Für die Herr-Wegner-fassen-Sie-sich-doch-mal-kurz-Fraktion unter Ihnen, liebe Leser, will ich diesen Essay mit seiner ultraknappen Zusammenfassung beginnen: Die Sowjets haben von Jesus gelernt, und die Russen machen das so weiter, und das könnte vielleicht auch für einige unserer Mächtigen ein Problemchen darstellen, und deshalb muss man die Russen zum Schweigen bringen, aber eigentlich fürchten sich unsere Guten und Gerechten vor sich selbst.
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Nicht »alles klar«? Kein Problem. Ich will es gern erklären, und ich fange nicht bei Adam und Eva an, sondern im Neuen Testament!
»Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet«, so sagt Jesus in Matthäus 7, und dann weiter: »Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! – und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.«
Falls Sie nicht ganz so bibelfest sind (warum genau eigentlich nicht?), aber schon mal vom Stichwort »Splitter vs. Balken im Auge« hörten, wissen Sie jetzt immerhin, woher dieses Sprachbild stammt.
Ein Mensch soll den anderen nicht richten, so sagt Jesus. Im Griechischen des Neuen Testaments steht dort »Μὴ κρίνετε ἵνα μὴ«, und »κρίνετε« hat dieselbe Wurzel wie die uns bekannte Kritik. Es kann das juristische Richten meinen, doch der Kontext legt nahe, dass hier das (aus der Religion motivierte) moralische Richten gemeint ist, unser Richten und Urteilen über die Moral des Nächsten.
Jesus fordert uns auf, das moralische Richten untereinander zu unterlassen – und seine Begründung ist, sinngemäß: »Du hast kein (moralisches) Recht, über einen Mitmenschen zu richten, denn die Chancen stehen gut, dass du etwas weit Übleres getan hast.«
Jesu Argumentation ließe sich als das Meta-Paradigma einer bestimmten verpönten Argumentationsweise deuten, und das Fachwort für diese ist »Whataboutism«.
Falls Sie als christlich geprägter Leser an dieser Stelle spontan an schlimmem Schluckauf leiden, bitte ich Sie höflich, die relevante Lexika selbst heranzuziehen und die Begriffsbeschreibungen zu prüfen!
Die deutsche Wikipedia (Stand 5.3.2022) beschreibt »Whataboutism« so: »Whataboutism (von englisch What about …? ›Was ist mit …?‹, und -ism ›-ismus‹) bezeichnet ein rhetorisches Ablenkungsmanöver, bei dem eine kritische Frage oder ein kritisches Argument mit einer kritischen Gegenfrage erwidert wird, um von einem unliebsamen Gesprächs- oder Diskursgegenstand (Thema) abzulenken.«
»Pfft, die Wikipedia«, höre ich jemanden sagen, »da kann doch jeder schreiben, was er will!« – Das stimmt so nicht (mehr) ganz, aber gut: »Whataboutism« findet sich als Fremdwort auch im Duden, und dort wird als Bedeutung angegeben: »Diskussionsstil, bei dem auf Argumente stets mit Gegenfragen oder einem Verweis auf andere Probleme und Themen reagiert wird«.
»Whataboutism« könnte sich mit leichter Gewaltanwendung gegenüber dem eigenen Sprachgefühl wohl als »Was-ist-mit-mus« ins Deutsche übertragen lassen, denn statt einem Vorwurf mit Begründungen und Verteidigung in der Sache zu begegnen, ihn also in sich zu entkräften, geht der Whataboutism direkt zum moralischen Gegenangriff über, und fragt: »Aber was ist mit…?«
Der Gegenangriff Matthäus 7:3-5 ließe sich also vielleicht so umformulieren: »Du sagst, dass ich einen Splitter im Auge habe? Aber was ist mit dem Balken in deinem Auge?
Strukturell ist der Whataboutism eine Variante des logisch-rhetorischen Fehlschlusses »tu quoque« (Lateinisch für »du auch«), wonach ein Vorwurf scheinbar »widerlegt« wird, indem man dem Vorwerfenden dasselbe vorwirft, wodurch es eine Variante des ad-hominem-Fehlschlusses ist, welches wiederum ein Argument durch einen Angriff auf die Person des Angreifers zu »widerlegen« versucht.
Ich selbst finde ja »ad hominem«, »tu quoque« und »Whataboutism« als Vorwurf immer problematisch, oft problematischer als die Sprachtat selbst. Es gibt einen guten Grund, warum sie funktionieren: Buchstäblich zigtausende Jahre menschlicher Geschichte haben uns gelehrt, dass wir als Hörer spontan nie alle möglichen Zusammenhänge einer Aussage sehen und bewerten können, und dass deshalb das Ansehen des Sprechers entscheidend wichtig ist! Der »Whataboutism«-Vorwurf kann missbraucht werden, wenn ein Lump die Hörerschaft zwingen möchte, ihm zuzuhören, obwohl er doch offenbar ein Lump ist.
Wir Connaisseure politischer Sprachkultur wissen zu berichten, dass der Whataboutism eine sowjetische Propaganda-Praxis des kalten Krieges ist, die bis heute fortgeführt wird. merriam-webster.com führt eine Erwähnung von 1978 als einzige Fundstelle tatsächlich aus sowjetischer Ära. Der Begriff wurde später populärer, immer wieder im Rückgriff auf den kalten Krieg. Die rhetorische Taktik des Whataboutism selbst ist ungebrochen nützlich und findet daher auch Anwendung, auch gern von den Politikern jenes Landes, das eben noch »unsere russischen Freunde« genannt wurde. russiamatters.org listet aktuelle Beispiele für konkrete Whataboutisms aus den letzten zwei Jahrzehnten.
Jemand wie ich, der die Bibel sehr schätzt, und doch zugleich der Versuchung einer klügermachenden Provokation gar nicht erst widerstehen will, fragt sich im Geist des fröhlichen Sarkasten: Warum sollte im politischen Dialog nicht gefordert werden dürfen, was die Bibel doch als Tugend preist, nämlich die eigenen Fehler zu bedenken, bevor man gegen das Gegenüber einen Vorwurf erhebt?
Ich grübele noch immer, warum genau die EU die russischen Staatskanäle im Internet und in TV-Netzen blocken lässt (siehe etwa reuters.com, 2.3.2022).
Es ist natürlich offensichtlich, warum Russland einen recht brutalen Info-Lockdown über seine Bürger verhangen hat. (Top10VPN.com hat ein Google Doc mit den aktuell in Russland geblockten Websites zusammengestellt.)
Wer in Russland sogenannte »Fake-News« verbreitet, also etwa den Krieg einen Krieg nennt, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft (de.euronews.com, 3.3.2022). Es könnte Putins Machtposition und Ansehen in der »einfachen russischen Masse« schwächen, wenn die Menschen das Leid zu sehen bekämen, das in ihrem Namen angerichtet wird.
Warum aber verbietet die EU nun die Verbreitung russischer Nachrichten? Oder, deutlicher formuliert: Warum wird man im Kampf gegen Putin selbst ein Stück weit wie Putin?
Die Begründung der EU spricht davon, dass die Inhalte von RT und Sputnik eine Waffe gegen die Ukraine darstellen – in der Ukraine sind sie aber, da die Ukraine nicht in der EU ist, nicht gesperrt (so man dort Internet hat). Außerdem seien sie ein Angriff auf die Innere Sicherheit der Europäischen Union (reuters.com, 2.3.2022). Leider hat die EU versäumt, ins Detail zu gehen, wie Internet-Videos die innere Sicherheit der EU beschädigen sollen.
Wer es als Nachrichtenjunkie wirklich will, der kann ja mindestens indirekt erfahren, was Russia Today inhaltlich zu sagen hat. Um den Computer-Libertären John Gilmore zu zitieren: »Das Netz interpretiert Zensur als Schaden und findet einen Weg drumherum.«
Vielleicht würde man feststellen, dass die Unterschiede zur westlichen Berichterstattung inhaltlich gar nicht so riesig groß sind. Vielleicht wird auf den englischsprachigen Websites des russischen Staatsfunks ja gar nicht geleugnet, dass Russlands Militär die Ukraine attackiert.
Man wird vermutlich »einordnen«, doch solche Einordnungen kann man auch gelegentlich in westlichen Medien lesen. Manche »Einordnungen« sind ja nur »rahmende« Verweise auf westliche Meldungen. Womöglich ist dieses »Rahmen« aber ein Teil jener »Propaganda«, welche EU und Co. eigentlich fürchten – diese Meldungen werden ja in russischem Licht »geframed«. (Zum Framing als Propaganda-Werkzeug siehe auch den Essay vom 18.2.2019: »ARD und das ›Framing Manual‹ – hilflos, fehlerhaft und doch erschreckend«)
Ich habe eine Ahnung, dass es nicht tatsächlich nur »fake News« sind, also blank falsche Nachrichten, welche die Weisen und Gerechten von Brüssel so fürchten. Ich fürchte, was die wirklich fürchten, ist ein aggressiver, breiter Whataboutism.
»Aber was ist mit…« ist eine der stärksten rhetorischen Waffen, denn sie braucht keine einzige Lüge, um dem Gegner argumentativ zu schwächen.
»Aber was ist mit…« bedient sich unserer tief eingegrabenen moralischen Mechanismen, doch die Evolution hat uns genau diese moralischen Instinkte eingepflanzt, weil mit ihnen das Zusammenleben besser funktioniert als ohne!
In einer klinisch reinen Version der Sprache der »relevanten Strukturen« klingt der Whataboutism so: »Du sagst, diese meine Handlung würde eine uns allen relevante Struktur schwächen, aber deine Handlung schwächt jene andere Struktur noch mehr! Ist jene andere Struktur nicht ebenfalls uns allen relevant, vielleicht sogar relevanter? Soll sie es etwa nicht sein? Aha…«
Russland und die EU sagen beide, dass sie die Lüge der anderen Seite fürchten, doch tatsächlich fürchten sie womöglich beide eine Wahrheit – aber die Art von Wahrheit, die sie fürchten, wird sehr verschieden sein.
Es könnte ja eine Asymmetrie der Zensurgründe zwischen Russland und EU bestehen, wonach Putin die Wahrheit über diesen Krieg fürchtet – aber die EU einige Wahrheiten fürchtet, die nicht (direkt) mit diesem Krieg zu tun haben, und sie dennoch schwächen könnten. Auf Deutsch: Was wissen die Russen? Was wissen wir kleinen Leute nicht? Worauf sollen wir (nicht) hingewiesen werden?
Zur Erinnerung, die zum Einstieg formulierte Zusammenfassung dieses Essays: »Die Sowjets haben von Jesus gelernt, und die Russen machen das so weiter, und das könnte vielleicht auch für einige unsere Mächtigen ein Problemchen darstellen, und deshalb muss man die Russen zum Schweigen bringen, aber eigentlich fürchten sich unsere Guten und Gerechten vor sich selbst.« – Ergänzen wir, was noch fehlt!
Man beachte, dass die Entscheidung, die russischen Medien abzuschalten, in keinem nationalen Parlament der EU debattiert und von keinem Gericht geprüft wurde – es wurde zugleich auch kein EU-Notstand erklärt.
Ich weiß, dass die schrecklichen Bilder des Angriffs auf die Ukraine es schwer machen könnten, rational zu bleiben, und doch steht die Frage im Raum: Warum wird in Brüssel spontan entschieden, was der Benutzer in Lissabon, Luxemburg oder Lanzarote sehen darf, wenn die Ukraine von Russland angegriffen wurde?
Ja, ich fürchte – und ich würde darin fürchterlich gern falsch liegen! – dass Brüssel es nicht nur »übt«, Informationskanäle nach politischem Bedarf auszuschalten, sondern dass man dazu noch schlicht fürchtet, dass Russland die EU-Bürger nach alter russischer Art mit Whataboutismen flutet.
Ein Beispiel: In der Pressekonferenz mit Olaf Scholz wies Putin jüngst auf den Einsatz der Nato in Jugoslawien hin (siehe Mitschrift der PK vom 15.2.2022 auf bundesregierung.de). Erstens war es eine kleine Demütigung, denn er korrigierte damit Scholz, welcher gesagt hatte, für seine Generation sei Krieg in Europa »undenkbar» geworden; zweitens war es ein Vorab-Whataboutism! (Wie stark man diesen konkreten Whataboutism findet ist natürlich eine andere Frage.)
Ganz ehrlich: Ich kann Brüssel mit ihrer Zensur-Entscheidung sogar verstehen, und womöglich würde ich an deren Stelle gar nicht viel anders handeln – das Stichwort hier ist »Sachzwänge«.
Meine Frage ist heute eine andere, von eher grundsätzlicher Natur: Was würde es über einen Menschen aussagen, wenn er Fragen von der Art »Aber was ist mit…« so sehr fürchtet, dass er sie per Anordnung verbieten müsste? Was sagt es über ein Land aus? (Und waren solche Entscheidungen vorhergesehen, als man einst die Montanunion begründete?)
Ich sehe die Bilder aus der Ukraine, ich sehe die Trümmer und die Zeichen vergangener Hoffnung. Gestern sah ich auf einem Bild, inmitten von Zerstörung, das offenbar neue Werbeschild eines kleinen Friseurladens. Ich schrieb mir im Kopf die Geschichte zum Foto: Da hatte jemand, vielleicht eine Mutter, das Geld zusammengespart, hatte sich vielleicht etwas geliehen, hatte mit jahrelanger Arbeit und viel Mühe einen kleinen Friseurladen aufgemacht, hatte gehofft sich eine Existenz aufzubauen, die Kinder zu ernähren – und jetzt, alles weg, alles nichtig. Ich sehe es, und fühle mich hilflos.
Bei all der Wut über das Krieggeschehen, bei allem Mitgefühl, bei aller Verärgerung über manches moralische Versagen auf unserer Seite, bei all der emotionalen Aufwühlung, wenn Krieg herrscht, so wäre es mir doch ein verlorener Tag, wenn ich nicht etwas fände, was ich lernen könnte.
Und so will ich heute diese Lektion aus meinen Überlegungen ziehen: Wenn du den Whataboutism fürchtest, wenn du partout nicht gefragt werden willst, was es mit deinen eigenen Taten auf sich hat, dann prüfe einmal ehrlich deine Taten.