Dushan-Wegner

13.01.2021

Andere Geschichte, andere Bücher

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten, Foto von Tanya Pro
Die Nachrichten des Tages sind wie die Gischt auf den Wellen. Sicher, es fällt auf und es schäumt so schön, doch um zu verstehen, warum das Wasser wirklich an den Strand rollt, musst du das Meer und seine Strömungen studieren.
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Es gibt Bücher, die formten mein Denken, und ich habe sie über die Jahre wieder und wieder gelesen, mich immer wieder neu an diesen prüfend (wer meine Essays verfolgt, der ahnt in etwas, welche und was für Bücher das sind). Es gibt Bücher, die habe ich über die Jahre einfach nur zum blanken Vergnügen immer wieder gelesen, etwa einiges Deutsche aus den Jahrzehnten um 1900, einiges Englische um 1920 oder natürlich den Hitchhikers Guide.

Und dann gibt es Bücher, die habe ich nur an- und/oder quergelesen, habe vielleicht die Idee des Buches erfahren und verstanden, und bereits die reine Idee veränderte schon mein Denken. (Eine Nachbarkategorie dieser Gruppe wären wohl jene Bücher, die ich zwar durchaus las, aber nicht referieren könnte, was drinstand – paradigmatisches Beispiel natürlich: »Eine kurze Geschichte der Zeit«.)

Zu den Büchern aber, deren Grundidee allein schon mein eigenes Denken formt, gehört »A People’s History of the United States« von Howard Zinn.

Zinn erzählt die Geschichte der USA nicht, wie es sonst üblich ist und ich es aus der Schulzeit kenne, aus der Perspektive der großen Jahreszahlen, der geschlagenen Schlachten, der Eroberungen und immerzu wechselnden Mächte, sondern aus der Perspektive der »einfachen Leute in Amerika«, welche nach Zinn der Spielball dieser Mächte waren, von diesen drangsaliert, ausgenutzt und herumgeschubst – ein Zyniker würde sagen: Professor Zinn sieht Amerika so, wie ein auf Lebenszeit gut versorgter, stramm linker Professor Amerika eben sieht.

Man begreift schnell, warum der Ansatz jenes Buches unter linken Akademikern überaus erfolgreich ist und in vielen Schulen zur Grundlektüre gehört (und es wird seinen Anteil an Verantwortung für kulturellen Selbsthass vieler sogenannter »Millennials« tragen). Nun bin ich ein oder zwei Jahrzehnte älter als jene unglückliche Generation, und doch hat bereits die »Idee hinter der Idee« jenes Buches mein Denken verändert (ob es dieses nun umlenkte oder ob es mein Denken um eine Dimension erweiterte); die »Meta-Idee« jenes Buches ist: Die bekannte Geschichtsschreibung mit Königen, Jahreszahlen und Schlachten (»drei drei drei, bei Issos Keilerei«) ist nur eine Perspektive auf die Geschichte der Menschheit, auf unsere Geschichte also – und sie ist fürwahr nicht die einzige Mögliche – vielleicht ist sie sogar insofern falsch, als durch ihre selbstverständliche Erststellung im Schulbetrieb impliziert wird, dass sie doch die wichtigste und entscheidende Perspektive auf die Geschichte sei.

Nicht die einzig möglichen

Ein guter Teil dessen, was wir heute »Nachrichten« nennen (beziehungsweise die »Gefahren des Tages«, siehe Essay vom 11.1.2021), wird sich wohl auch im Material zukünftigen Geschichtsunterrichts wiederfinden – und dass es so ist, erlaubt uns als »beobachtenden Bauernfiguren« mindestens zwei spannende Rückschlüsse!

Erstens erleben wir direkt, wie frech gelogen und verbogen es sein kann, was als »offizielle Wahrheit« heute behauptet und wohl auch auf Dauer notiert werden wird. Das lässt mich fragen: Wenn ich sehe, dass wesentliche Teile der heutigen »offiziellen Wahrheit« blanke Lügen sind – wie viel von dem, was ich in der Schule als Fakten der Geschichte und Gesellschaft lernte, war ebenso blank gelogen?

Zweitens aber: Die uns bekannten Perspektiven auf die »stattfindende Geschichte«, ob von staats- und konzernnahen Medien oder bei freien und alternativen Projekten, sind nicht die einzig möglichen. Es ist aus aller Lebenserfahrung wahrscheinlich, dass wir in der ganzen Hektik eine oder mehrere wichtige Ebenen übersehen – und es ist denkbar, dass wir Ebenen übersehen, auf denen Dinge stattfinden, deren Einfluss weit größer ist, als das, was auf der großen, hell beleuchteten Bühne gespielt wird. (Extra frei nach Brecht paraphrasiert: Der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht, doch warum er diese Zähne hat, das wissen wir erstmal nicht.)

In der Schule lernen wir die Geschichte, die man uns beibringen will.

Privat lernen wir die Geschichte, die zu lernen es uns aus diesem oder jenen Grund drängt, die beim Glas Rotwein im würdigen Sessel sitzend zu lernen uns Freude bereitet (und wenn die Freude daher stammt, dass das Gelernte unsere sich ohnehin abzeichnende Meinung bestätigt, dann wird es im Erkenntniswert extra problematisch).

Was jedoch, wenn wichtige Ebenen, die zu verstehen es bräuchte, um die Kausalitäten der Oberfläche zu kennen, solche sind, die uns zwar im Prinzip durchaus zugänglich wären, jedoch von solcher Natur sind, dass erstens jene, welche für die Lehrpläne zuständig sind, kein Interesse an ihrer allzu breiten Debatte haben, und zweitens diese Ebenen sowohl hauptberuflichen als auch privaten Historikern geradezu unangenehm sind, vielleicht sogar auf den ersten Blick langweilig wirken könnten oder zu »ätherisch« und »theoretisch«?

Schönheitschirurgie und andere Rätsel

Um eine ganz bestimmte Ebene näher zu beschreiben, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Exkurs: Im Internet findet man manchmal Familienfotos, auf denen die Eltern an bestimmten Merkmalen erkennbar anders aussehen als ihre Kinder, welche aber tatsächlich ohne Zweifel die biologischen Kinder dieser Eltern sind. Der kaum verheimlichte Grund ist schlicht, dass die Eltern gewisse Merkmale via Schönheitschirurgie verändern ließen, den (noch?) nicht operierten Kindern jedoch die »alten« Gene weitergaben, und so sehen die Kinder eben aus, wie die (oft wohlhabenden) Eltern vor den chirurgischen Eingriffen aussahen.

Es wäre vorstellbar, dass einige der Eltern, wenn sie diese Merkmale auf genetischer Ebene verändern könnten, es auch tun würden – noch können sie es nicht, also steht ihnen erst einmal »nur« das Skalpell am eigenen Gesicht zur Verfügung.

Es wird sich für unsere bald folgende Erkenntnis zur Menschengeschichte lohnen, hier die simple »Logik der Dinge« zu formulieren: Die Gene haben großen Einfluss auf die äußeren Merkmale. Die Veränderung der entsprechenden Gene wird die äußeren Merkmale verändern. Die Veränderung äußerer Merkmale mit dem chirurgischen Messer verändert die Gene nicht. Die Gene setzen sich durch, spätestens in der nächsten Generation, und diese könnte beschließen, sich nicht operieren zu lassen, sondern stolz zu dem zu stehen, wovon sie selbstbewusst sagt, dass es das sei, was sie wirklich ist.

(Nicht) nur einfache Lücken

Behalten wir für einen Augenblick all die Aufreger des Tages zwar im Augenwinkel, doch versuchen wir mit ganzem Ernst, an ihnen vorbei und so hinter sie zu blicken, ob da nicht ein gemeinsamer Mechanismus sei, der die meisten und größten dieser Aufreger auf jeweils ähnliche Weise bewirkt. Wenn der Hurrikan das Dach, die Gartenhütte und die Kuh des Nachbarn in die Luft hebt, dann ist es ja der sie hebende Wirbelsturm, den wir studieren, und nicht die Flugeigenschaften landwirtschaftlicher Nutztiere.

Es ist heute tabu, außerhalb ungelesener wissenschaftlicher Papiere vom Zusammenhang von Genetik und etwa Intelligenz oder gar Verhaltensmustern zu reden. Es ist heute ähnlich verpönt, über den Einfluss von Denkphilosophien auf wirtschaftlichen Erfolg und politische Entwicklungen zu reden. Es sind Erkenntnislücken entstanden (in nicht nur dieser Hinsicht entwickelt sich die öffentliche Debatte intellektuell rückwärts), die auf gewisse Weise »mehr lückenhaft« als nur einfache Lücken sind, denn es sind, frei nach Rumsfeld »unknown unknowns«: Wir wissen nicht einmal, dass da etwas ist, was wir nicht wissen.

Versuchen wir einmal diese These: Die großen Ereignisse in der Geschichte sowohl der Völker als auch der einzelnen Menschen und Familien ergeben sich aus dem Aufeinandertreffen von Denkschulen (oft: Religionen), Technologie und dem jeweiligen Kontext ihrer Zeit. 

Zum Ausprobieren dieser These bieten sich nicht nur dieser Tage die Vereinigten Staaten von Amerika an: Die USA spielen uns seit Jahren diverse Zwei-Fronten-Debatten vor, »liberale« Politmillionäre gegen »konservative« (wobei »liberal« da »links« bedeutet, und tatsächlich weder liberal noch am Wohl des »kleinen Mannes« ausgerichtet ist), sogenannte »Democrats« gegen die »Grand Old Party«, Stadt gegen Land, Hollywood-Elite gegen arbeitendes Volk, und so weiter. Blicken wir jedoch in die Geschichte der USA zurück und suchen nach der »Denkschulen-DNA«, stoßen wir schnell auf den christlichen Puritanismus.

Wie der Name

Der Begriff »Puritanismus« erklärt das beschriebene Phänomen bereits dem Wort nach recht genau: Die »Puritaner« (einst ein Schimpfwort für die Gruppe), wollten im 16. und 17. Jahrhundert das Christentum (beginnend mit sich selbst, wie es sich gehört) zuerst von allem »Papistischen« reinigen, und dann auch von aller Religions- und Lebenspraxis, die sich nicht nach ihrem Verständnis direkt aus der Bibel ableiten ließ. Puritaner als Kulturphänomen versuchen, wie der Name es richtig beschreibt, »pur« zu sein, rein also. Die Puritaner zerfielen selbst wiederum in viele Gruppen (wenn wir von einer Kirche in den USA hören, die uns Europäern »außer vom Namen her jetzt nichts sagt«, etwa Presbyterianer, Kongregationalisten et cetera, dann handelt es sich oft um eine Denomination in calvinistisch-puritanischer Tradition).

Der große Streit der USA ist nicht wirklich ein Streit zwischen zwei Gruppen – es ist der innere Streit einer Gruppe, wer von ihren Untergruppen der bessere, also »purere« Puritaner sei.

Die einen US-Puritaner sind gegen Abtreibung (ein »reiner«, kompromissloser Schutz des Lebens), einige sind gegen gefährliche Einflüsse aus fremden Kulturen, und selbst die angeblich anti-konservativen, »woken« »Liberals« sind im Kern die härtesten der Puritaner (nebenbei: und betrachten also auch ihren Erfolg als Ausdruck göttlichen Segens, müssen  sich also zum Erfolg zwingen), und sie wollen die Sprache und das Denken der Menschen weit strenger und bald noch drakonischer kontrollieren als es Zwingli in Zürich tat (nur dass ihre Scheiterhaufen und Bücherverbrennungen eben heute digital und damit auch einfacher zu bewerkstelligen sind).

Mein Begriff »Die Gentleman-Strategie« (Essay vom 18.6.2020) beschreibt ein politisches Vorgehen, dass den Gegner nicht aktiv angreift, sondern ihm eher »beim Fallen hilft«, ihn dazu motiviert, ohnehin begangene Fehler noch ausführlicher zu begehen, so wie der Gentleman die zu Erobernde nicht »umstößt wie ein Macho es tut«, sondern ihr elegant »beim Fallen hilft«. Wenn nun etwa China den USA beim Fallen hilft, so bleibt doch die Frage, was es denn war, worüber die USA ganz von allein gestolpert waren?

Wir hatten die These aufgestellt, dass sich die großen Ereignisse der Geschichte zuverlässig und erkenntnisreich aus den Denkschulen (oft: Religionen), der Technologie und dem jeweiligen Kontext ihrer Zeit heraus deuten lassen, und die Ereignisse um die USA heute belegen es trefflich.

Man nehme den Puritanismus, der nach »Reinheit« strebt (und in seinem Übereifer zu Ergebnissen gelangen kann, die von außen sehr »unrein« wirken), dazu die moderne ultravernetzte Kommunikationstechnologie, sowie eine menschliche Entwicklungsstufe, welche in mancher Hinsicht derart »effektive« Methoden hervorgebracht hat, dass sie bereits wieder das Gegenteil der angegebenen Absicht erreichen (Essen, das uns mangelernährt; Schule, die unsere Kinder dümmer macht; Unterhaltung, die uns zu Tode langweilt; Information, die uns desinformiert; Armutsbekämpfung, die Armut schafft; Toleranz, die Intoleranz fördert; Demokratie, die das Volk entmachtet, et cetera) – all die anderen Entwicklungen, ob von den vorgeblichen »Anti-Rassisten« geschürte Rassenunruhen, oder der »gute« Mob, der mit ideeller Rückendeckung der Konzerne die Geschäfte der Einzelhändler plündert, oder natürlich vorerst final die Machtübernahme durch Konzerne und konzernartige Staaten, all das ist »nur« Konsequenz, Folge und Epiphänomen der zugrundeliegenden »Denkschulen-DNA«, eines Puritanismus, der sich durch moderne Technologie und eigene Über-Effektivität gegen sich selbst wendet.

Nicht nur die Gischt

Wir haben es hier kurz für die USA skizziert; man könnte (und sollte!) es für jeden der heute weltweit relevanten »Player« durchdeklinieren. (Ich wage sogar die These: Ein Staat und ein Volk, bei dem sich nicht erkennen und angeben lässt, auf welche Denkschulen-DNA er baut und was ihn treibt, hat keine vielversprechende Zukunft – der Staat wird noch nicht einmal allzu lange ein wirklicher Staat sein, das Volk nicht allzu lange ein Volk.)

Wir lesen Geschichtsbücher, die offiziellen wie die inoffiziellen, und es ist nicht falsch, doch bedenken wir: Jeder kann nur das beschreiben, was er sieht und weiß, genauer: zu sehen und zu denken meint (und das selbst dann, wenn er ein Lügner wäre, das Gegenteil von X beschreibt noch immer X, nur eben im Negativ).

Schon des ersten Zieles meiner Essays wegen, nämlich uns davon abzuhalten, am Irrsinn selbst irre zu werden, halte ich es für dringend ratsam, nicht nur die Gischt auf den Wellen zu studieren, sondern auch zu fragen, was die Kräfte sind, welche das Meer wieder und wieder anrollen lassen.

Wir sind heute wie Seefahrer, die all ihr Wissen aufwenden, um im Sturm nicht unterzugehen, die sich von Böe zu Böe retten, die sich dabei immer wieder neu wundern, woher der Wind diese Kraft bezieht.

Wir beginnen zu ahnen, dass die alten Bücher, anhand derer wir lernten und bislang navigierten, uns nicht alles verrieten, was zu wissen nützlich sein könnte. Wir stellen fest, dass die Kapitäne anderer Flotten offensichtlich nach anderem Wissen fahren als wir.

Die Geschichtsbücher, die wir bis heute lasen, sie waren gewiss nicht allesamt falsch – vieles war sicherlich richtig. Doch sie waren ungenügend.

Es könnte eine gute Idee sein, dass wir neue Bücher lesen – ganz andere Bücher, als die, die wir bislang lasen.

Weiterschreiben, Wegner!

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