Dushan-Wegner

30.06.2021

Baerbocks Realität

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Foto von Mike Castro Demaria
Baerbocks Fehler: Wenn in ihrem Buch KEINE Fakten mehr stünden, auch keine abgeschriebenen, würde es ihre Wähler null stören. Und wenn im Lebenslauf statt Studium stünde: »2000 - 2004: Auf Menschen zugegangen«, Journalisten würden sie dafür feiern.
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Frau Baerbock als öffentliche Persona ist ein Schimmer zukünftiger Dinge. Der Fußball wie ihn »Die Mannschaft« präsentiert, er ist dagegen ein Relikt aus einer alten Welt. Beides wirkt heute wie ein Elend, das ist wahr. Jedoch, das Elend des Fußballs und das Elend der Baerbock-Selbstdarstellung sind ihrer Natur nach verschieden. Wer die Differenz erkennt, der wundert sich weniger (und er wird in eigener Sache besser planen).

Friedhof alter Phrasen

Was ist an Frau Baerbock wahr? Was stimmt an ihr? Und was alles stimmt an ihr nicht? Lassen Sie es mich so vergleichen: Herzzerreißende Szenen spielen sich vor unseren Augen ab, wie wenn ein Waschbär ein Stück Zuckerwatte ins Wasser hält (siehe YouTube) – und plötzlich ist das Zuckerstück weg! So ähnlich geht es manchem Journalisten (also »Journalist« im alten Sinn des Wortes, nicht »Journalist« wie Staatsfunker etc.), der die Äußerungen und Fakten-in-eigener-Sache der Frau Baerbock an der Realität überprüft. Ihr extra hübscher Lebenslauf ist inzwischen in wichtigen Aspekten zusammengeschmolzen. Es wirkte wie eine »Flucht nach vorn«, als sie jüngst ihr neues Buch vorstellte.

Frau Baerbocks Buch wirkt schon im Titel wie Bullshit-Bingo politischer Phrasen: »Jetzt – Wie wir unser Land erneuern«. Willige Journalisten zitieren sie mit müden Null-Sätzen »Das Anpackende steckt in mir drin« – taz.de, 17.6.2021 jubelt weiter: »Anpacken, mal einen Nagel reinhauen, ihn gegebenenfalls korrigieren, wenn er schief ist. Es ist ein Bild, das sich auf ihre politischen Ambitionen übertragen lässt. Annalena Baerbock will ein ganzes Land renovieren.« – Das Buch sei »getragen von einem feministischen Blick«, so lobhudelt Jasmin Kalarickal. Okay, na dann.

Unter normalen Umständen hätte außer ein paar Claqueuren in den Redaktionen niemand so ein Buch gelesen – wer durchwatet freiwillig diese Phrasen-Friedhöfe von Politikern, diese Direkt-ins-Altpapier-Schinken? – Jedoch, dies sind nicht normale Umstände.

Ein »Plagiatsjäger« hat das Buch (vermutlich mit Hilfe von Software, die man bei den Grünen nicht einmal kennt) mit, ja, »dem Internet« abgeglichen. Das Ergebnis ist, dass mehrere Passagen aus dem Internet kopiert und dünn umformuliert zu sein scheinen (plagiatsgutachten.com, 29.6.2021).

Ein Beispiel: Aus der Formulierung »Das Konzept des Klimawandels als ›Bedrohungsmultiplikator‹, der Rohstoff- und Gesellschaftskonflikte in Entwicklungsländern verschärfen kann, ist seither zu einem Eckpfeiler in der Strategie des Pentagons geworden« (von Michael T. Klare) wird in Baerbocks Buch: »Die Betrachtung des Klimawandels als ›Bedrohungsmultiplikator‹, der Rohstoff- und Gesellschaftskonflikte verschärfen kann, ist seither zu einem Eckpfeiler in der Strategie des Pentagon geworden« (via bild.de, 29.6.2021). Es bilde sich jeder seine eigene Meinung.

Die Grünen reden von Rufmord und haben zur Verteidigung den prominenten Prominenten-Anwalt Christian Schertz aktiviert (focus.de, 29.6.2021). Beim Staatsfunk scheinen sich selbst nicht wenige »Journalisten« extra »aktiviert« zu fühlen. »Rechtsexperte« Felix W. Zimmermann twittert sich in Rage (@fewizi, 29.6.2021: »#Plagiatsvorwürfe gegen Annalena #Baerbock. Was ist dran? Spoiler: NICHTS, da bloße Übernahme von Sachinformation, wörtlicher Rede und zudem kein Zitiergebot in Populärliteratur: […]«).

Es klingt dann insgesamt wie ein Versuch des »Reframing«. Man scheint dem Vorwurf des Plagiats damit begegnen zu wollen, zu versichern, es sei kein Plagiat, da es nicht illegal sei.

Die Strategie der Baerbock-Armee in der Grünen-Parteizentrale sowie beim Staatsfunk erinnert an die Cartoon-Figur Bart Simpson: »Ich habe nichts getan und du kannst nichts beweisen.«

(Randnotiz: Wer ist der mutige Staatsfunker, der in vielen Tweets die Frau Baerbock verteidigt? Er ist »Volljurist«, und er arbeitete laut seiner Biographie bei zdf.de von 2012 bis 2015 als Rechtsanwalt bei »Schertz Bergmann Rechtsanwälte« in Berlin. – Zufälle gibt’s!)

Ach, es bleibt tragisch: Mit einem Dr. Habeck hätten die Grünen eine echte Chance aufs Kanzleramt gehabt. Da die Grünen ihre Spitzenkandidaten aber zuerst nach Geschlecht aussuchen, nicht nach Befähigung, ist es eben Frau Baerbock geworden, und die verwandelt die Vorlage so sicher wie Thomas Müller die Torchancen – womit wir beim Fußball wären.

Deutschland ist am 29.6.2021 aus der Fußball-EM ausgeschieden. »Die Mannschaft« war zuvor vor allem mit ihrer lächerlich geheuchelten »Haltung« aufgefallen. Man trug regenbogenfarbene Armbinden (die Begeisterung mancher Leute für politische Armbinden ist – bemerkenswert). Man kniete vor dem Spiel zu Ehren des verurteilten Gewalttäters George Floyd – und verhöhnte damit offen die Toten von Würzburg, indem man sie schlicht ignorierte. Und dann vergab man Torchancen und flog aus dem Turnier. Haltung hilft wenig, wenn diese »Haltung« das Rutschen auf Knien vor Gewalttätern ist.

(Nicht nur) der Zustand der deutschen Fußballmannschaft erinnert an jenen alten russischen Witz (ich zitiere meinen Essay vom 30.6.2018): »In Moskau wird ein Tanzclub eröffnet, um Amerikaner anzulocken und auszuhorchen. Doch, der Betrieb will einfach nicht laufen. Der Parteichef ruft die Verantwortlichen zu sich. Er fragt, woran es liegt. Vielleicht an der Lokalität? Nein, beste Lage. An den Getränken? Nein, bester Krimsekt. An den Tänzerinnen? Kann nicht sein! Sind handverlesen und jede seit 50 Jahren in der Partei!«

Gut bezahltes Scheitern

Baerbock und der deutsche Fußball ähneln sich unter anderem darin, dass sie beide aktuell in den Nachrichten vorkommen, dass sie beide für einen Teil der Deutschen zu sprechen vorgeben (oder sogar für alle…), dass sie sich beide hochmoralisch geben, doch aus der Nähe reichlich unmoralisch müffeln, und sie ähneln sich vor allem darin, dass sie heute mit sehr gut bezahltem Scheitern auffallen.

Beide, »Die Grüne« und »Die Mannschaft« stehen aktuell für bestbezahltes Versagen, und doch repräsentiert die eine die Zukunft, während die andere der Vergangenheit verhaftet ist.

Baerbock und ihr PR-Apparat bei Staatsfunk und politiknahen Medien wirken geradezu verärgert darüber, dass jemand sich damit abgibt, all die »Unklarheiten« aufzuzeigen.

Baerplag erfindet sich eine eigene, parallele Realität – das ist die Zukunft. Fußball findet (noch) in der realen Welt statt, wo ein Ball entweder ins Tor geht oder nicht. In einem fairen, echten Fußballspiel zählt nicht die »Haltung« oder andere Formen der Selbstlügen. Das Runde muss ins Eckige, und alles andere ist irrelevant.

»Die Mannschaft« versuchte es ja mit »Haltung« und »Zeichen setzen« und all dem anderen politisch korrekten Gehirndreck. Am Ende gewinnt immer die Realität – nun, liebe »Mannschaft«: Willkommen in der Realität!

Es ist das Schicksal und Wesen des Fußballs, dass man sich mit der Realität von Toren abgeben muss. Bei Baerbock ist dasselbe schlicht ein taktischer (und politisch tödlicher) Fehler, sich in Situationen zu begeben, in denen sie sich vor der »altmodischen« Realität rechtfertigen muss.

Der Fehler in Baerbocks Lebenslauf war nicht dessen inhaltliche Sparsamkeit (sprich: dass er auf grünentypische Lücken in formaler und geistiger Bildung schließen ließ). Der Fehler war, dass Lebenslauf wie Buch überhaupt versuchten, sich vor der »realen Realität« zu rechtfertigen, und dann an »Anfängerfehlern« scheiterten.

Nicht konsequent (genug)

Lassen Sie uns ein naheliegendes und zugleich schockierendes Denkexperiment wagen: Stellen wir uns vor, Baerbock hätte in ihrem Lebenslauf keine einzige konkrete Angabe gemacht, sondern ätherische Andeutungen gemacht wie: »Über Frieden nachgedacht«, »Das Werden der Kinder gestaltet«, oder »2017-2019: Besonderer Schwerpunkt, auf Menschen zuzugehen«. Ja, stellen wir uns das ernsthaft vor! Man hätte sie ausgelacht, doch genug Staatsfunker und andere Claqueure hätten es als fortschrittlich verteidigt – und sie wäre damit durchgekommen.

Ähnlich beim Buch: Eine der ernsthaften Verteidigungslinien ihrer Anhänger besteht darin, dass doch sowieso »keiner diese Politikbücher liest« (was ja sonst stimmt). Hätte Baerbock (oder ein »Geisterschreiber«…) sich gar nicht erst die Mühe gemacht, dem Bezug eine Verankerung in der »realen Realität« zu geben, hätte die Partei nicht diesen Ärger gehabt. Baerbocks großer Fehler beim Buch war, nicht konsequent genug eine eigene Realität zu erfinden.

Ahnungslos zum Erfolg

Zur Einleitung des Essays »Merkel sucht den Nachfolgeroboter« (4.6.2021) schrieb ich: »Merkel will eigentlich einen sprechenden Roboter zum Nachfolger machen. Merkels viele Fotos mit Robotern zeigen Bewerbungs-Gespräche! Baerbock ist die Option, die dem aktuell am nächsten kommt; deren tägliche Aussetzer sind nur frühe Software-Bugs.«

Ja, Baerbock wirkt tatsächlich wie eine frühe, quasi-experimentelle Version eines künftigen Politiker:innen-Typs. Diese frühe Version von Baerbock scheitert allerdings nicht daran, dass sie nicht nah genug an der Realität wäre – Baerbock scheitert daran, dass sie sich überhaupt mit der Realität abgibt.

Der deutsche Fußball würde sich gern von der Realität lösen und nur seine »Haltung« verscherbeln, doch er kann es nicht, solange es im Fußball zentral um das lästige 90-Minuten-Spiel und die Tore dabei geht. Baerbock sollte sich ganz von der Realität lösen (und gar nicht erst mit Fakten und Leistungen zu punkten versuchen), doch sie und ihre Berater trauen sich nicht (oder begreifen es schlicht nicht, weil sie ahnungslos in den Erfolg stolperten, ohne selbst zu wissen, was sie aus Versehen richtig taten). (Für Baerbock wird ja alles schlimmer, je hektischer sie die Dinge zu reparieren versucht. In ihrer Panik versuchen die Grünen, »traditionell« zu agieren, bis hin zum Engagement eines vermutlich teuren Star-Juristen und dem »Reframing« des Skandals, weg vom Plagiat hin zu dessen Legalität.)

Panik-Sprach-Ästhetik

Die Schere zwischen tatsächlicher Realität und der von der Propaganda vorgegebenen »gefühlten« Realität wird sich immer weiter öffnen. Computerspiele bieten uns heute wunderschöne »virtuelle Welten« an, doch ist nicht die Fake-Realität, die Politik und Propaganda vor und für uns aufbauen, auch eine Form »künstlicher Realität«?

Seit Menschen strukturiert übers Unmittelbare hinaus nachdenken (wir denken hier an Platons Höhlengleichnis oder Descartes‘ großen Zweifel), fragen sie sich, was real ist. Woher weiß ich, was wirklich der Fall ist? Woher weiß ich, dass ich eine Hand habe, die ich in diesem Augenblick vor mich halte? (Und wer ist dieses »Ich«, das solches fragt?)

Die leichte Verfügbarkeit von Informationen im Internetzeitalter könnte theoretisch helfen, das Realitäts-Konzept vieler Menschen realistischer werden zu lassen. Praktisch wird oft das Gegenteil erreicht: Die Überlastung der kognitiven Kapazitäten (zu denen ich hier das moralische Empfinden zähle) führt zu einer Situation, die mit dem Absturz eines überlasteten Computers vergleichbar ist.

Die Grünen sind (ähnlich wie Journalisten, Propagandisten und die Marketer der Konzerne), im »Realitäts-Business«. Man verkauft eine parallele Realität, in der jeden Tag die Sonne scheint, der Wind rund um die Uhr weht, alle Fremden liebe Leute sind und alle Menschen vom Staat leben können.

Nach dem scheiternden »Prototyp Baerbock« werden weitere Irreal-Politiker auf den Plan treten, und diese werden weniger Fehler machen. Bis dahin werden wir uns mit Politikern wie Herrn Laschet abfinden, die sich gar nicht erst die Mühe machen, eine neue Realität zu zeichnen, deren Machterlangung vielmehr den Weg der glattesten Zapfenförmigkeit entlang flutschte.

Wirklich, wirklich real

In der Zukunft werden sie uns eine künstliche Realität vorspielen, und wer die neue Realität nicht als real empfindet, wird für verrückt erklärt werden. Die Zukunft der Politik wie auch der Gesellschaft ist nicht rechts oder links, nicht einmal wahr oder falsch.

In der Zukunft ist nicht das »real« und »wahr«, was der Fall ist, sondern was in Kommissionen und Ausschüssen als wahr festgelegt wurde. Die Realität der Zukunft ist nicht wirklich real, in der Zukunft wird uns die Realität nur vorgespielt werden – und manche sagen, dass diese Zukunft bereits begonnen hat.

Ich weiß heute wahrlich nicht mit letzter Sicherheit, was wirklich der Fall ist. Ich weiß aber, was mir wirklich wichtig ist (und ich hoffe, dass dies zumindest real ist).

Diese schmale Brücke führt über einen tiefen Graben. Ich weiß nicht mit Sicherheit, was unten im Abgrund auf mich wartet. Doch gerade weil ich nicht weiß, was unter mir ist, halte ich mich am Geländer der Brücke fest.

Weiterschreiben, Wegner!

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