn er unverhofft an Deutungsmacht gelangt, nicht gleich schon richtig und edel. Im Gegenteil: oft fehlt ihm schlicht der Einblick in die Komplexität des anstehenden Problems und so schlägt der Plötzlichstarke mehr wütend als weise um sich.

Politisch korrekte Redeweise bedeutet ja, dass wir kraft moralischen Drucks von einem Wunschzustand reden, als ob er schon Realität wäre, immer in der Hoffnung, dass die Sache dem Reden folgt.

Wenn die Sprechenden selbst gar nicht kausal am Problem beteiligt sind, dann dienen Sprachverbote vor allem dazu, das Problem vor sich selbst auszublenden, als es auf irgend eine Art zu lösen. Wenn Probleme nicht durch Sprachänderung zu regeln sind, wird aus der politischen Korrektheit ein gefährliches Theater.

Der Philosoph Slavoj Žižek kommentiert:

»Das ist mein Problem mit Politischer Korrektheit. Nein, es ist nur eine Form von Selbstdisziplin, welche nicht wirklich den Rassismus zu überkommen vermag. Es ist unterdrückter, kontrollierter Rassismus.«
Slavoj Žižek, bigthink.com

Es gibt Wunden, die heilen, wenn man sie nur verbindet und der Heilungskraft des Körpers überlässt. Und dann gibt es Wunden, die werden schlimmer und tödlich, wenn man sie bloß versteckt. Manchmal hilft das Sprachpflaster nicht, manche Wunden muss man öffnen und reinigen – und dann zunähen, was gerissen ist, auf dass es heilen möge.

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