Freunde, ich sage euch: Die Aufklärung war ein Fehler. – Lasst mich erklären!
Als Aufklärung bezeichnen wir eine Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert n. Chr., welche die menschliche Vernunft als höchste Instanz und Autorität einsetzte – und zugleich Tradition und Offenbarung als Erkenntnisquellen zurückwies.
Mit der Aufklärung sind einige bis heute strahlende Namen verbunden, und mit diesen sehr berühmte Zitate.
Descartes: »Je pense, donc je suis.« – »Ich denke, also bin ich.« (Wenn »bin« hier für sein im Sinne von existieren steht, dann existiert ein gefährlicher großer Teil unserer Mitmenschen schlicht nicht.)
Von Voltaire stammt, neben vielem anderen, eine heute sehr aktuelle Warnung: »Es ist gefährlich, recht zu haben, wenn die Regierung Unrecht hat.«
Von Rousseau, ebenfalls brennend aktuell: »Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt. Damit lässt sich selbst der Wille gefangennehmen.«
Oder Kant, der direkt gefragt wurde, was der Wahlspruch der Aufklärung sei, und antwortete: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«
Kant meinte mit dem »Gebrauch des Verstandes« kein spontanes Bauchgefühl, sondern diszipliniertes, moralisches Denken. Doch was passiert, wenn der Appell an die Vernunft auf eine Bevölkerung trifft, die – mangels Bildung, Tugend und geistiger Schulung – längst nicht mehr zu vernünftigem Denken fähig ist? Dann wird aus dem Leitspruch der Aufklärung ein Freibrief für Narzissmus, Ideologie und Empörungslogik.
Exkurs bezüglich Steinebehauen
Ein guter Teil der späteren Aufklärer stand der Freimaurerei nahe (die erste Großloge in London wurde 1717 gegründet). Der heute 86-jährige italienische Großmeister Giuliano Di Bernardo aber wird zitiert: »Ich glaube, dass die Zukunft der Menschheit, die die Verwirklichung der globalen Gesellschaft mit sich bringt, von einer Gemeinschaft weiser Männer regiert werden muss, die den Einen, den aufgeklärten Tyrannen, zum Ausdruck bringen.« (alessandriaoggi.info, 05.12.2018; archiviert)
Ja, es ist tatsächlich logisch, dass wer die Vernunft als höchsten Wert setzt, die Herrschaft der Vernünftigsten anstrebt. Doch wie soll man feststellen, wer »am vernünftigsten« ist? Es ist wohl einfach: Derjenige, dem es gelang, an die Macht zu kommen, ist gewiss der vernünftigste Mensch von allen – wer wollte ihn anders belehren? Der Gewiefteste ist der Vernünftigste, die Aufklärung ist zu Ende gespielt.
Wie Rat von Schönlingen
Doch dass die Aufklärung, politisch appliziert, zur antidemokratischen, menschenfeindlichen Bewegung mutieren kann, ist nicht der (erste) Grund, aus dem ich sie für einen Fehler erkläre.
Die Demokratie ist ohnehin ein sehr fragiles Kunstprodukt. Demokratie setzt unter anderem echte Bildung, robusten Patriotismus und effektive Behörden voraus. Wenn, wie in Deutschland, die Mehrheit der Wähler durch Propaganda und ideologiebefallene Schulen dumm und servil gehalten wird, wenn diese Menschen derart eingeschüchtert im Wahllokal gegen das eigene Wohl und gegen das Wohl ihrer Kinder stimmen, dann sind die Rituale der Demokratie ohnehin wenig mehr als ein Mäntelchen um die alte Herrschaft der Gewieftesten.
Ja, ich selbst habe oft genug das Loblied der Aufklärung gesungen. Habe den Mut gepriesen, Mut zum Gebrauch des Verstandes, Mut zur Wahrheit, Mut zum Mut. Doch ich bin heute vorsichtiger. Ich habe Zweifel.
Das Problem an der Aufklärung ist, dass die Menschen dumm und böse sind. Nein, ich sage und meine nicht, dass einige Menschen dumm und böse sind. Ich sage, dass jeder Mensch – du, ich, Immanuel Kant – in seinem natürlichen Zustand nach dem Sündenfall dumm und böse ist. (Katholiken werden hier natürlich Maria ausschließen wollen. Und Jesus sowieso.)
Durch Erziehung und Bildung erst wird der Mensch zu dem, was wir gut und klug nennen. Die großen Namen der Aufklärung waren allesamt hochgebildete Männer. Deren Verstand war in Jahrzehnten der Lektüre gebildet, war im Studium der Antike und der Mathematik geweitet und in täglicher Debatte immer weiter geschärft.
Der Rat von Schönlingen
Wenn ein Immanuel Kant sagt, man solle doch einfach den Mut haben, sich seines Verstandes zu bedienen, dann erinnert mich das an einen Henry Cavill, oder einen jungen Brad Pitt, also blendend aussehende Hollywood-Schauspieler, die jungen Männern raten, man solle Frauen doch einfach nur kurz anlächeln, und mehr brauche es nicht für eine erfolgreiche Beziehungsanbahnung, denn für sie würde das ja auch funktionieren.
Man könnte nun einwenden, Kant habe geraten, sich des Verstandes zu bedienen; und nicht wörtlich diesem Verstand – und allein diesem – zu folgen. Doch seien wir realistisch: Seinen Verstand zu gebrauchen wird in der Praxis bedeuten, sich auf diesen auch zu verlassen. Und sich auf seinen Verstand zu verlassen wiederum bedeutet in der Praxis, jede spontane Eingebung für den absoluten und einzig relevanten Gedankenschluss zu halten.
Das öffentliche Denken wird dümmer. Das private Denken wird dümmer. Und all das ist die Folge dessen, dass den Menschen gesagt wurde, sich zuerst und zuletzt auf das eigene Denken zu verlassen.
Nun fragt ihr: Wenn wir nicht dem eigenen Verstand folgen sollen, wem dann?
Ich frage zurück: »Ab wann ging es bergab?«
Und ich stelle fest, dass, wenn es in einer Hinsicht abwärts geht, es in dieser Hinsicht eine Zeit des relativen Optimums gegeben haben muss.
Bernhard von Chartres, überliefert im 12. Jahrhundert durch seinen Schüler Johannes von Salisbury, pflegte zu sagen, wir seien wie »Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, sodass wir mehr und weiter sehen können als sie – nicht wegen der Schärfe unseres eigenen Blicks oder der Größe unseres Körpers, sondern weil wir durch ihre riesenhafte Größe emporgehoben werden«.
»Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen«, oder, in der Sprache der Riesen: »Nanos gigantum humeris insidentes«.
Stolz wie Säuglinge
Welcher der Schwätzer in Politik und Propaganda »sitzt« denn spürbar »auf den Schultern von Riesen«?
Wer von uns, die wir jeder jeden Tag laut und selbstbewusst eine Meinung haben, so wie man eine Verdauung hat, möglichst täglich und bald nach dem Aufstehen, und die wir diese Meinung dann noch warm der Welt mitteilen, wer von uns hat denn wirklich diese seine Meinung am Maßstab der Tradition zumindest geprüft, hat seine Meinung wirklich im Fundament der Erfahrung und der anerkannten Logik verankert?
Nein, all dessen bedürfen wir doch nicht, denn wir sind ja aufgeklärt, aufgeklärt und selbstbewusst und stolz auf unser Köpfchen, wie der Säugling auf dem Töpfchen.
Ja, die Aufklärung war ein Fehler, insofern sie uns den Mut zusprach, Dinge zu tun, zu denen uns die notwendige Vorbereitung und Befähigung fehlen.
Nein, ein besseres Denken beginnt nicht damit, seinen Verstand zu gebrauchen, sondern damit, die Gedankengänge all der gedanklichen Riesen vor uns zu studieren. Diese Gedanken zu verstehen und anzuwenden. Und dann, nach einem Leben des Studiums und der Tat, vielleicht und nach reichlicher Prüfung, eine weiterführende Fußnote vorzuschlagen.
Du denkst, es macht dich klein, als Zwerg auf den Schultern von Giganten zu sitzen? Nein, du bist nicht größer, wenn du auf dem Boden herumspazierst mit aufgeblasener Zwergenbrust.
Ach, sei ehrlich: Du bist bloß zu faul und zu arrogant, da überhaupt erst hinaufzuklettern.
»Habe Mut«, sagt Kant. Klüger wäre, zu sagen: »Habe Demut!«
Ja, es braucht Erneuerung heute, einen Neuaufbau, denn das öffentliche Denken ist ein modisch verkleidetes Trümmerfeld.
Wir werden den Schutt abräumen müssen. Nachsehen, was darunter ist, weil wir ahnen, dass es unter diesem toten Chaos noch Leben gibt.
Nach den alten Wurzeln suchen und aus diesen dann die Erneuerung wagen. Oder in jener Sprache gesagt, in der gesprochen wurde, als vor dem Sprechen auch nachgedacht wurde: »In radice renovari«.